06.09.2017

Tout Nouveau Tout Beau (19)




LARD - THE LAST TEMPTATION OF REID

Die Supergroup der frühen Neunziger mit ihrem zweiten und vielleicht besten Album: Jello Biafra (ex-Dead Kennedys), Al Jourgensen und Paul Barker (Ministry) zeigten schon 1990, mit welchen Mitteln die brachiale musikalische Gewalt von den späteren Ministry ab "Psalm 69" mit Biafras Punkvibes und vor allem: mit dessen Humor aufgelockert werden kann. In den besten Momenten ist Monotonie der König von allem: ein stumpf durchgehacktes Schlagzeug (manchmal ist's schlicht ein Drumcomputer) nebst ebenso stumpfen, aber unerhört treibenden Gitarrenriffs heben Songs wie "Forkboy" auf Klassikerniveau. Überraschend sind hingegen stilistische Drehungen und Wendungen, die man angesichts des übrigen Infernos nicht unbedingt erwartet hätte - beispielsweise im psychedelischen und Melodien from outer space auffahrenden Refrain von "Pineapple Face". Lard wurden auf ihren beiden folgenden Veröffentlichungen für meinen Geschmack zu konventionell und biederten sich zu sehr dem Metal/Crossoverpublikum der Post-"Filth Pig"-Phase Ministrys an, auf "The Last Temptation Of Reid" regiert aber noch der Wahnsinn aus einer musikalisch so spannenden Zeit der Alternative/Crossover-Frühphase, in der alles zu gehen schien. Was für ein Theater!




Erschienen auf Alternative Tentacles, 1990.






LIVING COLOUR - STAIN

Das Debut dieser vierköpfigen Band aus New York gilt gemeinhin als Klassiker und gleichzeitig Höhepunkt der Bandgeschichte: "Vivid" war durchaus ein Überraschungserfolg und ist bis heute die mit Abstand erfolgreichste Veröffentlichung Living Colours - nicht zuletzt gefördert durch die Beteiligung von Mick Jagger und den Gewinn eines Grammys für die Single "Cult Of Personality". Dass es schwer ist, nach einem derartigen und gleich mit dem Debutalbum erreichten Erfolg trotzdem im Spiel zu bleiben, mussten Living Colour in den nächsten fünf Jahren lernen. "Stain" erschien 1993, drei Jahre nach dem ebenfalls mit einem Grammy ausgezeichneten Zweitwerk "Time's Up", und zeigt die Band von ihrer bis dato härtesten und gleichzeitig besten Seite. Die dezent an damals aktuelle Alternative-Sounds angelehnten Songs und vor allem die räumliche und klare Produktion von Ed Stasium hätten eigentlich klar machen sollen, dass mit der aus exzellenten Musikern bestehenden Truppe weiterhin zu rechnen sein wird - aber es kam anders: der Erfolg blieb aus, man konnte sich nicht mehr auf eine einheitliche Linie für das Songwriting einigen und löste sich auf. "Stain" muss man allerdings gehört haben: es ist alternativ, ohne Alternative zu sein, es versammelt Hits, ohne Mainstream zu sein, es ist komplex, ohne zu überfordern. "Ausländer", der Höhepunkt des Albums, beschäftigt sich mit dem täglichen Rassismus, der sich die schwarze Band im weißen Rock'n'Roll-Zirkus regelmäßig ausgesetzt sah. Muss man laut hören. LAUT!



Erschienen auf Epic, 1993.





PJ HARVEY - LET ENGLAND SHAKE

Mein Verhältnis zu PJ Harvey ist ein sehr ambivalentes. Einerseits ist ihr Album "Dry" aus dem Jahr 1992 bis heute eines der besten Debuts aller Zeiten, andererseits habe ich seit Jahren einen gewissen Sicherheitsabstand zu ihr eingenommen: völlig inakzeptable Aussagen zur Fuchsjagd, Kollaborationen mit Musikern, zu denen ich ebenfalls ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis habe (z.B. Josh Homme) und ein Hipsterpublikum, das eher wegen des großen und guten Namens als der eigentlichen Musik wuschig zu werden scheint - all das klingt für mich in dieser Kombination wie mit einhundert Fingernägeln über eine Schiefertafel gekratzt. Das mit Auszeichnungen der Musikindustrie geradezu überhäufte "Let England Shake" aus dem Jahr 2011 wurde kürzlich in der Vinylfassung zum Sonderpreis von unter 15 Euro angeboten und scheißrein: warum eigentlich nicht? Die offensichtlichste Antwort: weil die Pressung nicht die beste zu sein scheint, was das durchgängige Britzeln und Krackseln nahelegt. Was der Welt wirklich fehlt: eine rauscharme und also gute Pressung von GZ Media. Darüber hinaus ist ihre Musik auch 19 Jahre nach "Dry" immer noch sehr speziell, schräg und ideenreich. Ich kann ihr das nicht nehmen. Dass im Gegensatz zu den Aufnahmen des Debuts das Feuer in ihrem Bauch erwartbar nicht mehr so irre hell flackert, ist gleichfalls geschenkt - aber mir fehlt in weiten Teilen völlig der Zugang zu diesen Songs, die zwischen dem tonnenschwerem Anspruch eines Konzeptalbums und den fast vollständig ohne Hooklines auskommenden Leichtgewicht-Arrangements drohen, zerdrückt zu werden. Ein merkwürdig ungreifbares Album.




Erschienen auf Universal Music, 2011.

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