21.08.2016

Colour & Hope




PETE JOSEF - COLOUR


"Colour" ist wieder mal ein formidables Beispiel für die heutige Berichterstattung in Musikmedien: Irgendwer hat sich den berühmten Waschzettel für das Label ausgedacht, die bisherigen Stationen Josefs, seine Kollaborationen und die Verbindungen zum Berliner Label Sonarkollektiv aufgeschrieben und dazu jeden Genrefetzen, der mit seiner Musik auch nur im Entferntesten verbunden sein könnte aufs Blatt erbrochen - und jeder, wirklich jeder hat's übernommen. Egal ob auf Englisch oder auf Deutsch, es steht überall der gleiche Kram. Manchmal direkt und eins zu eins kopiert, ein anderes Mal mit einem bisschen Füllmaterial aufgehübscht. Da fragt man sich schon, wer sich die Platte eigentlich noch angehört hat. Andererseits: so kann man auch wirklich nichts mehr falsch machen. Auf keiner Seite. 

Multiinstrumentalist aus Bristol, best known for dings und bums...hier...na?! ex-Underworld, genau. White Lamp, dazu irgendwas mit Soul, in sepia getaucht, Berlin, na logo -- ditte is meen Ballin, wa? Butterweiche Stimme, Multiinstrumentalist, wohnt jetzt auf dem Land. Multiinstrumentalist ist er übrigens auch, hatte ich noch nicht erwähnt. EY! MULTIINSTRUMENTALIST! AUF DEM LAND!


Cut. Schnitt. Pause. 


Ich habe mich etwas vor dieser Platte gedrückt und das lag nicht daran, dass der in Bristol aufgewachsene Multiinstumentalist...*dampf*...das lag jedenfalls nicht daran, dass die Musikpresse sich mal wieder selbst am eigenen Schwachsinn berauschte. Ich will ehrlich sein: mir war der Name des Multiinstrumentalisten aus Bristol gar nicht geläufig, aber wie schon ungefähr öchtzig Mal auf diesen Seiten erwähnt - oh the irony! - partiet (sic!) Herr Dreikommaviernull like it's 1993 und lässt sich also von den entzückenden Coverartworks das Portemonnaie und die Hose öffnen; außerdem erscheint "Colour" auf dem Berliner Label Sonarkollektiv - und das kann dann in der Kombination wirklich nicht mehr schlecht sein. Was ich dann zunächst hörte, kitzelte Klischeebilder im Familienpack aus mir heraus: bestimmt ein total smoother Multiinstrumentalist aus Bristol, sexy, urban, trägt bestimmt geraffte Schals und Strickjacken (auch im Sommer) und Zwanzigjährige posten sich auf Instagram um die Reste des Verstands, die den Ausgang trotz Biermix und Döner für zwofuffzich auf irgendeinem superhipmegaabgefahren Festival - im Grünen, am See, an der Müllverbrennungsanlage, is' eh schon alles egal - noch nicht gefunden hatten, alles schön im Sepiafilter, mit glitzernder Sonne und geöffneter Raviolidose im Hintergrund. 

Nun arbeitet Herr Siebenkommafünfacht aber auch gerne an sich und vor allem am ständigen Abbau der eigenen Unzulänglichkeiten, wo nicht Vorurteile, zumal den zu schnell gefällten, und legte "Colour" immer und immer wieder auf. Das soll nicht heißen, dass ich mich mit einer glühenden Peitsche aus sich frisch ergossener Lava zum Plattenspieler prügeln musste - ich mochte die Musik des 23-jährigen Mulstiinstramentulizsten aus Bristol: ein extrasmoother Mix aus mundgeblasenem Indiesouljazz, der selbst in den etwas rassigeren und mit Latintouch ausgekleideten Momenten im besten Sinne behutsam bleibt. Melodisch überaus virtuos, atmosphärisch hingegen weichgezeichnet, ohne auch nur ein Eckchen und Käntchen herausgucken zu lassen. Für den Style, den roten Faden, die Idee. Das ist stark. Und je länger und öfter und aufmerksamer ich "Colour" verfolgte, hörte und in mein Leben hinein ließ, desto schneller verschwanden die Klischees in meinem Kopf. Ich war geheilt. Ich kann wieder sehen, ich kann wieder gehen. 

Während das Album bereits im Oktober 2015 veröffentlicht wurde, erschien die limitierte Schallplattenpressung im schicken Gatefold und wie bereits angesprochen mit tollem Coverartwork im März diesen Jahres, und die Chancen stehen gut, dass ich über "Colour" im Jahresrückblick 2016 erneut einige warme Worte verlieren werde. Mache mir die Welt, widdewiddewie sie mir gefällt, est. 1977.


Sollte man kennen.









Erschienen auf Sonarkollektiv, 2015/2016.



17.08.2016

The Blue Moods Of Josh




SPAIN - CAROLINA


Es ist derzeit praktisch unmöglich, das sechste Album von Spain zu hören, wenn die Herzallerliebste im selben Raum ist. "Carolina" kratzt mit seiner teils sehr plakativen Auskostung von Depression, Untergang und Leid selbst mir bisweilen gehörig an den Nerven, Frau Dreikommaviernull hingegen hat sich mittlerweile für den ein oder anderen Song auf "Carolina", auf dem sich Sänger und Bassist Josh Haden ganz besonders tief in der Verzweiflungssuppe suhlt, Alternativtexte verfasst und trötet mir ebenjene ins Ohr, wenn ich die Platte mal wieder aufgelegt habe:

"Ich war zuhause und es ging mir schleeeeeecht,
dann bin ich raus gegangen und mir ging's immer noch schleeeeeecht."

Ich kann nicht sagen, dass ich es ihr verdenken kann. "Carolina" beispielsweise an einem sonnigen Sommermorgen auf dem Weg zur Arbeit im Auto zu hören, ist eine Herausforderung, die ich schon mehr als nur einmal verloren habe. Andererseits hat Josh vor zwei Jahren seinen Vater Charlie verloren und sagt zum ersten Album nach dessen Tod:

The album has a decided Americana/Alt-Country feel and includes songs I wrote for my dad, for my childhood, for you, homesteading time-travel, the Great Depression, Timothy Leary, a historic U.S. Revolutionary War battle, couples breaking apart and getting back together, a mining disaster, and Mother Earth. The front cover also features an image of me. In other words, a little different from past Spain albums.“

Und im Grunde stimmt das alles, "Carolina" ist tatsächlich anders - es ist näher, intimer, bohrender und an einigen Stellen wirklich prädestiniert für einen Griff ins Tablettenfach der Hausapotheke, Abteilung "Koma". Und auch wenn die vorangegangenen fünf Alben der Band nun wirklich keine ausgelassene Abrissparty feierten, so hat "Carolina" eine deutlich trübere Grundstimmung und zeitgleich eine klarere Ansprache - und für diese Kombination muss ich in Stimmung sein. 

Vor einigen Tagen war es offenbar endlich mal soweit. Es war schon halb elf am Abend, das Wohnzimmer hatte sich dank Temperaturen um die 30°C ordentlich aufgeheizt, der Ventilator quirlte die Miefsuppe ordentlich durch und sorgte wenigstens für ein bisschen Abkühlung, das Licht war heruntergedimmt, das Fenster zum Hof war weit geöffnet - selbst den beiden Katzen war es zu anstrengend, auf die Fensterbank zu springen und mich mit in die Fliegennetze gehackten Krallen zu ärgern. In dieser Situation lief "Carolina" in angemessen hoher Lautstärke auf dem Plattenspieler, beschallte gleich meine angrenzende Hood mit und bekam die finale "Approved"-Medaille. Wenigstens von mir, die Herzallerliebste bleibt nach wie vor skeptisch. Was ich aber eigentlich schreiben wollte: es braucht bisweilen etwas Überwindung, aber gegen die immer noch grandiosen Kompositionen Hadens wie "Station 2", "Lorelei" "Starry Night" oder "Battle Of Saratoga" kann ich mich dann am Ende des Tages, literally, auch nicht mehr wehren. 






Erschienen auf Glitterhouse Records, 2016.

13.08.2016

Die unglaubliche Leichtigkeit




BROKEN SOCIAL SCENE - BROKEN SOCIAL SCENE


Sie hatten ein Lächeln auf dem Gesicht, ganz bestimmt. 

Das Künstlerkollektiv aus dem kanadischen Toronto demonstrierte mit seinem Magnum Opus aus dem Jahr 2005 wie schon auf dem Vorgänger "You Forgot It In People" die unglaubliche Leichtigkeit des Indierocks. Und das zu einer Zeit, in der es um das Genre gar nicht so gut stand - ich kann auch nicht sagen, dass sich das bis heute grundlegend geändert hätte. Wer will schon „indie“, frei und unabhängig sein, wenn die halbe Welt sich innerhalb musikalischer Plattenbausiedlungen einen goldenen Hintern verdient? Wer will denn im Gegensatz dazu sein Zelt in einem Haufen Matsch aufstellen? Und wie gerne würde ich ab und zu mal Matsch hören!

Die kanadische Szene zur Mitte der 2000er Jahre, ein Auffangbecken für urbane Intellektuelle und Avantgardisten, die den Muff in ihren Betonblöcken nicht mehr aushielten, brachte zur Mitte der letzten Dekade eine Sensation nach der anderen hervor. Broken Social Scene hatten daran großen Anteil, sie gehörten zur Speerspitze und Mitbegründern der damaligen Bewegung. So versammelten sie auf ihrem vierten Album einundzwanzig Musiker, darunter Weakerthans-Drummer Jason Tait, Rapper K-OS und Do Make Say Think-Violinistin Feist, und sie alle bekommen von den beiden Kollektiv-Kapitänen Kevin Drew und Brendan Canning viel musikalischen Auslauf und Freiraum. Da wird drüben bei den "Leicht & Locker"-Kumpels in der Pop Lounge die Cocktailkarte rauf und runter getrunken, dann wackelt man über die Straße zu Sonic Youth und jammt zu schwarzem Kaffee zusammen auf Mandolinen, Trompeten und Posaunen, bevor man beim legendären Postrocklabel Constellation vorbeischaut und sich beim schweren Roten die Köpfe heiß redet. Am Ende des Tages treffen sich alle wieder beim Pop und lassen ihrer Unbeschwertheit freien Lauf. Federleicht, beinahe ätherisch gleiten die Songs an einem vorüber. Soviel Raffinesse und Fingerspitzengefühl für die richtige Melodie und die richtige Stimmung gab es nicht mehr auf einer Platte seit...ja, seit wann eigentlich nicht mehr? 

Manch einer wird zwar besorgt nachfragen, ob sich die ganze Meute nicht hier und da mal verlaufen und eher Kopf anstatt Herz benutzt hat, aber nach vier oder fünf Rundgängen auf dem Broken Social Scene-Parcours findet man sich zurecht und weiß das einzuordnen. Ganz klar: "Broken Social Scene" benötigt bei aller souveräner Lässigkeit einen ganzen Batzen Aufmerksamkeit. Pech für Dich, wenn Du zu busy bist, um zuzuhören - es gibt hier einfach soviel zu entdecken. Falsche Fährten, Geheimtüren und chaotische Labyrinthe aus Trilliarden übereinander gelegter Stimmen, Gitarren, Harmonien und Melodien. Wer bis zum Ende durchgehalten hat, wird mit dem zehnminütigen "It’s All Gonna Break" belohnt, das sämtliche noch offenen Fragen beantwortet und endgültig die Sonne auspackt: Da stehen wir im Licht, lassen uns von diesen wunderbaren Melodien (die Trompeten! Mein Gott, DIESE TROMPETEN!) das Herz wärmen und erkennen: es macht alles Sinn. Alles ist an seinem richtigen Platz. Alles ist in bester Ordnung. 






Erschienen auf City Slang, 2005.

06.08.2016

Heavy California




ORGONE - BEYOND THE SUN


Okay, okay - ich habe mich geirrt. I was wrong. I was sogar fucking wrong. Aber, das sei zu meiner Verteidigung erwähnt: "Beyond The Sun" ist kein einfaches Album. 

Das liegt zu einem nicht zu kleinen Teil am Vorgänger "Cali Fever", über den ich schon im Jahr 2012 auf diesem Blog phantasierte, auch mal ein paar Worte verlieren zu können, und wo ich es in vier Jahren schon nicht explizit hinbekam, dann doch eben hier: "Cali Fever" war ein dreckiges, ultracooles Funk- und Fusionalbum mit ungeschlagenem "Die Straßen von San Francisco"-Feeling, enormem Drive und dieser sich aus Freiheit, Abenteuerlust und dem US-amerikanischen Lebensgefühl speisenden Sexiness. Kurz: ich wurde zum Fan, der die Band seitdem mit ausgesprochen überschaubarem Erfolg auf Twitter und Instagram wegen einer wahrscheinlich völlig unmöglichen Deutschlandtournee belästigt. 





Als "Beyond The Sun" im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, wäre das eigentlich ein Blindkauf gewesen, allerdings war das Album zunächst nur als Download oder als CD mit gar nicht mal so ansprechendem Artwork erhältlich, und weil ich manchmal bei all meiner dezent durchscheinenden Kontrollsucht ein "Spürle" (Oettinger) balla-balla bin, riskiere ich in einem solchen Fall dann eben doch erstmal ein Öhrchen, bevor ich die 9 Schleifen für zwei Handvoll Dateien bezahle - für das Vinyl hätte ich ohne mit der Reinhör-Wimper zu zucken glatt das dreifache gezahlt. Ich sage nicht, dass ich noch alle Schellen an der Rassel habe, stattdessen sage ich: "Beyond The Sun" konnte mich bis auf das gute Quasi-Titelstück "People Beyond The Sun" so gar nicht überzeugen. Dabei wollte ich die Platte wirklich unbedingt gutfinden, fast um jeden Preis, und jeder der unzähigen Versuche endete im Fiasko: viel zu glatt produziert, den Songs fehlen Tiefe und Seele, so sexy wie Volker Bouffiers Zahnbelag. Keine Hooklines, kein Drive - Was zum fickenden Fick ist denn mit dieser Band passiert? Ich gab entnervt auf, viel zu spät, aber ich ich bin Lieblingsbands gegenüber eben loyal. Alte Heavy Metal Schule. Da kauft man traditionell (pun intended) noch jeden Scheiß seiner ehemaligen Helden, weil die vor 30 Jahren mal ein gutes Album aufnahmen. 

Absurderweise war die Geschichte an dem Punkt noch nicht ausgestanden, denn ich wurde herausgefordert. Die Kalifornier veröffentlichten "Beyond The Sun" im März des Jahres 2016 auf Vinyl. Mit wunderschönem Artwork. Auf zwei mit unterschiedlichen Farben colorierten LPs. Mit Aufklappcover. Gut. Wenn das so ist: Visier runterklappen, Kopfhörer aufsetzen, nochmal reinhören. Jetzt MUSS sie gut sein. Komm schon! Ich will die jetzt gut finden! Und wo ist meine Rassel?

Ich fand "Beyond The Sun" auch dann immer noch nicht gut. 

Und es tat echt weh. 

Zu den Akten legen. 

Weitermachen.


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Ich könnte jetzt sich das mit pathetischem Donnergrollen ankündigende Schicksal bemühen, dass also irgendeine dunkle, aber grenzenlos starke Macht, Oma Meume oder Didi Hallervorden oder scheißrein: der Wurst-Sepp aus Berchtesgaden, unbedingt einen Endgegner wollte - ob für oder gegen mich ist eh schon bumsegal, aber "Beyond The Sun" sollte zurückschlagen können. Und siehe da, es schlug zurück: da "Beyond The Sun" ein deutscher Vertrieb fehlte, gab es das Vinyl entweder nur über den direkten Kanal zur Band, also in Kalifornien, oder auf US-amerikanischen Mailorders, mit Versandkosten nach Europa, die mittlerweile locker den eigentlichen Wert der Schallplatte übersteigen. Bei sehr ausgesuchten deutschen Verteilern konnte man auch wenige Stücke finden - da allerdings immer für den sehr stolzen Preis von 30 Euro plus X - und alleine damit war das Thema ja im Prinzip schon durch. Und weil es bei mir so durch war, war die Platte in hiesigen Gefilden irgendwann ausverkauft. Während ich also schlussendlich noch darüber frohlockte, dass mir die Entscheidung ja jetzt doch sehr unblutig abgenommen wurde, flatterte mir eines Tages die Email meines Lieblingsmailorders auf den Rechner: "Beyond The Sun" sei jetzt wieder im Lager und also SOFORT VERSANDBEREIT! 

So ein Kurzschluss im Oberstübchen kann manchmal eine beinahe reinigende Wirkung haben und ordentlich den Brägen freipusten: keine dreikommavier Minuten später wurde die Platte wohl schon zum Versand vorbereitet und war auf dem Weg ins Last Exit Sossenheim. 

Nun kommen wir wieder zum ersten Absatz meiner erneut viel zu lang geratenen Einlassung zu "Beyond The Sun" - ich lag falsch. Und ich weiß nicht genau, woran es lag, aber ich schiebe es einfach mal auf den ganzen unerotischen, sacköden Reinhörscheiß. Das konnte nichts werden. Denn kaum lag die Scheibe auf dem Plattenteller waren alle Sorgen begründeterweise weggeblasen und meine Hosen hingen über dem Türrahmen: die Produktion ist glatter, aber trotzdem heavy und pfundig (die Pressung ist in diesem Zusammenhang übrigens auch super) die Songs sind abwechslungsreicher, melodisch verstrickter und zeitgleich in der grundlegenden Ausrichtung straighter - und sie sind immer noch tanzbar. Dem Groove von Songs wie "Loosin' You" oder "When Someone's Love Is Real" kann man kaum wiederstehen, und die Sexiness zeigt sich unter anderem in der Rufus Coverversion "I'm A Woman (I'm A Backbone)". 

Dazu kommt das erwähnte unschlagbare Coverartwork und die wunderbar aussehenden farbigen Vinyle, das große (und großartige) schwarzweiße Live-Foto im Innencover. 

Je ne regrette rien. 

Das ist einfach eine coole Band. 





Erschienen auf Colemine Records, 2016.


31.07.2016

Return To L.A.




BADLANDS - VOODOO HIGHWAY


Das zweite Album dieser All-Star Band um die ehemaligen Ozzy/Black Sabbath Mitglieder Jake E. Lee und Ray Gillen ging nach ihrem durchaus erfolgreichen Debut aus dem Jahr 1989 aus verschiedenen Gründen leider ziemlich unter. Einerseits war die gesamte Rockszene zu Beginn der 1990er Jahre gerade in einer großen Umbruchphase, die zum weltweiten Siegeszug des Alternative Rocks führen sollte, andererseits war das Bandgefüge wegen der Eskapaden der beiden Platzhirsche schon während der Aufnahmen so deformiert, dass das zuständige Label Atlantic kurz nach Veröffentlichung von "Voodoo Highway" die Reißleine zog, die Band feuerte und die Promotion für das Album einstellte. Zwei Monate später zog "Nevermind" den Stöpsel aus dem Sammelbecken der traditionellen Hardrock Bands. 

Es ist vor diesem Hintergrund nur eine kleine Überraschung, dass die zu jener Zeit entstandenen Alben der Hardrock- und Hair Metal-Acts in Sachen geschenkter Aufmerksamkeit mit in den mit Pudelfrisuren vollgesifften Abfluss gezogen wurden und in den jeweiligen Diskografien, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle spielen - dabei sind sie im Vergleich mit den Megasellern nicht selten die interessanteren Werke. Als Beispiele lassen sich "Hollywood Vampires" von den L.A. Guns oder das brilliante "Heartbreak Station" von Cinderella in den Ring werfen - oder eben "Voodoo Highway". 

Natürlich war das selbstbetitelte Bandlands-Debut kein schwaches Album, ganz im Gegenteil gilt es heute unter Kennern als absolute Sternstunde des klassischen Hardrock und selbst der Zahn der Zeit hat nicht so furchtbar viele Stellen gefunden, "Badlands" diesen Stellenwert abzunagen. "Voodoo Highway" geht hingegen stilistisch in eine andere Richtung, ist rauher, basischer, erdiger, echter. Alleine der Sound mit einer im Prinzip total runtergefahrenen, fast schon nackten Bühne, auf der sich eine Hand voll Wüstensand mit ein paar Gläsern Tennessee Whiskey vermischt, ist ein echter Hinhörer, denn er setzt zusammen mit dem Artwork den Maßstab für die Stimmung der Platte: Dämmerung, schwül, sandig - und zwischendurch haut man sich alle vier Sekunden auf den feuchtgeschwitzten Hals, um die Moskitos zu bekämpfen. Die Songs sind konsequent bluesiger als auf dem Debut, verschwunden sind dessen bombastische Hitmagneten, jetzt steht der Blues vor der Tür. Ein bisschen verstrubbelt und runtergerockt, ohne auch nur eine zu viel gespielte Note, kompakt und mit viel Drive und Verve inszeniert - Anspieltipps sind "Soul Stealer" und das wahnsinnige Uptempomonster "Heaven's Train".

Dazu singt mit dem im Dezember 1993 verstorbenen Ray Gillen ein absoluter Meister seines Fachs und veredelt die neue Ausrichtung der Songs mit großer und großartiger Stimme - eine Stimme, die soviel Lust und Freude und meinetwegen die Mischung aus Eskapismus und Hedonismus ausstrahlt, dass ich es mir von meiner Couch in Last Exit Sossenheim in voller Pracht und Blüte vorstellen kann, wie halb Los Angeles im Sommer 1991 in den Bars und Clubs und Hausparties zu dieser Musik feierte, tanzte, lachte und sich in den Armen lag. Das ist über Songs und Sound hinaus das eindrücklichste, was ich dieser Platte mitgeben kann, wenn nicht muss: es macht irrsinnigen Spaß, "Voodoo Highway" zu hören. Es ist gerade 1 Uhr morgens, ich dimme jetzt das Licht, schenke mir einen Bourbon ein und drehe die Platte nochmal um. 

Ihr seid immer auf der Suche nach vergessenen Perlen? Hier habt ihr eine gefunden. 

Für die empfehlenswerte Vinylausgabe ist mittlerweile leider ein ganzer Batzen Geld auf den Tisch zu legen, aber ihr wisst ja: Keep calm and your eyes open.





Erschienen auf Atlantic, 1991.

26.07.2016

Learn How To Feel One Note


Eine Premiere nach neun langen Jahren 3,40qm: ein Gastbeitrag. 

Ich freue mich sehr darüber, dass Freund Jens, aufmerksamen Lesern dieses Blogs längst durch Erzählungen über gemeinsame Streifzüge durch Stuttgarter und Frankfurter Plattenläden, indische Restaurants und Weindekanter bestens bekannt, die Einladung annahm und in seinem Text auf sein geteiltes Leben mit dem Talk Talk-Meilenstein "Spirit Of Eden" zurückblickt - und dabei sogar die Kurve zu Metallica (und wieder zurück) hinbekommt.

It's with honor and great pleasure - Hurra & Enjoy! 






TALK TALK - SPIRIT OF EDEN



Ich will Musik spüren. Berührt werden. Musik muss laut sein, Instinkte wecken, in den Bauch treten - und manchmal das Herz kneten. Ich mag keine verkopfte Musik. Dachte ich. Und dann kam Mark Hollis mit seinem Gegenentwurf zum Rock‘n‘Roll. 

Als im September 1988 "Spirit Of Eden", das vierte Album seiner Band Talk Talk, erschien, war ich 16 Jahre alt. Ein Jahr vorher hatte ich das oben angedeutete archaische Gefühlsbeben zum ersten Mal live erleben dürfen: Metallica bei den Monsters of Rock in Pforzheim. An andere Bands dieses Tages habe ich kaum Erinnerungen, aber ich erinnere mich exakt an jenen Moment als das Metallica-Intro über das Gelände waberte. Eigentlich war ich gerade nach hinten gegangen, um mir etwas zu trinken zu holen, plötzlich zog mich etwas in Richtung Bühne. Ich rannte. Ich wollte keine Sekunde verpassen. In den folgenden 45 Minuten zerlegten Metallica das Gelände - und hoben dabei auch meine Welt aus den Angeln. Eine Band auf ihrem Zenit. Hungrig. Gekommen, um die musikalische Weltherrschaft an sich zu reißen. Inzwischen mag ihnen das auf die ein oder andere Weise gelungen sein, ihr Hunger ist dabei definitiv auf der Strecke geblieben. Und nicht nur der. Aber das ist eine andere Geschichte. 

Fast genau ein Jahr später wurde meine kleine Welt musikalisch erneut erschüttert. Nur diesmal ganz anders - vielleicht sogar noch grundlegender. Immer noch knietief in harten Gitarren watend, wurde ich von meiner Mutter gefragt, ob nicht ich diesmal die Quartalsgabe des Buchclubs auswählen wolle. Gelangweilt blätterte ich im Katalog, kein Metal weit und breit, in meinen Augen und Ohren nur uninteressanter Schund. An einem Cover blieb ich hängen: von Talk Talk kannte ich immerhin ihren 84er Hit "Such A Shame". Also los, einer geschenkten Platte schaut man nicht in die Auslaufrille, so schlecht würde das schon nicht werden. 

Little did I know! Kaum eine andere Platte hat mich seither so tief berührt, so viel mit mir angestellt, sich in all den Jahren nicht ansatzweise abgenutzt. Immer wieder neu, immer wieder elementar. Ein Kosmos. So viele Ideen, so viele Ebenen. Wahnsinn. 

Ich habe mich - sieht man von ersten journalistischen Gehversuchen in der Schülerzeitung ab - immer geweigert, über Musik zu schreiben. Vielleicht aus Angst, sie damit für mich zu entzaubern. Ihr durch die Analyse etwas zu rauben, was für mich essentiell ist. Sich ihr auf anderer als der Herzensebene zu nähern, scheint mir unmöglich. Für diesen Text habe ich es noch einmal versucht. Es will mir nicht gelingen. Den ersten Teil habe ich vor Monaten geschrieben - und mich seither darum gedrückt, im zweiten Teil diese Musik, die mir so unendlich viel bedeutet, beschreiben zu müssen. Im Moment läuft die Platte erneut, es gäbe unendlich viel zu sagen, aber ich kann es nicht. 

Sei's drum, zu "Spirit Of Eden" ist in den vergangenen - bald  - 30 Jahren alles gesagt und geschrieben worden. Das Internet ist voll von Lobpreisungen. Ich müsste mich arg wundern, gäbe es nicht irgendwo wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dieser 40 Minuten dauernden musikalischen Offenbarung beschäftigen. Aber wer will das lesen? Ich nicht. Noch immer will ich Musik in allererster Linie spüren und von ihr berührt werden. Und das hat keine andere Platte so grundlegend getan wie diese.

Eigentlich hat aber Mark Hollis selbst alles gesagt, was über dieses Album und Musik an und für sich gesagt werden muss: 

“Before you play two notes learn how to play one note — and don’t play one note unless you’ve got a reason to play it.”

In diesem Interview - einem seiner bis heute letzten - erzählt er noch ein bisschen mehr. Ich finde, es lohnt sich zuzuhören:





Erschienen auf EMI, 1988.


24.07.2016

Love, Peace & Sacred Reich




SACRED REICH - LIVE IN ASCHAFFENBURG
21.7.2016


Seit drei Monaten habe ich mich auf diesen Abend gefreut. Eine meiner allerliebsten Bands des Thrash Metal spielen eine Clubshow im schönen und außerdem schön gelegenen Aschaffenburger Colos-Saal, und dann auch noch im Sommer. Hinzu kommt, dass die Herzallerliebste, als ich sie wie immer vor Konzerten fragte, ob sie denn mitkommen möchte, dieses Mal nicht - wie sonst - umgehend in schallendes Gelächter ausbrach, sondern tatsächlich gegen ein kleines...äh..."Entgegegenkommen" meinerseits zusagte und also mit mir in ein Thrash Metal-Konzert ging und nicht nur das: auch noch über die gesamte Spielzeit am Rande des Moshpits stand. 

Now, how fucking cool is that?





Alles, also so wirklich alles daran schreit nach einem legendären Abend.

Einen solch erlebte ich auch schon im Sommer 2009, als ich extra für die Band nach München fuhr, um sie nach 1991 zum zweiten Mal live zu sehen. Sacred Reich und vor allem ihr Album "The American Way" aus dem Jahr 1990 waren in meiner Blütezeit als Thrash Metal-Fan eine der wichtigsten Bands überhaupt für mich: sie hatten schlaue, gesellschafts- und staatskritische Texte, sangen gegen Umweltverschmutzung, Ignoranz, Rassismus und vor allem gegen den Tunnelblick auch in ihrer eigenen Komfortzone, der Metalszene. Und sie gaben keinen Fick auf das Geheul der Betonköpfe, die entweder keinerlei Politik in ihrem "unpolitischen Metal" duldeten, oder die alles, was keine Doublebass und langen Haare hatte, am liebsten unter den nächsten vorbeifahrenden Bus geschmissen hätten. Sacred Reich waren immer die etwas andere Metal Band.

Das bewiesen sie auch beim Aschaffenburger Konzert am vergangenen Donnerstag. Das Quartett aus dem US-amerikanischen Backofenstaat Arizona, übrigens seit fast dreißig Jahren im gleichen Line-Up zusammen (ausgenommen ein vergleichsweise kurzes Intermezzo mit dem heutigen Machine Head-Trommler Dave McClain, der Originaldrummer Greg Hall kurzzeitig ersetzte), hat längst die Souveränität und Gelassenheit einer Band, die niemandem mehr etwas beweisen muss - und der man das nicht nur anhört, sondern auch ansieht. Vor allem Sympathiebolzen Phil Rind hat über die kompletten knapp 80 Minuten Spielzeit ein Grinsen ins Gesicht getackert, Gitarrist Wiley ist spätestens nach seinen tiefen Zügen aus einem angereichten Joint endgültig ultramegaokay, Jason gibt hauptamtlich den "grumpy Gartenzwerg" auf der rechten Bühnenseite, lässt sich aber hier und da von den euphorischen Reaktionen der 300 Zuschauer zu einem Lächeln hinreißen. Keine aufgesetzte Härte, kein Machoscheißdreck, keine gespielte Bösartigkeit - die vier Typen, die seit ihrer Reunion etwa alle zwei Jahre nach Europa reisen, um ein paar Sommerfestivals und einige handverlesene Clubshows zu spielen, haben ehrlichen und aufrichtigen Spaß an dem, was sie tun. Phil kommt aus den Lobpreisungen und Danksagungen ans Publikum dann auch gar nicht mehr heraus, und just als man sich beim Gedanken ertappt, dass er es jetzt aber wirklich übertreibt, merkt man, dass ihm das unmöglich anzulasten ist: der meint das wirklich genau so. 


"We flew from the fucking desert in Arizona to a place like fucking Aschaffenburg und you guys show up to our show and you are just fucking awesome. Do you realize how crazy that is? Wow."

Nach den ersten vier Songs "The American Way", als Opener immer noch unschlagbar, "Administrative Decisions" und "Death Squad" vom Debut "Ignorance" und dem überraschend in der Setlist auftauchenden "Free" vom 1993er "Independent"-Album, nimmt sich Phil zum ersten Mal fünf Minuten für eine längere Ansage, die darin gipfelt, dass wir alle mehr Liebe und Umarmungen brauchen - also fordert er die Zuschauer dazu auf, sich gegenseitig in die Arme zu nehmen. Und es klappt: der mit bösen, bösen Metallern vollgepackte Colos-Saal liegt sich kollektiv in den Armen und moshte sich direkt im Anschluss mit "One Nation" wieder zurück in den Gig. Sowas habe ich auch noch nicht erlebt. 





Die Setlist überraschte darüber hinaus mit zwei Tracks des von so manchen Fans völlig unberechtigterweise verschmähten "Heal"-Albums aus dem Jahr 1995 - der Opener "Blue Suit, Brown Shirt" und der alles weggroovende und außerdem total fantastische Titeltrack, bot ansonsten das bekannte Programm aus den vielen Klassikern der Truppe: "Crimes Against Humanity", "Ignorance", "Who's To Blame", "Independent", "Love...Hate", das unvermeidliche "Surf Nicaragua" und natürlich  "War Pigs", allesamt arschtight und mit viel Spielfreude auf Champions League-Niveau runtergeholzt. 

Ein brillianter Gig einer der angenehmsten und immer noch besten Livebands aller Zeiten, die übrigens alle Anfragen nach einer neuen Platte seit ihrer Reunion im Jahr 2007 gelassen abblockt. Phil Rind sagt dazu, dass er einerseits nicht daran glaubt, die Truppe könne qualitativ an ihr Klassikererbe anknüpfen, und er es andererseits auch bezweifelt, dass die Fans _WIRKLICH_ neue Musik von ihnen hören wollten; die Frage danach erscheine ihm eher als üblicher Reflex, weil es sich eben so gehöre - aber die Welt habe die letzten 21 Jahre auch ohne ein neues Album von Sacred Reich überstanden. Ich empfinde diese Ehrlichkeit auch in dieser Frage als ausgesprochen wohltuend.

Ich hoffe, dass sie ihr Programm so noch für eine lange Zeit durchziehen können. Eine Metalszene ohne Sacred Reich möchte ich mir nicht vorstellen.






23.07.2016

Urlaub in Ozeanien



OLDTWIG - SEASIDE PT.1


Es gab in den letzten Wochen in der Casa Troispointquatrezero eine außergewöhnliche Dichte an herausragender Musik zu beklatschen, die sowohl trauriger-, als auch überraschenderweise nicht auf Vinyl erhältlich war und wohl auch künftig nicht sein wird. 

Bandcamp mausert sich in diesem Zusammenhang immer mehr zu einem echten Entdeckungsoverkillportal - und nicht nur das: bisweilen ist es tatsächlich die einzige Quelle, um überhaupt an bestimmte Musik heranzukommen. Zumindest dann, wenn sich das Gewissen beim Klick auf den "Kaufen"-Knopf bei Amazon sträubt, oder wenn es andererseits ein gutes Gefühl gibt, die Musiker und Labels direkt zu unterstützen, anstatt eine aufgeblasenen Kette von Vertrieb, Logistik und Marketingsfuzzis durchzufüttern.

"Seaside (Part 1)" ist das zweite Album des in Paris lebenden Produzenten Oldtwig und stellt eine Ode an den Ozean dar; ein auf zwei Alben, 12 Tracks und exakt 60 Minuten angelegtes Projekt, das auf dem ersten Teil sechs Stücke präsentiert, die sich stilistisch zwischen Downbeat, (instrumentalem) Hip Hop und moderner Klassik platzieren und sich darüber hinaus atmosphärisch in einem angegrauten hellblau mit Trockenblumenromantik bewegen. Durch die vor allem im eröffnenden Titeltrack jazzig-angekratzten Beats und die melancholisch schleifenden Streichereinsätze, oder auch die Akustikgitarre im Slowmo-Schunkler "Dunes" freue ich mich tatsächlich ein kleines bisschen auf den Herbst, auf eingekuschelte Sonntagnachmittage und auf diesig-trübes Mistwetter. Also eigentlich gar nicht so weit von dem entfernt, was wir hier seit Mitte April haben. Vielleicht schlägt "Seaside" auch deswegen die genau richtigen Saiten an. 

Wenn wir von Bonobos ruhigeren Momenten den trotzigen Willen zur Tanzbarkeit abziehen und stattdessen mit Herbstlaub und frisch gebrühtem Earl Grey überschütten und wie in "Hourglass" ein Saxofon und den sehnsüchtigen Klang einer Klarinette mit auf die Novemberdepressionscouch holen...ich mach' schon mal die Kerzen an.





Erschienen auf DLoaw, 2016.


20.07.2016

Keep It A Secret




KAYO - A THOUSAND MONTHS


Warum ist der Mann so dermaßen unter offenbar jedem Radar? Warum verkauft sich diese Platte wenigstens bei den üblichen Verdächtigen nicht wie geschnittenes Klopapier? Und warum ist jeder Schrott nach dreikommaviernull Sekunden ausverkauft und nur noch für Fantastrilliarden Euro bei den Discogs-Blutsaugern zu erhalten, wenn dieses Album immer noch zu haben ist?

Ich kann mich davon gleichfalls nicht hundertprozentig davon freisprechen, ab und an die Augen und Ohren etwas zu arg  geschlossen zu halten, denn obwohl ich den französischen Produzenten seit seinem Tribut an Gil Scott Heron aus dem Jahr 2013 in meinem schlauen, wenngleich nur virtuellen Buch in der Rubrik "Artists 2 Watch" stehen habe, verschlief ich die Veröffentlichung von "A Thousand Months" im Herbst/Winter des vergangenen Jahres um ein paar Wochen. Allerdings, soviel Rechtfertigung muss erlaubt sein: ich nutze auch nicht die üblichen Kanäle, um immer und überall auf dem Laufenden zu sein. 

"A Thousand Months" ist ein wunderbar stilvolles Album in der Schnittmenge zwischen smoothem, unaufgeregtem Hip Hop, urbanem Soul - Paradebeispiel für ebenjene Kombination ist der Hit "Words & Language" - und vereinzelten Downbeatblitzen wie beispielsweise in "Tunis Blues Song / Ariana’s Memories". Modern und geschmackvoll inszeniert und niemals ärgerlich maskulin - viel eher klingt Kayos Musik sensibel und überlegt - ist "A Thousand Months" ein Dauerbrenner im Hause Dreikommaviernull. Seitdem ich die Platte im Januar 2016 kaufte, hat sie praktisch nie den Weg ins Plattenregal und damit zum Verstauben gefunden, sondern steht immer griffbereit in der Nähe des Plattenspielers. Wochenendbrunch mit der Herzallerliebsten? Check! Zweiter oder zwölfter Kaffee auf der Couch? Check! Winterabend bei Kerzenschein? Check! Frühlingsabend auf der Terrasse? Doppelcheck! 

Dazu ist die Vinylversion mit Gatefoldcover, auf der Innenseite abgedruckten Texten und dem schicken Clear Vinyl ein echter Hingucker, zudem für schlappe 14 Euro auf seiner Bandcamp Page zu haben. Und nochmal: Warum ist das kein fucking Bestseller? 





Erschienen auf Albatros Music, 2015.


P.S.: In den Liner Notes steht geschrieben, dass man, wolle man die digitale Version von "A Thousand Months" sein Eigen nennen, Kayo ein Bild von sich zusammen mit der LP zuschicken soll. Womit nun auch geklärt ist, was dieser bärtige Mann da oben so lustig in die Kamera schielt. 


16.07.2016

Wann wird's denn mal wieder richtig Sommer?




THATMANMONKZ - COLUMBUSING


Ich kann schon wieder einige Sorgenfalten im exklusiven Lese(r)zirkel dieser meiner dreikommaviernull Quadratmeter großkleinen Pumabumshütte erkennen, und das ist ausnahmsweise nicht kokett gemeint: wer die Debut-LP des Produzenten aus dem englischen Sheffield zumindest angespielt hat, darf meinetwegen gerne die Augenbrauen lüften. 

"Columbusing" ist nicht nur in sich eine stilistisch durchaus besondere Platte, es ist bei all meiner Affinität zu elektronischen Sounds immerhin ein wenig ungewöhnlich, sie hier vorzustellen. Irgendwo zwischen House, Acid Jazz, Broken Beats und Hip Hop frohlockt "Columbusing" durch einen Tag am Meer und eine Nacht durch die Clubszene Ibizas, manchmal, vor allem bei den paar straighten Housebangern, fast so schmerzhaft weich, fluffig und formvollendet glatt, dass es selbst mir schwerfällt, mich darauf einzulassen. Und doch sitze ich selbst in diesen Momenten mit wild im Takt fuchtelnden Armen und Beinen am Frühstückstisch und ernte mitleidige Blicke der Herzallerliebsten. Das ist die eine Seite dieses Albums. 

Die andere Seite bietet vor allem in den Abfahrten in Richtung Beats und Jazz einige überraschend subtile und deepe Tracks, die sich tatsächlich erarbeiten lassen und dennoch auch dann bestens funktionieren, wenn der Sonntagmorgen einfach nur die Sonne reinlassen soll: "Some Ol' Nexish" beispielsweise ist von Robert Glasper'schem JazzHop beeinflusst, "Moon On The Hill" ein leises, schlingerndes Feelingmonster, in "Take U 2 My House" (und bei Weitem nicht nur da), schaut the Purple One auf seiner Purple Wolke sitzend vorbei. Wer auf den aufgeräumten, gläsernen Sound von 4 Hero oder auch mit den Anfängen von Jazzanova (Tipp am Wegesrande: "In Between") klarkommt, hat viel Freude mit "Columbusing".






Erschienen auf Shadeleaf, 2016.


05.07.2016

A Thousand Words




BVDUB - A THOUSAND WORDS


Es war ungewöhnlich still um den großen Mann des Ambient, der normalerweise nur wenige Probleme damit zu haben scheint, mindestens alle drei Monate ein neues Album zu produzieren und zu veröffentlichen. Sein letztes Werk "Safety In A Number", im eigenen Vertrieb via Bandcamp zur Verfügung gestellt, erschien im November 2015 - danach gab es nur wenige, dafür aber sehr dunkle, depressive, fast verzweifelt anmutende Wortmeldungen auf Facebook. Und keine neue Musik. 

Im Juli 2016 ändert sich das glücklicherweise. "A Thousand Words" ist ein einziger, 77 Minuten langer Track, vollgestopft mit dem besten aus seiner langen Karriere, stilistisch am ehesten mit legendären Monumenten wie "Home" oder "The Art Of Dying Alone" vergleichbar. Was immer offensichtlicher wird: die Verbindungen zwischen der Realität seines Lebens und seiner Musik. Der ideologische und vor allem emotionale Überbau, den er über seine Alben spannt wird immer plastischer und fundamentaler. 

Brock hat sich dazu auf seiner Bandcamp-Seite sehr ausführlich geäußert, zum einen über die tatsächliche Produktion aus eher technischer Sicht:

A Thousand Words is my longest, largest work to date, and what we can likely all agree this was all coming to - one, single 77-minute piece. Much more than one single narrative, however, it is comprised of 19 movements, and over 500 channels of audio... all performed in one take, live.
Combining a colossal library of pre-recorded and treated loops, samples, beds, and instrumentation, in concert with live arrangement, synthesis, loop creation, instrumentation, and even vocals, A Thousand Words is about as raw and unapologetic as anything I have ever made - as well as the most challenging, requiring more equipment, instruments, and dexterity than I have ever attempted before... as well three keyboards, six live instruments, and two samplers, all running through two computers and a phone, simultaneously. 


Zum anderen aber auch zum Hintergrund von "A Thousand Words":


A Thousand Words was borne from an amazing fact I discovered in recent times... that cats only meow to humans. They do not do so to each other, nor any other animal - but over time, have learned that this is the language with which they can communicate to people. And like with anyone, when you get to know them, you will know how much they truly have to say - they say it all, yet can do so without all the trappings, faults, and deception of people - for life is not anywhere near as complicated or unnecessarily difficult as we love to make it. It is, in essence, quite simple. And that is, in essence, quite amazing. 

Once I started to really meditate on this idea, it began to expand to all aspects of my life... and I began to hear sound, and view communication in an entirely different light. It finally awoke in me what had laid dormant for nearly a year, as I spiraled in a black hole of manic depression and apathy toward every facet of my being, my past, and my future. I set about to not only shatter that blackness, but to do so in a way that could truly respect my even deeper love for those in my life for whom I can feel true love. Love is the willingness to do absolutely anything for the object of that love - and I am fortunate to have had, and have, several forces in my life that have let me experience pure happiness, and pure love. It just so happens that they are also, generally, those with a fairly limited vocabulary - but they say it all. You don’t have to say a lot to mean everything... and that is true for us all. 



In diesem Zusammenhang ist es lohnenswert darauf hinzuweisen, dass drei US-Dollar jedes verkauften Downloads gespendet werden:

$3 from every sale of this album will be donated to the Animal Rescue League of Berks County (PA), SPCA of Wake County (NC), and numerous fledgling rescue centers in Europe who are instituting programs that encourage children to read to cats every day after school... not only providing a massive upturn in youth literacy and love of books, but hours a day where those who have been forgotten can have someone by their side. 


Ich finde das sehr inspirierend, und es wäre nicht das erste Mal, dass ich die Liebe erwähne, wenn ich von seiner Musik spreche und schreibe. 

Und ich tu's schon wieder: Wenn für mich eines aus seiner Musik spricht, dann ist das Liebe. Bedingungslos und total, mit all dem Licht und all dem Schatten, die es braucht, um die Liebe begreifbar zu machen.

Das purste und reinste Glück.





Erschienen im Eigenvertrieb, 2016.  


02.07.2016

Scharfschützen




FROM MONUMENT TO MASSES - ON LITTLE KNOWN FREQUENCIES


Das Debutalbum "The Impossible Leap in One Hundred Simple Steps" aus dem Jahr 2003 der US-amerikanischen Postrockband From Monument To Masses gilt gemeinhin als anerkannter und aus der Diskografie herausragender Klassiker des Genres, was insofern nachvollziehbar erscheint, weil es einerseits die zwei zentralen Postrockpfade der späten Neunziger und frühen Nuller - den Kanadischen um Godspeed You! Black Emperor/Constellation Records und jenen aus Chicago um Tortoise/Thrill Jockey Records - nicht nur musikalisch, sondern auch hinsichtlich der politischen und künstlerischen Aussage miteinander vermischte, und weil es andererseits unter dem Eindruck des 11.Septembers und der im Anschluss seitens der Bush-Administration geführten Invasionen in Afghanistan und Irak entstand - ein nicht zu vernachlässigender Punkt, wie ich betonen möchte: es gab wohl außerhalb des Godspeed'schen Kosmos keine andere Band und keine andere Platte, die trotz instrumentaler und damit also wortloser Musik, so viel zu sagen hatte, so viel in Frage stellte, kritisierte und mit der Faust auf den Tisch haute wie From Monument To Masses und ihr "The Impossible Leap In One Hundred Simple Steps". Die Band verarbeitete Samples aus politischen Reden, Interviews und Nachrichten in ihren Songs und sorgte somit für klare Verhältnisse ihres Schaffens. Es ist damit nicht nur ein beeindruckendes Zeitzeugnis einer verwirrenden und verstörenden Epoche unserer Generation, es kann auch dazu herangezogen werden, um die damaligen Geschehnisse und die Ohnmacht, Wut und Trauer, die sich bei der Beobachtung einer sich auflösenden Zivilgesellschaft und der Zerstörung demokratischer Strukturen zeigten, nochmals zu reflektieren. Den Klassikerstatus darf die Platte meinethalben also gerne weiter behalten. 






"On Little Known Frequencies" erschien im Jahr 2009 und machte mir anfangs das Leben so schwer, dass sie sich nur ein Jahr später im Stapel der zu veräußernden Exemplare aus dem Dreikommaviernull'schen Plattenschrank wieder fand. Vielleicht war das die falsche Platte zum falschen Zeitpunkt, vielleicht war ich damals dieser Spielart des Postrock insgesamt müde geworden und sah den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Ende der Geschichte: ich wurde das Album nicht los, und als ich dann eines Abends einen erneuten Anlauf nahm, der Musik irgendwie auch nur ein Stückchen näher zu kommen, machte es plötzlich "Klick!" und mir flog der Schlüpper weg. 

Seitdem hat der Abgesang dieses auf jeder Ebene beeindruckenden Trios eine Sonderstellung in meinem Schädelgestrüpp, und ich bin froh, dass ihr letztes Album immer noch in meinem Schrank steht und von Zeit zu Zeit auf dem Plattenteller landet. So wie am heutigen Abend im frühen Juni des Jahres 2016, als ich "On Little Known Frquencies" auflegte. Ein dramatischer, intimer, monumentaler, manchmal herzzerreißender, brilliant gespielter, mit hochkomplexen Arrangements und Harmonien ausgestatteter Postrockentwurf, der stilistisch seines Gleichen sucht. Bis heute. Und wahrscheinlich auch bis so circa immer. 

Und gleichzeitig wirkt nicht nur der Sound wie ein Anachronismus - wer spielt sowas heute noch? - auch die Inhalte erscheinen längst überholt: wer regt sich denn heute noch auf? Wer erhebt denn noch seine Stimme? Ich weiß - das ist einerseits verklärender Mist; als ob es 2009 noch irgendwie anders gewesen ist. Andererseits ist meine Frustration darüber nicht groß genug, um all die Menschen zu vergessen, die tatsächlich ihre Stimme erheben. Die kämpfen und versuchen, die Welt besser zu machen, während ich mir hier ultralogger die Couch plattsitze. 

Zeit für Resignation? 

Keine Zeit für Resignation! 

Zynisch und müde und scheiße sein ist einfach. Viel zu einfach. 

Und es ist so scheiße ignorant. Was bild' ich mir ein?

"The band name is a challenge to the "Great man theory" and a call for a paradigm shift. Rather than subscribe to the notion that "highly influential individuals" to whom monuments are built shape historical developments, the band name posits that it is actually the masses struggling for change who make history. (...) The band members have often explained in interviews that their music is only one expression of their respective politics. Each member has been involved with various organizations throughout the life of the band, including the League of Filipino Students-SFSU, Challenging White Supremacy, Kalayaan School for Equity, BAYAN USA, and others."





Erschienen auf Dim Mak Records, 2009.

27.06.2016

Let the lead flow!

Wo wir gerade im letzten Artikel zu Blair Frenchs "Through The Blinds"-Album - rein virtuell, versteht sich - so "schön" über Detroit, beziehungsweise das, was von der Stadt übrig geblieben ist, "sprachen", macht es "vielleicht" "Sinn", einen der größten Skandale der jüngeren US-Geschichte zu beleuchten, der zwar nur am Rande mit Detroit in Verbindung steht, dafür aber das nahegelegene Städtchen Flint, beziehungsweise seine Politiker und Einwohner, in den Mittelpunkt rückt.

"Beleuchten" ist hier ganz vielleicht nicht wirklich das Wort der Wahl, das möchte ich nämlich der Fernsehmoderatorin Rachel Maddow überlassen, die das Thema in einer knapp 25-minütigen Reportage für die Zuschauer sehr eindrücklich aufbereitete. Ich schätze Maddow und die Art ihres Vortrags sehr, nicht nur in diesem Fall, sondern auch darüber hinaus: ihre Sendung auf MSNBC, dem zart linksliberalen medialen Gegenspieler der rechtskonservativen Furzknoten von Fox News, bietet viele Hintergrundinformationen, die mit Witz und Charme und meistens mit eindeutigem Tenor in der Decouvrierung homophober, rassistischer, korrupter, religiöser Sackgesichter geliefert werden. Sowas geht mir natürlich runter wie Öl (10W-40). Maddow ist wie einige ihrer Kollegen (beispielsweise der fanatische und fantastische Keith Olberman) bereits seit vielen Jahren im Fadenkreuz rechter Journalisten, Politiker und Bürger der USA, was sie gerne von Zeit zu Zeit aufgreift und mit einer guten Portion Selbstironie kommentiert.

Im angesprochenen Fall geht es um die im Jahr 2015 öffentlich gewordene Wasserkrise der 100.000 Einwohner-Stadt Flint in Michigan, einer fassungslos machenden Geschichte aus Korruption und Lügen, die außerdem den Zustand der US-amerikanischen Politik und einer sich im Auflösungsprozess befindlichen Gesellschaft auf schockierende Weise illustriert. Über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren wurde das Trinkwasser für die überwiegend (57%) Afro-Amerikanische Bevölkerung mit Blei kontaminiert, was zu einem imposanten Anstieg der Bleikonzentration im Blut der Bevölkerung, insbesondere im Blut von Kindern führte.

After Flint changed its water source from treated Detroit Water and Sewerage Department water (which was sourced from Lake Huron as well as the Detroit River) to the Flint River (to which officials had failed to apply corrosion inhibitors), its drinking water had a series of problems that culminated with lead contamination, creating a serious public health danger. The corrosive Flint River water caused lead from aging pipes to leach into the water supply, causing extremely elevated levels of the heavy metal. In Flint, between 6,000 and 12,000 children have been exposed to drinking water with high levels of lead and they may experience a range of serious health problems. Due to the change in water source, the percentage of Flint children with elevated blood-lead levels may have risen from about 2.5% in 2013 to as much as 5% in 2015.

On January 5, 2016, the city was declared to be in a state of emergency by the Governor of Michigan, Rick Snyder, before President Barack Obama declared it as a federal state of emergency.

Der komplette Artikel bei Wikipedia


Der in Flint geborene Regissuer Michael Moore fand in der wöchentlichen Talkshow "Real Time With Bill Maher" die gewohnt klaren Worte:

"And I think that's a crime; they did it because it's a black city, it's a poor city, they wouldn't do this to Bloomfield Hills or Ann Arbor or Grosse Pointe."


Und jetzt, wie versprochen - Rachel Maddow: