11.06.2016

Roots Bloody Roots




TYRONE WASHINGTON - ROOTS


Aufmerksame Leser von Dreikommaviernull und jene mit einem guten Erinnerungsvermögen besinnen sich vielleicht noch an meine warmen Worte zur großartigen "BLACK FIRE! NEW SPIRITS!"-Zusammenstellung aus dem vergangenen Jahr und an den dort erwähnten Namen Tyrone Washington:

Das intensivste Stück von "Black Fire! New Spirits!" ist sicherlich "Universal Spiritual Revolt" von Tyrone Washington. Ein zunächst ausgelassen beginnender funky Jazztune, der urplötzlich in einen wilden Orkan mit Glocken, irrem Gebläse und "Freedom!, Freedom!" Geschrei umschlägt und am Ende wieder beschwingt in das Eingangsthema wechselt, als wäre nichts geschehen. "Universal Spiritual Revolt" hat eine unbändige Kraft, laut abgespielt kann man während dieser neun Minuten kaum stillsitzen. Washington nahm Ende 1967 sogar eine Platte für das Blue Note Label auf ("Natural Essence"), spielte Sessions mit Jackie McLean, Woody Shaw und Herbie Hancock - wenngleich die "Train Wreck Sessions" genannten Aufnahmen mit letztgenanntem nie offiziell veröffentlicht wurden - und verließ nach seiner letzten, 1974 erschienenen Platte "Do Right" und der Konvertierung zum Islam die Musikwelt.

Das erwähnte Blue Note-Album Washingtons "Natural Essence" habe ich mir mittlerweile auf Vinyl gegönnt: eine hochinteressante, weil vordergründig klassische Blue Note-Post Bop Jazzplatte der späten 1960er Jahr, die aber in der detaillierteren Auseinandersetzung mit einem ungewöhnlichen Twist in den Kompositionen überrascht. Von den beiden Nachfolgern "Roots" und "Do Right" ist bislang leider nur erstgenannte als wahrscheinlich unautorisierter Repress auf Vinyl wiederveröffentlicht worden, für den Schlusspunkt "Do Right" muss selbst für die 2006 erstmals erschienene CD schon etwas tiefer in die Tasche gegriffen werden. Für die Original-LP sollte man inklusive der Versandkosten nach Deutschland einen dreistelligen Betrag einplanen. Aber vielleicht kommt auch hier bald das Counterfeit.


In der Zwischenzeit ist nun auch immerhin der Counterfeit von "Roots" bei mir eingetroffen und liegt regelmäßig auf dem Plattenteller. Erschienen 1973 auf Perception Records, einem obskuren und mysteriösen Label, das nur für etwa fünf Jahre bestand und praktisch nichts für die Nachwelt hinterließ. DJ Spinna wird im Zuge seiner Perception-Retrospektive (siehe Mixcloud Link weiter unten) wie folgt zitiert:

“There’s no tapes, no multi-tracks or masters. Everything on the compilation for the most part came off of records, so something happened somewhere."





Washington war schon zu Blue Note Zeiten ein kritischer Geist. In den Liner Notes zu "Natural Essence" ist folgender Abschnitt zu finden, wohlgemerkt aus dem Jahr 1968:

“Man has lost himself in technological and materialistic creation. We can offer music as a new currency in a sense, and if man can dig that, then he might be able to save himself from suicidal mass destruction.”


Die Liner Notes von "Roots" sucht man dagegen vergebens. Stattdessen gibt es nur folgende zwei Sätze zu lesen:

“Liner notes on this album are totally unnecessary. Tyrone Washington is incredible.”


Die letzte bekannte Aufnahme Washington ist auf dem Roswell Rudd Album "Blown Bone" zu hören, aufgenommen im März 1976 und erschienen im gleichen Jahr auf Philips Records. Bob Washington, der in einer Kundenrezension (!) auf der Übersee-Seite von Amazon (!!) angibt, Tyrones Bruder zu sein, sagt, dass der Tenorsaxofonist mit den großen Karrierechancen sich 1976 komplett aus der Musikszene zurückzog und seinen Namen in Bialar Mohammed änderte, um seitdem seine religiösen Überzeugungen in Newark, New Jersey zu verbreiten. Weiterführende Informationen zu seinem Verbleib sind rar, um nicht zu sagen: nicht existent.

"Roots" ist auf mehreren Ebenen ein überaus interessantes, zwischen Post Bop, zarten Free Jazz Ausläufern im möglicherweise prophetischen Abräumer "1980",  Frühsiebziger-Soul und unausgesprochenen politischen Statements hin und her pendelndes Album. Der Einstieg mit der Coverversion von Stevie Wonders "You Are The Sunshine Of My Life" gerät noch beschwingt. Aber der Schein trügt, denn schon mit dem folgenden "Spiritual Light of the Universe" segelt das Quartett mit dem Bassisten Stafford James, Schlagzeuger Clifford Barconadhii und Pianist Hubert Eaves in abseitigeren Gewässern: melodisch abgedunkelt und ein verzwicktes und ungewöhnliches Arrangement, das schon nach fünf Minuten den Kreis wieder schließt und zum Ende kommt. 

Das vielleicht bekannteste Stück Washingtons ist "Submission". Der die A-Seite von "Roots" abschließende Tune wurde mehrfach von Hip Hop Acts gesampelt, unter anderen von Ikone Madlib - damals noch unter seinem Alter Ego Quasimoto - im Jahr 2000 für sein "Return of the Loop Digga" oder auch von A Tribe Called Quest für "Can I Kick It? (Spirit Mix)".




Wer also in die Arbeiten einer der mysteriösesten Musiker der 1960er und 1970er Jahre hineinschnuppern will - ein musikalisch hochinteressantes, nach dem Aufkauf von Liberty entstandenes Blue Note Album mit gleichfalls attraktiver Besetzung ("Natural Essence"), ein vergessenes Album auf einem obskuren Jazz/Rock-Label von 1973 ("Roots") und ein letztes Werk mit künstlerischem Befreiungsschlag ("Do Right") sowie dem selbst gewählten Abtauchen ins religiöse Nirwana - ist mit Tyrone Washington bestens bedient. 




Und hier die "Natural Essence"-LP in voller Länge:




Erschienen auf Perception Records, 1973.


04.06.2016

Alte Liebe




MINUS THE BEAR - LOST LOVES


"Der Buchhalter des Rock'n'Roll" (Frau Dreikommaviernull über Herrn Dreikommaviernull) schlägt wieder zu: Meine weltbesten Weltbestleser haben in den Texten des vor zwei Monate abgeschlossenen "Top 20 2015"-Countdowns möglicherweise entziffert, dass der Radio/Scrobble/Musikentdeckungsdienst Last.Fm im Rahmen des letztjährig durchgeführten Relaunches neue Statistiken einführte; so zum Beispiel die Darstellung über die meistgehörten Alben. Über die Top 4 dieser Liste habe ich bereits geschrieben: Oddisees "The Good Fight", Lee Reeds "The Butcher, The Banker, The Bitumen Tanker", George Fitzgeralds "Fading Love" und "Stillpoint" von Purl, allesamt Alben aus dem Jahr 2015. 

Über den fünften Platz der Last.Fm-Liste habe ich noch nicht geschrieben, und ich verdanke es letzten Endes Herrn K. aus S., dass ich die dazu passende Platte überhaupt hörte. Und deren fünfter Platz kommt auch nicht von ungefähr. 

Minus The Bear sind ein Phänomen. Seit 2005 gehört die Truppe aus Seattle zu den wichtigsten Bands in meinem Leben. "Menos El Oso" (2005) und "Omni" (2012) kann ich praktisch auswendig mitsingen, und ich halte auch gerne und außerdem mühelos jeder Diskussion stand, die Band habe noch kein auch nur durchschnittliches Album veröffentlicht, wenn man vielleicht von den ersten noch etwas unausgegorenen EPs "This Is What I Know About Being Gigantic" und "Bands Like It When You Yell "Yar!"" absieht. Aber das waren ja auch keine Alben. Wink-Wink. 

Trotzdem, oder besser: ganz besonders deswegen schrecke ich oft zurück, wenn die Truppe eine neue Platte ankündigt, wofür ich oft nur großes Unverständnis ernte. Dabei ist die Erklärung dafür vielleicht gar nicht so schwer. Ich habe die Hosen voll. Ich will einfach nicht enttäuscht werden. Ich will, dass ich mir auch in 30 Jahren beim Anhören des dann 127. Minus The Bear-Albums noch denke, dass das manchmal, in gewissen Lebenssituationen und auch darüber hinaus, die beste Musik der Welt ist, erdacht und gespielt von der vielleicht besten Band der Welt. Und ich weiß, dass das praktisch unmöglich ist, zumal das Quintett regelmäßig seinen Sound weiterentwickelt, oft nur in Nuancen, aber das ist immer noch viel mehr als der Mut, den die übliche Indie-Konkurrenz aufzubringen vermag. Irgendwann wird es also soweit sein. Irgendwann werde ich eine ihrer Platten hören und werde enttäuscht sein. Die logische Folge: Von "Lost Loves" wollte ich zunächst auch nicht viel wissen, und erst als der Ploetzenhengst mit eifriger Vehemenz und einem Funkgurken-Dauerfeuer wieder und wieder von dieser Platte schwärmte, knickte ich ein. Glücklicherweise.

"Lost Loves" ist eine Zusammenstellung aus Songs, die in den Sessions für die vorangegangenen drei Studioalben entstanden, also für "Planet Of Ice", "Omni" und "Infinity Overhead", aber es nicht auf das jeweilige Werk schafften. Das klingt zunächst unspektakulär nach öder, beinahe ärgerlicher Resteverwertung, denn wer will schon den Krempel hören, der aus einem meist sehr validen Punkt nicht für das finale Album berücksichtigt wurde? Bei näherem Hinsehen relativiert sich jedoch die Sachlage: In den Liner Notes schreibt die Band, dass es in den Auswahlprozessen für ihre Alben in erster Linie um die Frage ging, wie sich die Songs in das jeweilige Albumkonzept einpassten. Und was sich, aus welchen Gründen auch immer - sei es Sound, Arrangement oder Text - nicht richtig anfühlte, wurde auf die Wartebank ge- und verschoben. 

Die Band verweist in diesem Zusammenhang freilich darauf, dass es sich bei den hier vertretenen Tracks mitnichten um B-Ware handelt - was ich mit hochoffizieller Freude bestätigen kann, denn "Lost Loves" ist erneut ein fantastisches Album geworden. Außerdem hat es ein eingebautes Quiz: einfach die Songs anhören und raten, für welche Platte sie ursprünglich geplant waren. 

Meine Erfolgsquote ist übrigens ganz gut.





Erschienen auf Dangerbird Records, 2014. 



28.05.2016

Los Niños Del Sol




BRAZZAVILLE - THE OCEANS OF GANYMEDE


Liebe auf das erste Ohr war es beileibe nicht, als ich vor zehn Jahren erstmals Bande mit Brazzaville knüpfte. Mittlerweile ist das betreffende Album von damals - "East L.A. Breeze" - in meiner Gunst durchaus signifikant gestiegen, einige Songs wie "Peach Tree" oder ganz besonders "1983" tauchen auch immer wieder auf meinen selbstgestrickten Samplern auf. Ja, sowas mach' ich immer noch. Alte Schule. Fuck you, Spotify! 

Trotzdem verliere ich die Band um David Arthur Brown in all dem Trubel zwischen Businesstrottelei, Ernährungsgestolper und Katzentoilettenbaden dummerweise öfter aus den Augen als mir lieb ist. Auf das neue Album "The Oceans Of Ganymede" stieß ich praktisch nur aus Zufall, und es brauchte weniger als eine halbe Minute aus "Happy Man", um frenetisch mit meinen Geldscheinen zu wedeln. 

And I love you
I don't care 'bout the cruel things you do
Take my heart
Crush it in your hands
'cause with you I'll always be a happy man


Brown ist ein Weltenbummler, der sich nach einigen vom Heroin vernebelten Jahren auf den Straßen von Los Angeles zum Ende der 1970er mittlerweile in Barcelona niedergelassen hat, und es gibt keine Note auf dieser Platte, die seine Erlebnisse, sein Leben und seinen Spirit nicht in sich trägt. Es gibt auch keine Note auf dieser Platte, die nicht den Geist Barcelonas zwischen urbaner Freiheit, Ausgelassenheit und Melancholie mit dem bittersüßen Fotofilter aus dem Sommer 1976 einfängt. Es gibt keine Note auf dieser Platte, die ohne herzergreifende Wärme, Liebe und Hingabe gespielt ist, keine Note, der nicht die Sehnsucht nach Frieden und Schönheit innewohnt. 

Alles ganz schön pathetischer Mist? Zu dick aufgetragen? Ich soll mal wieder runterkommen? Urlaub machen?


Brown schrub in seinem Band-Manifest:

Brazzaville is dedicated to the naïve idea that the world is a beautiful place filled with wonder. We believe that there is another reality, just below the surface of our waking world, in which all is well. This is the true reality for us. We are committed to becoming less afraid of the world around us by helping others whenever possible. We love playing music and we dream of having a ship that runs on waste oil so that we may travel the seven seas making new friends and eating salted cod and mangosteen.

"The Oceans Of Ganymede" klingt genau so. 

Weltumarmende Intimität. So ehrlich und aufrichtig wie es nur irgend möglich ist. Das kann man unmöglich, ich wiederhole: unmöglich nicht lieben. 




Erschienen im Eigenvertrieb Brazzaville, 2016.

26.05.2016

INC No World - The Wheel



Vor über zwei Jahren schrub ich über "No World" des Duos INC, es sei 

"eine Art blauer Cremigkeit, eine zärtliche und unprätentiöse Musik ohne Rockstargestus, ohne jedes Klischee, mystisch, esoterisch. Mit den in sich verlaufenden, übereinandergelegten Layern ihrer komplexen Arrangements und mit dem Entzug von allem Stofflichen ist "No World" die Ambient-Version des Soul. Eine einzigartige Musik."

Außerdem phantasierte ich damals über ganze zwei Absätze über die mutmaßlichen Guten Morgen-Rituale eines gewissen Prince Rogers Nelson und dessen Kuttelmüsli, das die Backen straff hält - aus heutiger Sicht wirkt das besonders vor dem überraschenden und immer noch bestürzenden Tod von Prince eventuell etwas verstörend, zumal sich der direkte Zusammenhang mit "No World" nicht jedem auf das erste Hören erschloss, aber für mich ist das Debut der beiden Brüder Andrew und Daniel Aged auch heute noch eine eingedampfte, heruntergedimmte, tranceartige Version des Purple One. 

An anderer Stelle äußerte ich darüber hinaus die Vermutung, "No World" könnte in zwanzig Jahren als vergessenes Juwel der 2010er Jahre gelten und im aktualisierten Kanon jener Alben geführt werden, die man besser gehört haben sollte, bevor Gevatter Tod an die eigene Tür klopft - das ist weniger verstörend, als immer noch sehr wahr und es verwundert deswegen irgendwie nur ein bisschen, dass es danach sehr ruhig um das Brüderpaar wurde - ein Hype sieht ganz bestimmt anders aus.

Vor wenigen Tagen veröffentlichten die beiden unter dem halbneuen und erweiterten Namen INC No World den neuen Song "The Wheel", einen sechsminütigen und auf Hawaii produzierten, typisch perlenden Magic Mushroom-Eintopf aus einer heißen Nacht am Strand, bunt flackernden Farben und subtiler Sexyness. Ich will unbedingt ein neues Album. Und bitte schnell, der Sommer ist hier Mitte August schon wieder vorbei. 





20.05.2016

Forever Hatröss



VOIVOD - POST SOCIETY


Früher undenkbar, heute Realität: neue Musik des kanadischen Quartetts ist nicht mehr die Nummer 1 auf meinem musikalischen Merkzettel. Seit der Veröffentlichung ihres Albums "Voivod" im Jahr 2003 hat mich keines der nachfolgenden Werke mehr nachhaltig begeistern können - in voller Anerkennung schwerwiegender Begleitumstände wie beispielsweise der Tod von Gitarrist Piggy. Die Luft ist zumindest auf der Mehrheit der Alben aus den letzten Jahren hörbar raus, auch wenn die letzte LP "Target Earth" aus dem Jahr 2013 immerhin ein Schritt in die wenigstens für mich richtige Richtung war: weniger Rock'n'Roll, mehr Science Fiction Metal. Und ich muss und kann damit leben, dass die Band stilistisch nicht mehr lichterloh brennt und Experimente der Vergangenheit angehören.

"Post Society" mit seinen vier neuen Songs und einer grässlichen Coverversion von Hawkwinds "Silver Machine" stellt mich vor das ein oder andere Rätsel. Einerseits hat der erstmals mit dem neuen Bassisten Rocky agierende Vierer im direkten Vergeich mit "Target Earth" ein paar Briketts nachgelegt und liefert zumindest bei drei neuen Kompositionen harten und typisch verdrehten Voivod-Metal ab, dessen nicht besonders einprägsame Arrangements ich mir härter erarbeiten musste als noch zuletzt. Das macht auch nach zehn Durchläufen immer noch Spaß - dass vor allem Gitarrist Chewy im teils erfreulich punkigen Titeltrack alle Register zieht und mit abgefahrenen Breaks glänzt, freut mich als Fan vertrackter Gitarrenarbeit gleich doppelt. Gleichfalls herausragend: der Chorus von "Forever Mountain" mit einer echten Hookline, sowie der Mittelteil von "We Are Connected", der mich zunächst sehnsüchtig an die für mich beste Voivod-Phase mit Sänger/Bassist E-Force, ihr zweifellos bestes Album "Phobos" und anschließend nahezu unvermeidbar an Pink Floyd denken lässt. 

Andererseits wirkt ein Song wie "Fall" seltsam lahm und unfertig, und ich kann auch nicht sagen, dass die Band an anderen Stellen durchgängig von der Muße geknutscht wurde: immer wieder gibt es Riffs oder einzelne Songpassagen, über deren Motivation ich mir nicht vollständig im Klaren bin. Als ich kürzlich die Autoanlage auf 180dB drehte und mich durch die vier Eigenkompositionen kämpfte, musste ich die Platte gar schon vor dem Einstieg in "Silver Machine" ausmachen, weil die Buben mir so hart auf den Zeiger gingen. Da wirkte nichts stimmig, sondern viel mehr hilflos aneinandergeklatscht - was hier übertrieben und kokett ist, erscheint an anderer Stelle müde und ziellos. In Interviews zur EP macht die Band indes deutlich, die Songs seien eine Art Schnellschuss und zwischen Tourbus und Bühne flott aufgenommen. Was immerhin einiges erklärt.

Der erneute Durchlauf auf der heimischen Couch versöhnte mich dann wieder ein bisschen, wie mir die im Takt mitschwingende und in die Luft gereckte Faust verriet. "Post Society" präsentiert in guten Momenten das beste Voivod-Material seit 13 Jahren. Ein Album in der Qualität des Titeltracks, "Forever Mountain" und "We Are Connected" würde ich wohl nochmal nehmen. Ganz ehrlich.





Erschienen auf Century Media, 2016.



16.05.2016

Unter dem Radar




FLORIAN PELLISSIER QUINTET - CAP DE BONNE ESPERANCE


Ein Werk der leisen Töne, und doch kein Balladenalbum. Meist dezenter, immer deeper und manchmal wachsweicher Jazz, strukturiert, groovebetont. Eine Melange aus einem brodelnden New Yorker Jazzclub der etwas späteren 1960er Jahre, in dem am frühen Morgen die Hausband in sich versunken einen dichten und kompakten Klangteppich knüpft, und dem reinen, aufgeräumten Jazz aus Europa, der wenigstens in meiner Wahrnehmung selbst in seinen freien Ausbrüchen immer von einem unsichtbaren Band im Zaun gehalten zu werden schien. Weil wir Europäer eben alle einen Baumstamm schräg im "Arsch" (Helmut "Menthol" Schmidt, 1977) haben und das alles so schrecklich ernst nehmen. Die "Amis" (Helmut "Grande Dame" Schmidt, 1979) sind die da ganz anders drauf, die wählen sich gerade mit Spaß inne Backen einen rassistischen Scheißdreck zusammen. Lachend in die Kreissäge. Europa lässt derweile Menschen ertrinken und verzieht dabei keine Miene - bis auf die moralisch verwertbaren Sorgenfalten, und selbst die können dank entsprechender Müllverordnung ins Altpapier. Starr und steif wie der tote Schmidt, der Helmut, der Kohl (bald).

Ich sprach in einem früheren Text über "The Catastrophist" vom meistgehörten Tortoise-Album, "Cap De Bonne Esperance" ist sicherlich eines der insgesamt meistgehörten Alben des Jahres 2016. Vor allem zur späten Stunde entfalten die Kompositionen des französischen Pianisten ihre warm glühende Intimität, wenn das Licht gedimmt, der Rotwein dekantiert die Kerze entzündet ist und die Seele den Alltagsschrott mit einer Planierraupe niederwalzt. Set & Setting, das wusste schon Timothy Leary, ist eben einfach nicht nur nicht zu unterschätzen, das Prinzip ist essentiell. Man vergisst das heute so leicht, Hektik, Hektik, busy, busy, busy. Und wo ist das Leben? Und wo ist eigentlich Timothy Leary? Und warum spricht man heute nicht mehr von ihm? Jedenfalls: das ist kein Mainstream. Der Mainstream würde über zerfaserte, in vollem Bewusstsein suchende Kompositionen wie "La Foret Des Biches Bleues", das sich die ersten Minuten durch ein Gestrüpp aus Bass und Bass durchzuzelt oder "Comete" die Wichsgriffel übereinander schlagen. Und doch ist der Weg zur Wahrheit ein schmaler, um nicht zu sagen: ein subtiler. Vor allem die zweite Albumhälfte ist offener, leuchtet eher die avantgardistische Seite eines Grachan Moncur III aus als die Till Brönner'sche "Die Message ist Zimtplätzchen mit heißer Milch, Alder!"-Aura, bevor der Klassiker "What A Difference A Day Makes" mit Leron Thomas am Stimmband das Cabriodach der Familienkutsche öffnet und als versöhnlicher Abschluss des Feiertagpicknicks mit Biokartoffeln (Ägypten) und Räuchersprossen herhalten muss. Ob sowas sein muss - darüber lässt sich, ganz besonders fünf Jahre nach EHEC, streiten. 

"Cap De Bonne Esperance" erscheint übrigens beim Pariser Label Heavenly Sweetness, das in den vergangenen Jahren nicht nur mit herrlichen Vinyl-Reissues vergessener Blue Note Alben wie eben Grachan Moncurs "Some Other Stuff" oder "Portrait Of Sheila" von Sheila Jordan von sich Reden machte, sondern auch mit wunderbar designten Vinylen von Blundetto oder Guts sehr positiv auffiel. Was indes wirklich sackdoof ist: die Damen und Herren halten von Downloadcodes offensichtlich nicht ganz so viel. Was nicht erst im Jahr 2016, sondern schon ganz, ganz viel länger, beziehungsweise früher, ganz ehrlich: granatenbescheuert ist. Quelle honte! 

Ach so, hier, wichtig: geile Platte. Kaufen. 




Erschienen auf Heavenly Sweetness, 2016.

11.05.2016

Sonnenblinzler




SPAIN - CAROLINA


Es wäre vermutlich etwas arg kühn, zählte ich Spain tatsächlich zu meinen Lieblingsbands - aber ich bin nicht nur immer ganz Ohr, wenn ein neues Album vor der Tür steht, ich freue mich auch immer darauf. So ganz ehrlich, wirklich und tatsächlich. Das sollte eigentlich für eine Qualifikation in die Hall Of Fame reichen, möchte ich meinen. Ihre einzigartige Soundmixtur aus, Achtung, neues Genre: Sonntagsschwackelslowmo und, Achtung, noch ein neues Genre: Indie Folk Doom zieht mich immer wieder zu ihren Platten wie die Motten zum Licht. "Careful, Icarus!" (Geoff Peterson) 

Und es ist wieder mal soweit, aus purer Freude den Sack voller Schrauben aka meinen Körper in ein bebendes, äh, Beben zu versetzen. Anfang Juni, zur allerbesten Sommerzeit, erscheint mit "Carolina" das siebte Studioalbum der Band um Josh Haden. Es ist damit das erste Werk nach dem Tod dessen Vaters Charlie Haden im Jahr 2014 und seit dem 2014 erschienenen "Sargent Place". 

Ganz offensichtlich habe ich eine große Schwäche für diese süße Schwermut in ihren Songs, das Wechselspiel aus Leichtfüßigkeit und Introvertiertheit das sich nie ganz voneinander trennen lässt. 

Hier ein Vorgeschmack auf das, was zumindest meine Sommerabende auf der Terrasse versüßen wird. Mit viel Liebe gespielt und wie gewohnt subtil inszeniert: "Station 2" aus dem neuen Album "Carolina".






Erscheint auf Glitterhouse Records, 2016.

08.05.2016

Elaenia



FLOATING POINTS - ELAENIA


Fuck, die ging mir durch die Lappen. Nicht, dass es im Jahr 2015 noch mehr herausragende Musik hätte geben müssen, ich wurde schließlich bestens bedient und mit Klangdukaten aus reinem Gold zugeschissen. Aber "Elaenia", Mann. "ELAENIA"!

Sam Shepherd aka Floating Points hätte ich doch eigentlich auf dem Radar haben müssen. Auf seinem Eglo Label veröffentlichte Shepherd das hier geadelte Debut "Yellow Memories" der britischen Sängerin Fatima und seine zahlreichen EPs und Singles waren mir wenigstens zum Teil ein Begriff. 

"Elaenia" ist nun sein erstes Album, erschienen im November 2015. Ein Amalgam aus Jazz, Ambient, Klassik und elektronischen Sounds der Berliner Schule, ätherisch wie die späten Talk Talk, diffus wie eine Nebelbank im November in Manchester, opulent und mehrdimensional wie ein Fresko von Giovanni Battista Tiepolo, strahlend wie tausend explodierende Sonnen. Fender Rhodes, Geklingel, Geklangel, Geklungel, dazu ein zumindest auf drei Songs aufspielendes echtes Musikerkollektiv mit Bassisten, Cellisten, Schlagzeugern, Chören, Violinisten aus Fleisch und Blut, das beim abschließenden Getöse von "Peroration Six" das Ensemble gar in Richtung Free Jazz führt. 

Davor gibt es Experimente und Lektionen in Klang und dessen -Design, in der Darstellung von Ebenen, Fluchtpunkten und Dimensionen und einem geradezu manisch anmutenden Hang zur perfekten Detaillierung. Ganz besonders deutlich wird das in den den sehr leisen, beinahe nicht mal wahrnehmbaren Momenten dieser Platte, wie beispielsweise im atemberaubenden Titelsong, zu dem nur ein Stück Holz mit der Empathie eines Gullideckels mit den Schultern zucken würde.

Ich darf an dieser Stelle ausdrücklich die Vinylversion von "Elaenia" empfehlen, die mit extraguter Pressung, extragutem Sound und geschmackvollen Design glänzt. 

Eigentlich schon jetzt ein Klassiker. 


Das hier ist die für das Video stark editierte Version von "Silhouettes":





Und dies ist die ungekürzte Fassung:



Erschienen auf Eglo Records, 2015.


03.05.2016

Let's Do This!




TORTOISE - THE CATASTROPHIST


Die Postrocklegende aus Chicago hat es weit gebracht. Was bis zum 2004er Album "It's All Around You" in erster Linie nur den Underground interessierte, ist spätestens seit ihrem letzten Album "Beacons Of Ancestorship" aus dem Jahr 2009 auch im hiesigen Feuilleton angekommen, das bei einem Lebenszeichen aufmerksam wird und die spitzen Finger für allerhand schlaue und bekloppte Texte spreizt, die alle das Ziel zu haben scheinen, mindestens genauso verkopft zu sein wie die Musik der Band; unvergessen etwa der üble Verriss aus der Süddeutschen, den die beliebte Qualitätszeitung aus München zwischenzeitlich offenbar aus ihrem Netzrepertoire entfernt hat. Springers anerkanntes Idiotenfachblatt "Die Welt" stammelte 2009 hingegen mit verschwurbeltem Musikkritikerquatschdeutsch durch die letzten viereinhalb überlebenden Hirnzellen der Leserschaft, die die Texte von Ulf Poschardt überlebt haben:

"Mal imitiert der Sampler eine springende Schallplatte. Mal wirkt ein Stück allein durch umständliche Titel wie "Yinxianghechengqi". Über weite Strecken fehlen heute die verblüffenden Melodien, und wo früher Stille herrschte, hört man heute magenkrankes Blubbern."

- wovon mein Magen auch ein paar Geschichten erzählen kann, vor allem nach dem Lesen solcher Texte. 

Die Zeiten haben sich in den letzten sieben Jahren geändert - heute liest man auch aus den deutschen Redaktionsstuben fast nur Wohlwollendes über "The Catastrophist"; Tortoise sind nunmehr die gesetzten Intellektuellen, künstlerisch anspruchsvoll, schwer zu durchschauen, unvorhersehbar. Und weil ich nicht immer nur schimpfen kann, sage ich: das ist richtig.

"The Catastrophist" ist schon heute, zwei Monate nach der Veröffentlichung, eine meiner meistgehörten Tortoise-Platten - und das sage ich im Angesicht meiner damaligen Sucht nach "TNT", "Standards" und vor allem "It's All Around You". Das Quintett, das seinen Sound über die Jahre hinweg immer wieder subtil veränderte und mit einem ganzen Sack voll unterschiedlicher Einflüsse, vom Krautrock über Jazz und Pop bis zum Noise, experimentierte, geht auf seinem siebten Studioalbum in der Gesamtanlage etwas gebremster und übersichtlicher zu Werke und ist dabei konsequenterweise stilistisch so kohärent wie vielleicht noch niemals zuvor. Etwas despiktierlich fielen mir möglicherweise "versöhnlich" und "Alterswerk" als beschreibende Attribute ein, aber das geht in die falsche Richtung: Tortoise sind alles andere als kreativ müde - und dafür muss ich nicht mal exklusiv die beiden Gesangspremieren auf einem ihrer Alben herausstellen: "Rock On", ein wunderbar ironisches und heruntergekommenes Cover des alten Hits von David Essex, herausragend interpretiert von Todd Rittman (U.S. Maple) und der Einsatz von Yo La Tengos Georgia Hubley auf "Yonder Blue", der erstmals einen Hauch von laszivem Sex auf einem Tortoise-Album platziert, setzen markante Duftmarken auf "The Catastrophist". Trotzdem drängen sich diese beiden Revolutionen nicht in den Vordergrund, um das restliche Material auf ihren Schultern tragen zu müssen. Tortoise wissen nicht erst seit gestern, was sie tun (und tun müssen). Von spannungsgeladenen Arrangements wie in "Shake Hands With Danger" bis zum vordergründigen Hängemattengedudel in "Hot Coffee", einem Überbleibsel aus den "It's All Around You"-Sessions, und dem luftigen, leicht an The Sea And Cake erinnernden Wolkenschmeichler "Tesseract", habe ich hier nur gute Gefühle, Spaß und Inspiration. 

"The Catatrophist" marschiert gerade mit ziemlich großen Schritten in Richtung Jahres Top-Ten. 





Erschienen auf Thrill Jockey, 2016.

28.04.2016

Driftwood




Hey, der November ist zurück. Mit etwas mehr Farbe an Baum, Busch und Rasen, zugegeben, aber die wärmenden Sonnenstrahlen von vergangener Woche sind nur noch müde Erinnerung. Es ist wieder arschkalt. Und ich habe mich von den Sonnentagen sauber verwirren lassen: die morgendliche Modeauswahl mit mintgrünem Hipsterschal, einem leichtem Leinensakko und Kurzarmhemd sind jetzt für den Popo, die sorgfältig zusammengestellte Parfumkollektion für den Frühling wandert zumindest vorübergehend wieder in den in einer abgedunkelten Ecke meiner 3,40qm stehenden Humidor (wegen der Duftmoleküle!) und wird mit den trübdiesigen Herbstdüften ausgetauscht, und auch die beschwingte Locker-Wie-Ein-Himbeer-Haferflocken-Brennessel-Smoothie-Musikauswahl, die mir in den letzten Jahren zur liebgewonnenen Tradition wurde und mich also jedes Mal aufs Neue in die scheue Frühlingssonne begleitete, um dem ollen Dreckspenner Winter mal zu zeigen, dass man auch als alternder und mürrischer Misanthrop noch sowas wie Lebensfreude, Leidenschaft und Begeisterung spüren kann, wenn die Quecksilbersäule die +15°C-Marke übersprungen hat, erscheint bei sagenhaften drei Grad plus, Starkregen und Noch-Stärker-Wind plötzlich schrecklich unangemessen.

Aber er kommt, der Frühling - und wenn's September wird: auch gut!!einself! Und zur Vorbereitung auf das, was da so kommen mag - also Sonnenbrand, Mückenstiche und halbnackte, tätowierte und schwitzende Stiernacken vor der nächsten in einer unschuldigen Fußgängerzone aufgestellten Latrine aus dem Hause Hollister - tut's auch ein frischer Winterabend im Beinahe-Mai. 

Vor vier Jahren hat DJ Eric Cloutier einen Mix seiner 12"-Sammlung des mittlerweile nicht mehr existierenden Labels Driftwood via Soundcloud veröffentlicht, im Jahr 2016 hat Placid_88 aka Paul Wise aus Bristol nachgelegt. Driftwood brachte zwischen 2000 und 2002 lediglich zehn 12"-Inches heraus, die mittlerweile nicht nur im Klassikerkanon des Deep und Tech House auf ewig festbetoniert sind und von einer eingeschworenen Fangemeinde geradezu kultisch verehrt werden, sondern deren physische Kopien darüber hinaus für schwindelerregend hohe Geldbeträge den Besitzer wechseln. Die normale Version eines solchen Exemplars, also ohne das Testpressungs- und Whitelabel-Promo-Klimbim, gibt es kaum für unter 75 Euro, während nach oben nur the sky the limit ist. Und auch wenn es nur zehn Releases sind: das läppert sich. 

Der Mix von Placid lief folgerichtig letzte Woche bei 20°C, Acqua di Parmas "Colonia" und mit, äh, mitgrünem Hipsterschal auf Endlosschleife, auch und ganz besonders deswegen, weil ich gerade keinen Tausender übrig habe, um Discogs leer zu kaufen. In erster Linie aber, und das ist der springende Punkt: man kann schon verstehen, warum sich sowohl das tanzende Volk als auch die urbanen, vor sich hin dampfenden Intellektuellen darauf verständigt haben, Driftwood als eines der größten, besten, tollsten Labels der Szene zu adeln. 

Wenn man es mal gehört hat.

Könnt ihr jetzt auch. 

Hören. Und Downloaden kann man es auch noch. 

Enjoy. 




23.04.2016

Phoenix aus dem Aschenbecher



FATES WARNING - DARKNESS IN A DIFFERENT LIGHT


Die wahren, echten, treuen Metaller müssen jetzt sehr stark sein: für mich beginnt die große Zeit der US-amerikanischen Progressive Metal Band Fates Warning mit ihrem Album "Parallels" aus dem Jahr 1991 und endet mit dem 1997 veröffentlichten "A Pleasant Shade Of Grey" - das zwischen diesen beiden Scheiben liegende "Inside Out" ist sogar mein persönlicher Favorit, nicht zuletzt wegen immer noch vorhandener und positiver Erinnerungen an den Sommer des Jahres 1994, der mir von Vicious Rumors' "Word Of Mouth", Tiamats "Wildhoney" und eben "Inside Out" versüßt wurde. Und da weint er, der Kuttenmann: die Frühphase der Kapelle mit den Alben "The Spectre Within" und "Awaken The Guardian" und mit dem immer noch kultisch gefeierten Sänger John Arch hat mich einfach nie gepackt, ich kann's nicht ändern. Und wo wir schon bei den großen Beichten des Stahls sind: ich habe auch Mercyful Fate nie gerafft. So, jetzt ist's raus.  

Mit dem Verständnis der Fates Warning-Werke nach 1997 hat es hingegen nicht gehapert, eher ist das Gegenteil der Fall: sowohl "Disconnected" als auch "FWX" sind keine besonders herausfordernden Alben. Komponist und Gitarrist Jim Matheos hat viel mehr die mit "A Pleasant Shade Of Grey" begonnene Generalüberholung des Bandsounds, also weg vom transparenten, melodischen und nicht zu technischen Progressive Metal zu einem melancholischen, dunklen und ganz besonders hinsichtlich des Riffings sich zaghaft in Alternative Rock-Bereiche der etwas früheren neunziger Jahre vorwagenden Metal-Entwurf auf den beiden Nachfolgern weiter entwickelt. Veränderungen finden nur noch in Nuancen statt, und auch wenn Fates Warning dank dieser 1997 eingeleiteten und doch sehr deutlichen Zäsur ein gutes Stück Einzigartigkeit hinzugewonnen haben, sorgt eben auch die beste Story spätestens bei der zweiten Wiederholung nicht mehr für Begeisterungsstürme. Vor allem Matheos' tiefergelegte und repetitive Gitarrenarbeit, die die ihr innewohnende tonale Beschränkung zum Stilmittel erhebt, ist mittlerweile der größte Stolperstein der Band. Knapp dahinter: es ist erschütternd, wie sehr dieser Band ihr langjähriger Drummer Mark Zonder und dessen federndes, mehrdimensionales Spiel fehlt. Sein Nachfolger Bobby Jarzombek klingt im direkten Vergleich wie ein auf dem Boden zementierter Amboss. Und natürlich stellt das etwas mit Matheos' Kompositionen an: sie werden unbeweglicher und ausdrucksloser. 

Auch "Darkness In A Different Light" führt die Linie der drei Vorgänger fort: die Zeit der stilistischen Experimente ist offenbar endgültig vorbei. Was indes gelungen ist: die Songs sind ein Spürchen offener angelegt und damit weniger klaustrophobisch als auf den beiden Vorgängern. Am stärksten sind Fates Warning mittlerweile dann, wenn sie ihrem Händchen für große melancholische Momente und Melodien freien Lauf lassen und nicht auf Biegen und Brechen versuchen, "Metal" zu sein - das Eröffnungsriff des Openers "One Thousand Fires" ist beispielsweise in seiner bemühten Anbiederung wirklich ärgerlich, dasselbe ließe sich für einige Momente im 14-Minuten-Opus "And Yet It Moves" oder dem zugänglichen "Desire" sagen. Größter Nachteil am Festhalten der breitbeinigen Metal-Verbeugung ist die Tatsache, wie verschenkt der großartige Ray Alder in diesen Momenten ist. Alder ist aufgrund seiner Arbeiten in den letzten 25 Jahren für mich einer der zehn besten Sänger der kompletten Szene, und es gibt auch auf "Darkness In A Different Light" Gesangslinien, die in Verbindung mit den Texten eine intellektuelle Tiefe erreichen, die ich schon sehr lange nicht mehr auf einem Metalalbum gehört habe. Ich bin beinahe geneigt festzustellen, dass ihm, nachdem es plötzlich auch im Heavy Metal en vogue geworden ist, auf gute Sänger mit ausdrucksstarken Stimmen keinen gesteigerten Wert mehr zu legen, in kreativer und emotionaler Hinsicht praktisch niemand mehr das Wasser reichen kann - auf der Bühne sieht das bisweilen wegen seines Tabakkonsums etwas anders aus, und der Mann wird schließlich auch nicht jünger. Dennoch: eine Platte mit seiner Beteiligung sollte immer gehört werden. Heute mehr denn je, und sei es nur, damit man sich daran erinnert, wie wichtig, toll und fantastisch eine großartige Stimme auf einer Heavy Metal Platte klingen kann. Er ist der eigentliche Grund, warum ich hier einerseits überhaupt über Fates Warning schreibe und andererseits trotz all ihrer Unzulänglichkeiten immer wieder diese Platte hören will.  

Höhepunkte auf "Darkness In A Different Light" sind dann auch folgerichtig die eingängigen, gräulich schimmernden Juwelen mit dezenter Mainstreamattacke: die Single "Firefly" steht in der Tradition des kleinen 1991er Überraschungserfolgs "Eye To Eye", ebenfalls hörenswert ist die eindeutige Verbeugung vor Psychotic Waltz "Into The Black" und das unter Beteiligung von von ex-Dream Theater-Keyboarder Kevin Moore komponierte "O Chloroform". Auch der bereits erwähnte Rausschmeißer "And Yet It Moves" kann über weite Strecke überzeugen. 

Es gibt ehrlicherweise nicht allzu viele Platten, die ich auch nach knapp drei Jahren immer noch regelmäßig aus dem Regal ziehe und auflege - die Anzahl derer, die sich dabei dem Heavy Metal verschrieben haben, tendiert gar praktisch gegen Null. "Darkness In A Different Light" macht etwas mit mir und zieht mich trotz aller geäußerter Kritik immer noch an. 

Und ich will außerdem ein rauchendes Kind von Ray Alder. 





Erschienen auf Inside Out, 2013.

17.04.2016

Dune




DISCOVERER - TUNNELS


Eine kleine Ausgrabung aus meinem Archiv an einem lazy Sunday afternoon with German Gemütlichkeit, Fencheltee mit Honig und Duftkerzen (Amaretto-Kirsch-Schweinebraten) und, ganz wichtig, dem über der Krankencouch schwebenden Binge-Watching Geist von Agent Mulder und Agent Scully aus dem Hause Akte X, und ich hätte mindestens einen Extra-Sprühstoß aus dem Nasenschleimhautabschwellungsspray verwettet, dass ich hier, i.S.v. "hier" schon mal über "Tunnels" ein paar warme Worte zur Huldigung haben fallen lassen, aber: "So kann man sich täuschen" (Gerhard Schröder).

Discoverer ist das Projekt von Brandon Knocke aus dem US-amerikanischen Kansas und die namentliche Nähe zum Raumfahrtprogramm der NASA ist angesichts seines Sounds auf "Tunnels" sicher nur ein kleiner Zufall. "Tunnels" ist futuristischer Synthiepop, gleichzeitig eine Reminiszenz an die Vergangenheit als auch an die Zukunft, die wir uns in der Vergangenheit als Zukunft imaginierten. Skelettös, funky und tanzbar, aber mit mehr als einem Bein im Melancholie-Herbst des Uranus watend, zwischen öder Wüstenlandschaft mit Bayern 3-Telekolleg-Schachbrettästhetik und postmoderner Naivität, die mit einem Lächeln den richtigen Weg versucht zu finden. Das besondere Highlight in diesem Zusammenhang heißt "Personal Clone": Do the robot dance on a cold Wednesday morning. And be sure to wear flowers in your hair. 

Die Herzallerliebste, an besagtem Sonntag ebenfalls im Rotzekoma gefangen, und Herr Dreikommaviernull waren sich einig: das ist eine wirklich schöne Platte - auch und gar in erster Linie deshalb, weil das hier irgendwie nach einer Lebensaufgabe klingt, die nun endlich abgehakt werden kann. Es wurde hart gearbeitet. Herzblut. 





Erschienen auf Digitalis, 2012.