16.05.2016

Unter dem Radar




FLORIAN PELLISSIER QUINTET - CAP DE BONNE ESPERANCE


Ein Werk der leisen Töne, und doch kein Balladenalbum. Meist dezenter, immer deeper und manchmal wachsweicher Jazz, strukturiert, groovebetont. Eine Melange aus einem brodelnden New Yorker Jazzclub der etwas späteren 1960er Jahre, in dem am frühen Morgen die Hausband in sich versunken einen dichten und kompakten Klangteppich knüpft, und dem reinen, aufgeräumten Jazz aus Europa, der wenigstens in meiner Wahrnehmung selbst in seinen freien Ausbrüchen immer von einem unsichtbaren Band im Zaun gehalten zu werden schien. Weil wir Europäer eben alle einen Baumstamm schräg im "Arsch" (Helmut "Menthol" Schmidt, 1977) haben und das alles so schrecklich ernst nehmen. Die "Amis" (Helmut "Grande Dame" Schmidt, 1979) sind die da ganz anders drauf, die wählen sich gerade mit Spaß inne Backen einen rassistischen Scheißdreck zusammen. Lachend in die Kreissäge. Europa lässt derweile Menschen ertrinken und verzieht dabei keine Miene - bis auf die moralisch verwertbaren Sorgenfalten, und selbst die können dank entsprechender Müllverordnung ins Altpapier. Starr und steif wie der tote Schmidt, der Helmut, der Kohl (bald).

Ich sprach in einem früheren Text über "The Catastrophist" vom meistgehörten Tortoise-Album, "Cap De Bonne Esperance" ist sicherlich eines der insgesamt meistgehörten Alben des Jahres 2016. Vor allem zur späten Stunde entfalten die Kompositionen des französischen Pianisten ihre warm glühende Intimität, wenn das Licht gedimmt, der Rotwein dekantiert die Kerze entzündet ist und die Seele den Alltagsschrott mit einer Planierraupe niederwalzt. Set & Setting, das wusste schon Timothy Leary, ist eben einfach nicht nur nicht zu unterschätzen, das Prinzip ist essentiell. Man vergisst das heute so leicht, Hektik, Hektik, busy, busy, busy. Und wo ist das Leben? Und wo ist eigentlich Timothy Leary? Und warum spricht man heute nicht mehr von ihm? Jedenfalls: das ist kein Mainstream. Der Mainstream würde über zerfaserte, in vollem Bewusstsein suchende Kompositionen wie "La Foret Des Biches Bleues", das sich die ersten Minuten durch ein Gestrüpp aus Bass und Bass durchzuzelt oder "Comete" die Wichsgriffel übereinander schlagen. Und doch ist der Weg zur Wahrheit ein schmaler, um nicht zu sagen: ein subtiler. Vor allem die zweite Albumhälfte ist offener, leuchtet eher die avantgardistische Seite eines Grachan Moncur III aus als die Till Brönner'sche "Die Message ist Zimtplätzchen mit heißer Milch, Alder!"-Aura, bevor der Klassiker "What A Difference A Day Makes" mit Leron Thomas am Stimmband das Cabriodach der Familienkutsche öffnet und als versöhnlicher Abschluss des Feiertagpicknicks mit Biokartoffeln (Ägypten) und Räuchersprossen herhalten muss. Ob sowas sein muss - darüber lässt sich, ganz besonders fünf Jahre nach EHEC, streiten. 

"Cap De Bonne Esperance" erscheint übrigens beim Pariser Label Heavenly Sweetness, das in den vergangenen Jahren nicht nur mit herrlichen Vinyl-Reissues vergessener Blue Note Alben wie eben Grachan Moncurs "Some Other Stuff" oder "Portrait Of Sheila" von Sheila Jordan von sich Reden machte, sondern auch mit wunderbar designten Vinylen von Blundetto oder Guts sehr positiv auffiel. Was indes wirklich sackdoof ist: die Damen und Herren halten von Downloadcodes offensichtlich nicht ganz so viel. Was nicht erst im Jahr 2016, sondern schon ganz, ganz viel länger, beziehungsweise früher, ganz ehrlich: granatenbescheuert ist. Quelle honte! 

Ach so, hier, wichtig: geile Platte. Kaufen. 




Erschienen auf Heavenly Sweetness, 2016.

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