26.09.2020

Rehab (4): Holy Terror - El Revengo

 


HOLY TERROR - EL REVENGO


Warum ich einen ganzen Beitrag auf diesem Blog für diese Zusammenstellung verbrate, muss mir auch erstmal noch jemand bei einer guten Tasse Kaffee erklären, aber am Ende verlangt's wieder mal der analfixierte Kollektivist und darüber hinaus: Komplettist in mir, "El Revengo" nicht nur zu kaufen, sondern auch noch darüber zu schreiben. Beides kann man schon mal machen, wenn die akuten Schmetterlinge im Bauch gerade einen liebestollen Tornado entfachen. 

Zumal die Sache komplizierter ist, als es zunächst aussieht, weil die unterschiedlichen Formate von "El Revengo" mit unterschiedlichen Songs und Features bestückt wurden. Wer wie meinereiner mit einem besonders großen Dachschaden durch diese von anderen Besitzern von Dachschäden nicht gerade spärlich besiedelten Welt spaziert und also sein ganzes schönes Geld in den Kauf von noch schöneren Schallplatten steckt, dabei von Labels und Bands gleichermaßen mit limitierten, farbigen und einfach schön gestalteten Exemplaren verarscht geködert wird, wird nach dem Kauf von "El Revengo" zwar eine schöne Doppel-LP mit Klappcover und schick-colorierten Platten in den Händen halten, sich aber beim Blick auf die Tracklist am rammdösigen Rübenfurunkel kratzen: nur die ersten vier der insgesamt 13 Tracks stammen vom Meilenstein "Mind Wars", die übrigen neun wurden vom Debut "Terror & Submission" in einem Block (!) einfach dahinter platziert - und das auch noch in einer im Vergleich zur Originalversion veränderten Songreihenfolge. Auch nach einer sehr ausgiebigen Recherche werden meine Fragezeichen nicht kleiner. Was soll das? Und wer macht denn sowas? Und wer kauft sowas? (<<-- Ich weiß es! Ich weiß es!)

Ein Blick auf die Tracklist der bereits im Jahr 2007 erschienenen CD/DVD-Version von "El Revengo" liefert zwar keine Antworten auf die bestenfalls unglückliche Songauswahl (die ist nämlich für den ersten Teil der CD-Compilation identisch zur Vinylversion), weist aber darüberhinaus noch 14 weitere Tracks aus, die auf einer Audio-CD und in bewegten Bilder gar auf einer DVD verewigt wurden: hier finden sich Live-Mitschnitte von Shows aus Belgien, Italien und den USA aus dem Jahr 1988. Über diese Aufnahmen und Songs wird im nächsten Beitrag noch zu sprechen sein.

Im Webshop des niederländischen Labels Hammerheart Records ist die Vinylfassung von "El Revengo" für schlappe 15.90 Euro zu bekommen und da lasse ich mich nicht zwei Mal bitten - aber wer noch ganz bei Trost ist, fragt sich auch trotz der wirklich schön und hochwertig gestalteten Vinylfassung mit dicker Pappe, Gatefold, Liner Notes und Texten natürlich schon, warum man "El Revengo" im Plattenschrank stehen haben sollte. Für die Musik kommt man als Thrash Metal Aficionado ohnehin nicht um den Kauf der beiden Alben herum. Für eine Best of-Zusammenstellung darf die Songauswahl irgendwo zwischen einem Schlaganfall und Fips Asmussen (abzüglich des "Humors") verortet werden und ist damit völlig indiskutabel. Und für die Livetracks besorgt man sich tatsächlich besser die CD/DVD-Variante - oder wartet noch ein paar Tage ab und bekommt mit meinem nächsten Artikel einen weiteren Grund dafür geliefert, warum sowohl die Musikbranche, als auch -konsumenten sich schnellstmöglich ein paar zärtliche Kopfnüsse von Olli "Abitur" Kahn abholen sollten.
 
Spoiler Alert: weil sie es alle verdient haben. 

Du. Ich. Wir alle. 



Erschienen auf Back In Black, 2007/2017.

19.09.2020

Rehab (3): Holy Terror - Mind Wars

 




HOLY TERROR - MIND WARS


"Mind Wars" ist ein Grund zum Feiern und zum Trauern. Einerseits ist es der kreative Höhepunkt Holy Terrors und vielleicht sogar ebenjener eines ganzen Genres, andererseits ist es auch das letzte Lebenszeichen dieser Band. Ich hätte nur zu gerne gewusst, wie es nach einem solchen Album weitergegangen wäre. Stattdessen beerdigte man die hoffnungsvolle Karriere ein Jahr nach dem Release auch noch ausgerechnet (AUSGERECHNET!!111elfseinsss) in Süddeutschland, bis zum Hals im Sumpf aus Drogen, Suff und Chaos stehend.

Holy Terror haben im Vergleich zum Debut "Terror And Submission" die Regler auf "Mind Wars" noch ein Stückchen mehr in Richtung Wahnsinn gedreht. Die Geschwindigkeit wurde mit Ausnahme des an die NWOBHM erinnernden "This Immoral Wasteland"-Galoppels nochmals angezogen, Sänger Keith Deen lässt nunmehr fast alle Konventionen in Sachen Timing und Satz hinter sich in Flammen aufgehen, die Gitarrenarbeit ist noch präziser, die Melodien sind noch deutlicher herausgearbeitet, die Songs technischer und progressiver. Hinzu kommt eine für meinen Geschmack verbesserte Produktion, die das Album im Vergleich zum Debut insgesamt heavier wirken lässt - vermutlich wird diese Einschätzung nicht von allen Freunden der Band geteilt, aber wenigstens meine klanglichen Vorlieben, (friendly reminder: Dumpf ist Trumpf) werden damit bestens bedient.  

Wer sich von der wilden, ungezähmten Zügellosigkeit dieser Platte ein Bild machen will, hört neben dem fassungslos machenden "Debt Of Pain", für das Gitarrist Kurt Kilfelt seine Komposition "Back To Reign" vom Agent Steel-Debut für die um den geschätzten Faktor 17 erhöhte Geschwindigkeit umarrangierte, sowie gleich die komplette B-Seite. Das verspulte "Damned By Judges", der Panzerknacker "Do Unto Others" und das manische "No Resurrection" geben dem Affen schon ordentlich Zucker, aber sie sind schlussendlich alle doch nur das sich dezent erwärmende Vorspiel zum finalen Abriss: "Christian Resistance" ist eine vier Minuten und 40 Sekunden währende Chaosparty, ein mentales Thrash Metal-Fuckfest, die totale Enthemmung. Was hier besonders ab dem Zeitstempel 1:58 passiert, stellt im Prinzip das komplette 80er Jahre Thrash-Universum in den Schatten - und das liegt nicht nur am sich beinahe in die Ohnmacht kreischenden Keith Deen. Die komplette Band spielt sich derart fulminant in Rage, als hätten sie bei den Aufnahmen für "Christian Resistance" auf glühenden Kohlen und gefrorenen Glasscherben gestanden und dabei den Schmerz als wahnhafte Übersprungshandlung in ihre Instrumente gleiten lassen. Einer der größten und unwiderstehlichsten Momente des Thrash Metal.

1989 befand sich die Band mit Exodus und Nuclear Assault auf Tour in Europa. Eines Tages diktierte ein betrunkener Keith Deen einem anwesenden Journalisten in dessen Aufnahmegerät, dass Holy Terror bereits Songs für das dritte Album geschrieben hätten - und außerdem einen neuen Vertrag mit Roadrunner Records unterzeichneten. Um die soeben erhaltene Information zu bestätigen, rief der Journalist bei Holy Terrors Label Music For Nations an, wo man natürlich aus allen Wolken fiel. Das Ergebnis: Music For Nations schmissen die Band sofort von der Tour und frierten jede finanzielle Unterstützung umgehend ein. Anschließend lieferte sich Gitarrist Kilfelt eine Schlägerei mit dem Tourmanager, woraufhin die Band von einer Schlägerbande verfolgt wurde und sich in eine Pizzeria rettete. So strandete man ohne Geld und ohne Unterkunft für zwei Wochen im winterlichen Deutschland und lebte in einem Kleinbus in Deutschlands Watschengesichermetropole Nummer 1 München, bis mit dem gepumpten Geld von Kurt Kilfelts Freundin die Rückflüge in die USA bezahlt werden konnten. 

Zu Hause angekommen, zerfiel die Band praktisch umgehend in ihre Einzelteile. Kilfelt, Bassist Floyd Flanary und Schlagzeuger Joe Mitchell zogen von North Hills in Kalifornien nach Seattle, wo sie im Jahr 1997 mit der Punkband Shark Chum das Album "Tres' Homeboy's" veröffentlichten. Sänger Keith Deen zug nach Las Vegas und verstarb dort im Dezember 2012 an Krebs. Gitarrist Mike Alvord blieb in Los Angeles und spielte dort mit ein paar lokalen Bands, die es aber nie in ein Aufnahmestudio schafften. Er gründete im Jahr 2013 mit zwei Freunden aus Italien die Band Mindwars, die es seitdem auf drei Alben gebracht hat, die allerdings weitgehend unbeachtet blieben. Kilfelt ist außerdem mittlerweile Bassist bei der Punklegende Zeke. Er hatte auch Mitte der nuller Jahre versucht, Holy Terror wieder zu reformieren, scheiterte aber zunächst daran, Deen zu überzeugen und später glücklicherweise an der Suche nach einem neuen Sänger. 

Ab diesem Zeitpunkt folgten einige eher obskur zu bezeichnende Veröffentlichungen in den kommenden Jahren, und weil ich nicht der verbretterte Flohihaan wäre, der ich tatsächlich bin, müssen wir darüber in den kommenden Tagen eben auch noch sprechen. 

Da komme ich einfach nicht drum herum. The full monty.





Erschienen auf Music For Nations, 1988.

12.09.2020

Rehab (2): Holy Terror - Terror And Submission

 




HOLY TERROR - TERROR AND SUBMISSION


Die im vorangegangenen Beitrag gemachte Einlassung, Holy Terror seien etwas "für Kenner" ist aus mehreren Gründen so missverständlich wie natürlich trotz allem richtig. Einerseits ist die Band bei aller Bewunderung weder für besonders abseitige noch stilistisch vielschichtige, und damit den Betonkopf herausfordernde Musik bekannt, andererseits könnte mir ein ganz besonders elitärer Strick gedreht werden, weil Flippse Floppse aus 87946 Bimmel an der Schleife sich in seiner Intelligenz oder was gekränkt fühlt. Und das "Gefühl" (Jockel) ist ja so wichtig heutzutage, wer wolle seinen Mitmenschen sowas zumuten? Im Speed und Thrash Metal-Kontext indes, wo viele Metalfans hinter den großen vier Cash-Cows Metallica, Slayer, Megadeth und Anthrax die mentalen Selbstschussanlagen installieren, um bloß nicht aus der kuschlig eingerichteten Gemütlichkeit herausgezerrt und mit wildem, ungeschliffenem, unproduziertem Undergroundstoff konfrontiert zu werden, kann eine Band wie Holy Terror schon als (zu) extrem wahrgenommen werden.  

Das 1987 erschienene Debut "Terror & Submission" deutet diesen, sich erst auf dem zweiten Album "Mind Wars" in voller Pracht zeigenden Hang zum Extremen zwar erst an, weist allerdings bereits freundlich darauf hin, dass Familie Einheitsbrei sich bitteschön schnell wegficken möge. Dabei lassen sich vor allem in den Riffs ein paar Verweise zu der Vorgängerband des Gründers Kurt Kilfelt finden, der auf dem vielleicht besten Speed Metal Album aller Zeiten, "Skeptics Apocalypse" von Agent Steel, die Gitarre bediente. Vor diesem Hintergrund ist das stilistische Überhangmandat zum Speed Metal nun keine große Überraschung, aber die etwa zu gleichen Teilen addierten Einflüsse aus rudimentärem Thrash und klassischem Heavy Metal, vornehmlich aus der NWOBHM-Schule sorgen für eine ziemlich einzigartige Mischung. Mir fällt keine andere Band ein, die im Jahr 1987 so klang.

Der finale Tropfen, der für viele Metalfans das Fass sowohl im schlechteren als auch im besseren Sinne überlaufen ließ, war Sänger Keith Deen. Nicht nur war seine Bandbreite von tiefem, aus dem untersten Kohlenkeller herausgerotztem Grummeln über kraftvollen Klargesang bis hin zum extrem hohen und sägenden Kreischen ein wahres Fest für Freunde der fortgeschrittenen Stimmbandakrobatik, aber sein Timing, seine Melodien und das Setzen seiner Gesangslinien prägten den Sound Holy Terrors in unvergleichlicher Weise - bis zu dem Punkt, an dem man dachte, die Band würde trotz ihrer außergewöhnlichen musikalischen Präzision jeden Moment auseinanderfallen. Auf dem Debut muss man in dieser Hinsicht das verrückte "Blood Of The Saints" erwähnen - und natürlich den absoluten Höhepunkt "Mortal Fear". Hier war bereits zu hören, zu was Holy Terror noch in der Lage sein sollten. "Mortal Fear" ist einer dieser Momente, deren glühende Intensität für aufgestellte Nackenhaare und Schweißausbrüche sorgen. Wer in diesem Weltklasserefrain vor schierer Raserei nicht die Wände hochgeht, sollte sich das mit der angeblichen Affinität zum Thrash Metal nochmal genauer überlegen. Oder zur Musik insgesamt. 

Holy Terror sollten auf dem Nachfolger "Mind Wars" gleich mehrere solcher Momente verewigen. "Terror & Submission" war nur das Sprungbrett für die nächste Ebene. 





Erschienen auf Under One Flag, 1987.

05.09.2020

Rehab (1): Holy Fucking Terror

 




HOLY TERROR


Wirklich unüberwindbare Momente der Reue habe ich mit den veröffentlichten Beiträgen auf diesem Blog eigentlich nicht. Einerseits gibt's weiß Gott Wichtigeres, mit dem es die Auseinandersetzung lohnt, die innere zumal, zum anderen kann ich inhaltliche, stilistische und sprachliche Defizite auch halbwegs richtig einsortieren und mit einer Wagenladung Feigenblätter auf jugendliche Verbretterung hinweisen - ich war beim Start von 3,40qm immerhin schon 30 Jahre alt und damit praktisch noch mitten in der Pubertät. Wer ohne Blödheit ist, werfe das erste Jamba-Klingelton-Abo, jedenfalls: "It is what it is." (Trump). Und irgendwie stimmt das ja auch. Und ganz nebenbei bin ich wirklich froh über die Editierfunktion.

Ich habe in den vergangenen 13 Jahren oft über Thrash Metal geschrieben, zwei Mal gab es sogar Serien über das in meinen Ohren faszinierendste Subgenre des Heavy Metal: die "Verstaubt & Liegengelassen"-Rubrik etwa beschäftigte sich im Jahr 2009 mit den obskuren und selbst in den Heydays des Thrash unter dem Radar gebliebenen Alben, während "Thrash'n'Spekulatius" meine 20 Lieblingsplatten des Genres auflistete. Beides machte großen Spaß - und wo das gesagt ist, wäre es wirklich mal an der Zeit, die zweite Staffel von "Verstaubt & Liegengelassen" zu planen. Nun ist es jedoch zunächst mal an der Zeit, den ersten Absatz dieses Texts mit dem zweiten zu verknüpfen. Da gibt es nämlich Rede- und Schreibbedarf. 

Die Schlüsselworte des ersten Satzes von weiter oben heißen nämlich "veröffentlichten" und "eigentlich". Denn sehr und übers gesunde Maß hinaus uneigentlich habe ich in beiden Beiträgen/Serien Holy Terror unter den berühmten Tisch fallen lassen. Unter den Teppich gekehrt. Über die Klinge springen lassen. Und das ist auch deswegen ein bisschen blöd, weil ich beide Platten schon sehr lange im Regal stehen habe - damit entfällt dann auch die Ausrede, man könne ja schließlich nicht alles kennen. Das Debut "Terror & Submission" kaufte ich 1997 auf einer Plattenbörse im Kasino der Frankfurter Jahrhunderthalle, nachdem ich an einem Stand mal wieder die Frage aller Fragen stellen musste: 

"Hast Du die "Time Does Not Heal" von Dark Angel auf CD?" 

und umgehend die Standardantwort erhielt: 

"HAHAHAHAHA!" 

Es war zu jener Zeit einfach völlig aussichtslos, den Schwanengesang der besten Thrash Metal Band aller Zeiten im Kleinformat zu bekommen (und wer mehr darüber wissen möchte, wird hier versorgt). Weil der Verkäufer offenbar die mir ins Gesicht gestanzte Enttäuschung so mitleiderregend fand und außerdem noch 20 Mark oder wieviel für den Standgebühr-Break Even fällig waren, hielt er mir schnell "Terror & Submission" von Holy Terror unter die Nase, weil es eben genau so laufen muss: die Verzweiflung über den ausgefallenen Konsum muss sofort mit einer neuen Konsummöglichkeit geheilt werden, fight fire with fire, alle fühlen sich gut, Kapitalismus 1, Leben 0, "schöne" Scheiße. 

"Wenn du Dark Angel magst, dann musst Du die Platte hier haben. Holy Terror. Die klingen genau so. Kannste blind kaufen. Glaub' mir!"  

Und was aus heutiger Sicht völlig absurd erscheint: ich glaubte ihm. Und nahm die Platte mit. Und fand zu Hause heraus, dass Holy Terror so gar nicht nach Dark Angel klangen. Und bis heute nicht klingen. 

Und vielleicht war's dieser herbeihalluzinierte Makel, der mich Holy Terror auch in den folgenden Jahren übergehen, wo nicht ignorieren ließ. Denn auch beim wenig später der Sammlung hinzugefügten zweiten Album "Mind Wars" regte sich über das anerkennende Nicken hinaus nur wenig im Frontallappen, der vermutlich noch immer von Dark Angel träumte. Heute weiß ich: Holy Terror sind etwas für Kenner, und ich war "young, dumb and full of cum" (Maher). Es gibt einfach Bands, die begreift man nicht. Sie sind zu seltsam, kratzbürstig, ungewohnt, einzigartig, und selbst, wenn man kulturell Seltsames, Kratzbürstiges, Ungewohntes und Einzigartiges einigermaßen zu schätzen weiß, ist da eine scheinbar undurchdringliche Mauer zwischen Plattenspieler und dem eigenen Kopf, Herz und Bauch - eine Mauer, die durch die ubiquitäre Mittelmäßigkeit und zum Himmel stinkende Normalität der Genrekonkurrenz nicht kleiner, sondern mit jedem redundanten und bis zur Verwahrlosung ausgewalzten Gitarrenriff, mit jeder aus dem Pleistozän gemopsten Gesangslinie, jedem auf rebellisch getrimmten Spießertext aus dem Darkroom der Jungen Liberalen und jedem lustlos hingewichsten Kitschcover und jeder pappigen Kleberesteproduktion aus Donzdorf immer mächtiger und beengender und luftraubender wird. 

Ich hielt vor ein paar Jahren zum ersten Mal den "Mottek" (Werner Chibulsky) in der Hand, als ich "Mind Wars" mal wieder auf den Plattenteller legte und ich mich plötzlich Luftgitarre spielend und alle fists raisend auf dem Wohnzimmertisch wiederfand. 

Darüber wird nun also zu sprechen sein. Und zu schreiben. Es ist Zeit für eine Rehabilitierung. 

"Bleiben sie dran, ich zähl auf sie."



16.08.2020

Das Beste des (eigenen) Jahrzehnts, Teil 2: Blank When Zero - Taped!



BLANK WHEN ZERO - TAPED!


...und damit kommen wir nun tatsächlich zum Ende meiner kleinen Serie über das vergangene Jahrzehnt. Wo Sun Never Sets in tiefer Stasis liegen, ist in der Hütte meiner Band Blank When Zero seit nunmehr elf Jahren das Licht angeknipst, und auch wenn wir ab und zu mal am Dimmer drehen mussten, schaut es nicht so aus, als würde jemand so schnell zum letzten Mal auf den Schalter drücken, der es so richtig dunkel werden lässt. 

Ich lernte Simon und Marek zwischen 2007 und 2008 kennen. Zu diesem Zeitpunkt war ich musikalisch auf dem Trockendock; Ende 2005 sah mich ein Proberaum zuletzt von innen - sieht man mal von meinem Gastarrangement bei einer damals sehr gut gebuchten Coverband aus Wiesbaden ab, bei der ich für ein halbes Jahr den mit Stimmbandknoten kämpfenden Sänger ersetzte und jedes Wochenende damit verbrachte, besoffenen Partypiepels die letzten kreativen Zuckungen der Red Hot Chili Peppers unter das Ed Hardy-Shirt zu schummeln. Nun ist es so, dass ich grundlegend versuche, ein freundlicher und offenherziger Mensch zu sein, und ich glaube sogar, dass es mir in den allermeisten Fällen auch gelingt. Allerdings sorgte die Aussicht, mich durch Hunderte von Musikeranzeigen zu wühlen, um sich mit, Pardon: absoluten Vollidioten austauschen zu müssen, für eine bis in tiefste Tiefen reichende zerebrale Verkrampfung mit sehr lebhaft ausgestalteten Gewaltphantasien - und bevor das passiert, macht man doch am liebsten gar nix, lässt sich in die eigene Couch laminieren und hängt das Musikerdasein final an den berühmten Nagel. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Rolläden runter, Vorhänge zuziehen, auf den Boden legen, langsam atmen, sich still vollpissen, wegdämmern. 

Und als ich so dämmerte, klingelte das Telefon. Power-Pop, Garage, Indie, Punk - "Hast du Bock?" 

Nun, ich hatte Bock und nachdem ein gutes Jahr ins Land zog und es personelle Turbulenzen notwendig machten, sich auch stilistisch neu auszurichten, hoben wir 2009 Blank When Zero aus der Taufe. Schnell, hart und melodisch sollte es sein, immer. Und wenn es das mal nicht mehr sein sollte, falls wir also unseren Drive verlören (sic!), "dann machen wir den Laden dicht", sagten wir damals. Und das sagen wir heute immer noch. Jahre später sollten wir es in einem Interview mit dem Mainzer Studentenmagazin davon sprechen, dass "sorgfältig ausgeschnarchtes Herumgerocke mit Irokesenfrise der Endgegner" sei und angesichts dessen, was nicht erst seit gestern so landläufig als Punk gilt und sich mit dieser handzahmen Komplettrotze plötzlich in riesigen Konzerthallen wiederfindet, müssen wir wohl anerkennen, dass der Endgegner Kapitalismus heißt und grundsätzlich sowohl übellaunig als auch unbesiegbar ist. Außerdem, und das ist das Allerschlimmste: er hat einen unfassbar beschissenen Musikgeschmack. 

Über "die Band, die keiner kennt" (Selbstbeschreibung) habe ich auf diesem Blog tatsächlich mehr als nur ein Mal geschrieben, insofern ist die im vorangegangenen Beitrag postulierte Einlassung, nie allzu großen Wirbel ums eigene Kulturschaffen gemacht zu haben, mit einem Körnchen Salz zu bewerten. 

In einem Beitrag aus dem Jahr 2016 schrub ich über unsere immer noch aktuelle Platte "Taped!":


"Wir machen seit sieben Jahren zusammen Musik, gehen uns immer noch nicht auf den Sack, sind alle drei gemeinsam der Meinung, dass es wichtig ist, auch weiterhin gemeinsam Musik zu machen, haben diese verführerische Mischung aus einer ruhigen Gelassenheit und einem immer noch durchaus hohen Anspruch an die eigene Musik, und gehen, ohne dass es uns glaube ich wirklich immer präsent und bewusst ist, immer einen kleinen Schritt weiter: hört man beispielsweise unsere ersten Aufnahmen aus dem Jahr 2010 und vergleicht sie mit dem, was wir nun mit "Taped!" aufgenommen haben, dann ist das ziemlich zweifelsfrei immer noch die gleiche Band, aber die Musik hat ebenso wie der Sound ein paar ganz ordentliche Entwicklungssprünge gemacht. Vor allem aber, und das freut mich ganz besonders, sind die Texte und ihre Aussage so eindeutig und klar wie vielleicht noch nie. "Endlosschleife", "Just A Ride" und "Herz & Gefühl" sprechen mir allesamt aus dem Herzen und als zusätzliches Glück tun sie das alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln."


...und auch vier Jahre später ist das immer noch alles sehr wahr. 


Ich möchte an dieser Stelle nochmals auf das wunderbare Videoreview von Meisterkoch Tillman hinweisen:


"Taped!" bringt für meinen Geschmack bis heute am besten auf den Punkt, was diese Band ausmacht, was sie sein will und was sie sein soll. Natürlich waren auch "Blank" (2010) "Konsumrauschen" (2011) als auch "Einerseits" (2013) Meilensteine für uns, weil sie uns ebenso in der damaligen Zeit am besten repräsentierten und unseren Stand dokumentierten, aber sie zeigten auch, dass da noch mehr gehen konnte - und alleine die Tatsache, dass wir uns für die Aufnahmen von "Taped!" so irre viel Zeit lassen konnten (wir arbeiteten fast ein dreiviertel Jahr an diesen grob 19 Minuten, natürlich nicht am Stück, aber trotzdem: was für ein Luxus!), half bei der Entwicklung der ursprünglichen Idee. Die Umsetzung des "Schnell, hart und melodisch"-Mantras klingt zwar simpel, aber es dann am Ende so hinzubekommen, ist für uns keine Selbstverständlichkeit. Ich schrieb kürzlich über den Schwanengesang von Sun Never Sets, dass "The Absurd" vor allem deswegen so bedeutend war, "weil ich zum ersten Mal erlebte, was möglich ist, wenn jeder an der Produktion beteiligte die Idee und die Leidenschaft teilt" und bei "Taped!" erlebte ich es ein zweites Mal. 

Terminmikado, Familienschach, Jobtetris - und dann kann der Gitarrist auch nach 25 Jahren nur mit Boxhandschuhen Gitarre spielen und hält alles und jeden auf: nichts von all dem konnte uns und unseren Klangmeister Jörg davon abbringen, diese Platte genau so zu machen. Und wenn das Ergebnis dann also vor einem liegt, sogar physisch und in Form der nur auf wenige Exemplare limitierten und mittlerweile ausverkauften Kassette, man zurückschaut und vergleicht und reflektiert, dann ist auch das einfach...sehr bedeutend.

Wer mag, kann sich auf unserer Bandcamp-Seite die komplette Diskografie für 4 Euro herunterladen.

09.08.2020

Das Beste des (eigenen) Jahrzehnts: Sun Never Sets - The Absurd




SUN NEVER SETS - THE ABSURD


"Ich nehme seit 1998 Platten auf und schreibe seitdem sowohl eigene Texte als auch eigene Musik und es gibt praktisch keine veröffentlichte Song- und Textsammlung, für die ich nicht ohne Zögern einen Atomkrieg anzetteln würde, auf dass dieser selbst ausgedachte Schmonz endlich vaporisiert und also vom Antlitz der Erde getilgt wird."

Bon, so schwer wie der dramatisch anmutende Ausblick zum Ende des letzten Artikels - "Kommt ihr nie drauf!" - war es dann vielleicht doch nicht, denn auch wenn ich versuche, das Ego klein und die Demut groß zu halten und darüber hinaus ein Begriff wie "stolz" weder im Sprachschatz noch Wertesystem eine Rolle spielt, bin ich von den vier mit meiner Beteiligung entstandenen Alben aus dem vergangenen Jahrzehnt mit mindestens zwei über das normale Maß hinaus verbunden. Ich habe auf diesem Blog und anderswo nie allzu großen Wirbel um die eigene Musik gemacht, und weil die zwei verbliebenen Gehirnzellen in meinem Kopf in permanentem Autopilot-Modus gegeneinander kämpfen, stellt sich Herr Dreikommablödvier im stillen Kämmerlein doch immer noch manchmal die Frage, was hätte passieren können, wäre der Wirbel ein anderer, ein größerer gewesen. Dabei ist der Traum von der Karriere als Musiker doch schon seit zwanzig Jahren ausgeträumt. 

Die Chronologie der Ereignisse verlangt den Start mit "The Absurd" von Sun Never Sets, erschienen im Sommer 2011. Die Geschichte dieser Band ist nicht in fünf Sätzen erzählt, und es gibt keinen Grund, es nicht dennoch zu versuchen: ich stieß im September des Jahres 2000 zu der damals noch unter dem Namen Soleilnoir (sic!) operierenden Band, übernahm das Mikrofon und fand mich schon ein halbes Jahr später in den Bazement-Studios von Markus Teske (u.a. Vanden Plas und Charlie Dominici) wieder, um die erste EP "Drown" aufzunehmen. Ein Jahr später wurde es leider sehr turbulent: Ich stieg aus und kehrte erst im Mai 2009 an die alte Wirkungsstätte zurück, während die Band zwischendrin mit Sänger Maggot noch zwei weitere EPs ("Interlude" und "Nucleus") veröffentlichte. Und weil rechte Sackgesichter sich mittlerweile die Begriffshoheit über die "Schwarze Sonne" (Soleil Noir) angeeignet hatten und wir deswegen von übereifrigen Volltrotteln von volltrotteligen Volltrottelbands sogar von Konzerten ausgeschlossen wurden, entschlossen wir uns recht zügig zu einer Namensänderung - Sun Never Sets waren geboren. Unser letztes Konzert spielten wir vor ziemlich genau acht Jahren, im August 2012 in Frankfurt. Offiziell aufgelöst wurde die Band kurioserweise nie, der Engländer würde wohl eher von einem "indefinite hiatus" sprechen. 

Das sind die nüchternen Fakten. Aus emotionaler Sicht stehen meine viereinhalb Jahre als Mitglied dieser Band möglicherweise als die intensivsten Bandjahre im Lebenslauf. Ich lernte Wolfgang, Jörg und Steffi kurz nach meiner ersten Krebsdiagnose und -OP kennen, und Leben und Hirn drehten sich wie Brummkreisel. Ich war Stammgast in den medizinischen Abteilungen der Frankfurter Stadtbibliothek, musste mich gegen empathiebefreite Ärzte verteidigen und mit angsterfüllten Familienmitgliedern verhandeln, dazu war ich immer noch frisch verliebt, lernte jeden Tag soviel Neues, dass ich mich jeden Morgen wie tatsächlich neu geboren fühlte, und dennoch: die Zukunft war ungewiss. Ich begegnete all dem Irrsinn mit, logo: vollen Hosen und auch einem gewissen Hedonismus, der sich in erster Linie in wahren Kreativitäsexplosionen manifestierte. Die ersten Aufnahmen im Winter 2001 verbrachte die Band für eine volle Woche Tag und Nacht gemeinsam im Studio und ich werde die gemeinsamen Abende mit Musik, Diskussionen, Rauchwaren und Pink Floyds "Ummagumma" (natürlich bis heute ihre beste Platte, fight me!) niemals vergessen. 

Ähnliches ereignete sich auch bei den Aufnahmen im Winter 2010. Erneut waren wir bei Markus Teske zu Gast, dieses Mal aber gleich für ganze zwei Wochen. Und weil die neuerliche Kreativitätsexplosion derart ergiebig war, sollte es nun erstmals ein ganzes Album mit neun Songs werden; Songs, die allesamt in den vorangegangenen sechs Monaten geschrieben wurden. Für eine nicht rund um die Uhr professionell arbeitende Band ist das gar nicht so übel.

Als wir endlich mit unserem ersten Album das Studio verließen, war das für mich ehrlicherweise ein sehr bedeutender Moment. Nicht nur, weil es unser Albumdebut war, das wir in den Händen hielten. Auch und ganz besonders, weil ich zum ersten Mal erlebte, was möglich ist, wenn jeder an der Produktion beteiligte die Idee und die Leidenschaft teilt. Die Platte klingt für das Jahr 2010 und für die zwei Wochen Produktionszeit ausnehmend gut und wirkt selbst zehn Jahre später nicht unangenehm gealtert. Und ich muss das nun zugeben: ich höre "The Absurd" immer noch gerne - und das ist sehr ungewöhnlich für mich. Weil ich aufgrund der eingangs erwähnten und persönlich wahrgenommenen Unzulänglichkeiten von Musik mit meiner Beteiligung ansonsten immer schnell in den Krümeln suchen muss: da wackelt die Stimme! Das Wort ist falsch phrasiert! Das Timing stimmt nicht! Und was ist das bitte für 1 Text? Sich mit dem eigenen Versagen zu arrangieren ist nun wahrlich keine einfache Übung. 

Der Scharfrichter in mir hat natürlich auch bei "The Absurd" viel zu tun und ich könnte aus dem Stand zwei Dutzend Momente auf- und beschreiben, die schlicht falsch sind und etwas Besseres verdient hätten. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es - ich kann das nicht bestätigen. Der Mumpitz ist auch 10 Jahre später immer noch sehr real.  

Dennoch tut er meiner Verbundenheit mit dieser Band, dieser Zeit und dieser Platte keinen Abbruch. 

"The Absurd" erschien im Sommer 2011 in einer Auflage von gerade mal 50 CDs im Digipak und ist natürlich komplett untergegangen. Vom Zeitgeist waren wir ganze Universen entfernt (bei Konzerten hörten wir nicht selten "Geiiiil, voll Neunziger!"), im Bandumfeld gab es praktisch keine "Fans" mehr, weil wir bis auf Schlagzeuger Johannes alle schon viel zu alt waren und der Bekanntenkreis, sofern er noch existierte, sich längst mit Frau und Kind im Eigenheim befand, und auch wenn wir pro Jahr sicher um die 25 bis 30 Konzerte mitunter in den kleinsten Käffern und Löchern spielten, tat sich erschütternd wenig. Selbst dann nicht, als wir im Frühjahr des Jahres 2012 im Frankfurt Bett im Vorprogramm einer größeren Alternative Band aus den Staaten und also vor 400 Zuschauern spielten. Hinzu kam sicherlich als der möglicherweise entscheidendste Faktor, dass wir schlicht nicht mehr alles geben wollten und konnten. Einen kleinen fünfstelligen Betrag an eine Deppenagentur überweisen, um vier Wochen durch Europas schimmeligste Clubs zu tingeln? Familie und Job aufs Spiel setzen? Im allerbesten Fall war die Mehrheit von uns, mir inklusive, in dieser Hinsicht indifferent - und das ist dann einfach zu wenig. Eigentlich ist man damit auch gleichzeitig sehr nahe an der Selbst-Sabotage. Und natürlich kann man das machen, aber dann verbietet sich streng genommen auch die Jammerei.  

Trotzdem: hätten ein paar mehr Leute die Möglichkeit gehabt, "The Absurd" überhaupt mal zu hören, wäre vielleicht ein bisschen mehr drin gewesen. Ich bin natürlich komplett voreingenommen. Für mich ist das immer noch eine tolle und ganz persönlich sehr wichtige Platte. 

Mittlerweile ist das Album praktisch nicht mehr digital erhältlich, daher habe ich es auf meinem Soundcloud-Account hochgeladen. Vielleicht wird es ja zehn Jahre später noch von ein paar Menschen entdeckt. Verdient wäre es.


02.08.2020

Das Beste Des Jahrzehnts - Der Auftakt Zum Schlussakkord





Wer bis hierhin noch nicht eingeschlafen ist und also, Deutschland einig Streberland, fleißig mitgezählt hat, der wird bei Stephan Mathieus "A Static Place" eine 25 auf den geistigen Rechenschieber gekritzelt haben, und weil mir musikbezogene Qualitätsmedien seit Jahrzehnten eintrichtern, dass diese immer noch so populäre wie deprimierende Listenscheiße eben nur dann "geht" (Mario Basler), wenn die Zahl der präsentierten Alben eine ist, die sich mindestens durch fünf teilen lässt, bin ich vertraglich dazu verpflichtet, es hierbei zu belassen. Freilich ließe sich der ganze Quatsch noch beliebig erweitern, der Plattenschrank ist schließlich voll und das Konto leer, und so manche gefällte Entscheidung für das eine und gegen das andere war so oder so hart und zäh - warum also nicht weitermachen bis zum totalen Exitus und AUF WEN NEHME ICH HIER EIGENTLICH RÜCKSICHT, IST JA ABSURD, MEINE DAH'M UN HERRNglglglglglgl, jedenfalls: Wir sind mittlerweile im August des Jahres 2020 und seit 2016 gab es auf Deinem crazy abgefuckten Lieblingsblog nicht mehr so viel zu lesen und also zu ertragen wie heuer. 

Das ist ein schöner Erfolg der Corona-Pandemie und meiner seit nunmehr fünf satten Monaten anhaltenden Isolationshaft, die außer Rewe, Waldspaziergängen und dem ängstlichen Beobachten des Wespennests im Haus gegenüber praktisch alles andere, was mal Leben war, ausgelöscht hat. Bitte nicht missverstehen, denn auch wenn's nicht en vogue ist, den eigenen Pandemiezustand nicht über Gebühr zu bedauern: ich bedauere ihn nicht. Allerdings war die Motivation für Biergarten, Festival und Flugreisen-Urlaub schon vor diesem ganzen Wahnsinn gedämpft, wo nahezu nicht mal existent. Menschen sind einfach immer überall, und wer sich von ihnen so oft wie möglich fernhalten möchte, der kann es sich zu Hause auch ganz hübsch machen. Insofern ist mein Leben seit Anfang März in den allermeisten Momenten vor allem ein beruhigtes.    

Stattdessen ließ sich die Zeit mal wieder für ein paar Worte über Musik nutzen und ich empfand das Eintauchen in das vergangene Jahrzehnt und die begleitenden Excellisten als sehr inspirierend, weil es dabei half, sich mal wieder an das Schöne, Gute, Wichtige zu erinnern - und auch daran, dass es mal Zeiten gab, in denen die tiefgehende Auseinandersetzung mit Musik und ihren Erschaffern sehr selbstverständlich war und nicht vom bloßen Konsum einerseits und der eigenen, vom "Spätkapitalismus" (Dutschke, zur Einordnung: im Jahr 1967, lol) immanent erzeugten Energielähmung andererseits überdeckt wurde. 

Jetzt sind wir mit dieser Rückschau also am Ende, und bevor ich mich für die nächsten dreikommavier Monate wieder mit sich in voller Pracht präsentierenden Schreibblockade herumschlagen darf, weil mir soviel im Kopf herumschwirrt, über dass es sich doch eigentlich zu Schreiben lohnen würde, dass am Ende wegen klassischer Überforderungsmechanismen höchstens zwei Ballen Tumbleweed durchs konsistenziell (das ist kein Wort, aber es ist ja eh egal) an Mürbeteig erinnernde Cranium schweben und dabei die Prokrastinationspolka pfeifen, muss ich schnell ein "FAST!" in die Anfangssequenz dieses eh schon wieder viel zu lang geratenen Scheißsatzes pfeffern, und also die Liste der 25 wunderbarsten Platten der Welt mit genau zwei zusätzlichen Nominierungen ergänzen. 

Welche das wohl sein werden? Kommt ihr nie drauf! 



01.08.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Stephan Mathieu - A Static Place





STEPHAN MATHIEU - A STATIC PLACE


Immer wenn ich ein Album von Stephan Mathieu auflege, mache ich nichts anderes außer zuzuhören. Ich habe das im letzten Jahrzehnt gelernt. Wobei: eigentlich begann die Schulung bereits 2008 mit dem mittlerweile als Klassiker zu nennenden "Radioland". Der Text, den ich im Sommer des Jahres 2009 in diesen Blog, nunja: erbrach, wird im Rückblick und selbst mit einer großen Portion Stechapfelkuchen mit Crystal Meth-Sahne dieser Platte nicht gerecht, aber er erschien mir damals ganz offensichtlich als angemessen, um die Aura um "Radioland" und ihren Einfluss auf meine Hörgewohnheiten zu beschreiben. Wenn es an eigenen und halbwegs ordnungsgemäßen Erklärungen mangelt, und Herr Zugeknöpft mit seinen Mitstreitern "Kopfkino" und "Klangkathedralen" aus der journalistischen Kleingartenanlage "Wortart Germania e.V." besser das Kartoffelbeet besprechen sollte, als sterbenslangweilige Texte im Internet zu verklappen, rutscht mir eben manchmal das Vokabelheft von Dr.Bizarro aus der Schreibmaschine. Immerhin: hier bin ich Chef, hier kann ich sein. 




Was nach all dem übrig bleibt und bleiben sollte: hört diesem Mann zu. 

"A Static Place" ist exakt eines nicht: statisch. Die Räume, Ebenen und Perspektiven, die Mathieu hier wie von Geisterhand zum Sein erweckt, wechseln beinahe sekündlich - und trotz dieser vermeintlichen Volatilität entwickelt sich jedes einzelne Bild in Echtzeit in einem formvollendeten Design. Es scheint fast, als dirigiere Mathieu diese ätherischen Partikelströme aus Klang lediglich mit der Kraft seiner Gedanken und Emotionen, er channelt Farbe und Bewegung, gräbt sich immer tiefer bis in die letzten dunklen Winkel ein, um auch sie mit Licht und Energie zu fluten. Das Bild ist weise gewählt: als Hörer habe ich den Eindruck, als könne ich alle Dimensionen dieser Musik erleben, jede Schwingung spüren, jeden Kontext aus einem Universum von Möglichkeiten erkennen und umgehend in eine Realität einsortieren. Jeder Ton wird Materie, funkelnd, mehrdimensional, mystisch, perfekt. Ich kenne keinen anderen Musiker, der Klang so unmittelbar erfahrbar werden lässt. 

"A Static Place" ist eines der betörendsten Alben des Jahrzehnts. 




Erschienen auf 12k, 2011. 

23.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Gil Scott-Heron - I'm New Here




GIL SCOTT-HERON - I'M NEW HERE


"I'm New Here" ist möglicherweise die wichtigste Platte des vergangenen Jahrzehnts. Mir wurde das in vollem Umfang erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, als ich mich nochmal mit dem Werk beschäftigte, um die richtigen Worte für diesen Text zu finden (und im Anschluss des neuerlichen ersten Durchlaufs natürlich dann doch die kürzlich veröffentlichte Jubiläumsausgabe auf pinkem und grünem Vinyl bestellte - einfach, weil ich nie gesagt habe, ich sei nicht quadratverblödet). 

Bis in den Februar des Jahres 2010 war mir der Name Gil Scott-Heron zwar durchaus geläufig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, seine Musik jemals bewusst gehört zu haben. In den 1980er und in weiten Teilen der 1990er Jahre wäre ich für seinen Sound sowieso noch komplett juvenil-vernagelt gewesen, und die erste Hälfte der nuller Jahre waren hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung noch zu sehr von den Irrungen und Wirrungen meiner Orientierungslosigkeit aus den späten neunziger Jahren geprägt, als ich mit den neuen Entwicklungen in der alten Komfortzone nicht mehr klar kam. Oder deutlicher: als Heavy Metal anfing, so richtig knalldoof zu werden. Erst mit der Entdeckung Coltranes in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde vieles wieder klarer. Und just, als ich knietief in Freejazz-Kakophonien von Clifford Thornton und William Parker stand und mich mit entsprechender Literatur immer tiefer in den Kaninchenbau hineinwühlte, holte Produzent und XL Recordings-Gründer Richard Russell den vom Leben gebeutelten Scott-Heron aus der Versenkung. Ich war bereit. 

Russell hatte dieses Projekt schon lange geplant. Er kontaktierte Scott-Heron erstmals, als jener noch wegen Kokainbesitz auf Rikers Island einsaß und erzählte später, sie hätten schon in ihren ersten Briefwechseln auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert. Russells Begeisterung war offenbar ansteckend: der Godfather of Rap lehnte normalerweise die meisten Anfragen ab, für "I'm New Here" sagte er jedoch sofort zu - auch wenn er später davon sprach, das Album sei in erster Linie Russells Werk:

"This is Richard's CD. My only knowledge when I got to the studio was how he seemed to have wanted this for a long time. You're in a position to have somebody do something that they really want to do, and it was not something that would hurt me or damage me—why not? All the dreams you show up in are not your own."


Richard hatte von Beginn an eine Vision für "I'm New Here", die von Scott-Herons Debut "Small Talk at 125th and Lenox" beeinflusst war: minimalistisch, spartanisch, dürr. Auch die kurze Spieldauer von gerade mal 29 Minuten entspringt diesem Gedanken, denn auch, wenn die Sessions mehr aufgenommenes Material hergaben, sollte die Platte in einem hochkonzentrierten Durchgang alles sagen, was es zu sagen gibt. Das ist geglückt. "I'm New Here" ist ein tief grummelndes, nachdenkliches Stück Musik zwischen dystopisch pumpenden Beats und dunkel schimmerndem Blues, in dessen Kern Scott-Herons schlackernder Bariton-Sprechgesang das Leben reflektiert, Bilanz zieht. Und so hart er mit sich selbst ins Gericht geht, so weise sind seine Pointen. 
Because I always feel like running
Not away, because there is no such place
Because if there was I would have found it by now
Because it's easier to run
Easier than staying and finding out you're the only one
Who didn't run
(aus "Running")

And I'm shedding plates like a snake
And it may be crazy, but I'm
The closest thing I have
To a voice of reason 
(aus "I'm New Here")

Ich war von "I'm New Here" ab der ersten Sekunde fasziniert. Alles, was dieser Mann in diesen 29 Minuten sang und sprach klang wichtig. Fürs Leben. Fürs Anerkennen der eigenen Limitiertheit. Fürs Erforschen der Möglichkeiten - weil es hinterm Horizont eben weitergeht, dem eigenen zumal. Wusste schon Udo "Dichter Denker" Lindenberg. Und hinter meinem Horizont ging es tatsächlich weiter, denn "I'm New Here" war die Initialzündung für das Entdecken von Scott-Herons Musik. Die frühen Arbeiten aus den 1970er Jahren mit seinem kongenialen Mitstreiter Brian Jackson. Die drei Soloalben aus den Achtzigern, die bislang nicht neu aufgelegt wurden und kommerziell nie an die früheren Klassiker heranreichten. Das 1994er Album "Spirits", das seinen Ruf als "Godfather of Rap" nur weiter im Boden des zu jener Zeit in voller kommerzieller Blüte stehenden HipHops verwurzelte. 

So wie Iron Maidens "Live After Death" mich zum Metal, "Nevermind" zum Alternative Rock, Bad Religions "Generator" zum Punk, bvdubs "The Art Of Dying Alone" zum Ambient und das SF Jazz Collective zum Jazz brachte, öffnete "I'm New Here" die Türen zum Soul und Funk. All diese Begegnungen mit Musik waren lebensverändernd, grenzenlos wichtig für das eigene Selbstverständnis, zur Selbstidentifikation. Ich sah die Welt jedes Mal mit anderen Augen, wenn sie mir von Steve Harris, Kurt Cobain, Greg Graffin, Brock van Wey, John Coltrane und Gil Scott Heron in neuem Licht gezeigt wurde. 

Vielleicht ging es vielen Menschen mit "I'm New Here" ähnlich. Richard Russell sollte sein Ziel, Scott-Heron auch jungen Menschen näher zu bringen erreichen - was nicht zuletzt mit den aus den Sessions entstanden Remix- und Tributeplatten gelingen sollte, die Jamie XX mit "We're New Here" und kürzlich Schlagzeuger Makaya McCraven mit "We're New Again" produzierten. 



I think, for whatever reason, I feel a bit of duty to introduce him to people because he was never that commercial, crossover figure. What Makaya [McCraven] did and what I asked Jamie [xx] to do earlier is all a part of that reintroducing. Historically, there’s a lot of great artists who get overlooked. It makes me happy that Gil is not one of them and that people are still discovering him. 

Ich habe Gil Scott Heron wegen Richard Russell entdeckt. Der Einfluss auf mein Leben war und ist bis heute allgegenwärtig. Dankbarkeit. 









Erschienen auf XL Recordings, 2010.

18.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Propagandhi - Failed States




PROPAGANDHI - FAILED STATES


Es wäre einigermaßen undenkbar, Propagandhi in der Serie über die besten Platten des vergangenen Jahrzehnts nicht zu erwähnen - auch wenn sich das Quartett aus dem kanadischen Winnipeg in zehn Jahren für gerade mal zwei Aufnahmen ins Studio schleppen konnte und die Auswahlmöglichkeiten damit signifikant ausdünnte. Ich habe bereits an anderen Stellen dieses Blogs wortreich dargestellt, wie wichtig diese Band für mich war (und weiterhin ist), und wie viel sie dafür getan hat, dass ich heute genau jener Mensch bin, der ich bin. Die sowohl mir als auch der Band weniger gut gesinnten mögen das in der Endabrechnung zwar nicht unbedingt positiv hervorheben und eher als tragischen Beleg so mancher charakterlicher Unzulänglichkeit interpretieren, aber das kann ich aushalten. Und Propagandhi sowieso. 

"Failed States" aus dem Jahr 2012 kann es zwar, wie auch auch 5 Jahre später erschienene Nachfolger "Victory Lap", nicht ganz mit den beiden Sternstunden "Supporting Caste" und "Potemkin City Limits" aufnehmen, aber erstens: wer kann das schon? Und zweitens wischt die Band auch mit minimal gedrosselter Durchschlagskraft noch immer mit der gesamten Genrekonkurrenz den Boden auf: ein durchtrainiertes Kraftpaket wie das fünfundsechzig Sekunden furios durch Raum und Zeit ballernde "Status Update" hat keine einzige andere Band jemals geschrieben. Wahrscheinlich hat es auch noch keine andere Band jemals auch nur versucht. Und vielleicht können all die "bitter ex-musician cum embedded rock-journalists" und Milchsemmel-Know-It-Alls, die jede achtelsteife Punkrock-Parodie mit dem dampfendem Germknödel-Uffta-Uffta-Beat aus Schnarchhausen an der Brenz sich ja wenigstens dieses eine Mal die gute Minute freinehmen, um die Murmel wieder zu kalibrieren und den ganzen schamlos-kraftlosen Rest auf den großen Haufen Wohlfühlabfall zu werfen, an den sich eine ganze Szene bis zur totalen Besinnungslosigkeit drankuschelt. 




Von der ersten Sekunde des ungewöhnlichen und hinsichtlich der Intensität entfernt gar an New Model Army erinnernden Openers "Note To Self" bis zum letzten Wahnsinnsstakkato des umwerfenden Abschlusstracks "Duplicate Keys Icaro (An Interim Report)" ist "Failed States" ein atemberaubendes, herausforderndes, sehniges und ruppiges Meisterwerk, technisch auf allerhöchstem Niveau, textlich beinahe pathologisch klar, multidimensional und herzzerreißend schmerzhaft. Oder schmerzhaft herzzerreißend?

There is no me. There is no you. There is all. There is no you. There is no me. And that is all. A profound acceptance of an enormous pageantry. A haunting certainty that the unifying principle of this universe is love.

(aus "Duplicate Keys Icaro")


Ein auf ewig hell leuchtendes Vorbild. 




Erschienen auf Epitaph Records, 2012. 

12.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Es liegt ein bisschen in der (meiner) Natur der (meiner) Sache, dass jene Alben, die in den letzten nasagenwirmal ein bis zwei  Jahren erschienen sind, in dieser Bestenliste etwas unterrepräsentiert sind. Ich habe die Neigung, Platten erleben zu wollen. Gemeinsame Geschichten schreiben, Erinnerungen entwickeln, Anker setzen, tiefer graben. Das geht fast immer nur mit Zeit. Manchmal dauert es Jahre, bis die Annäherung deutlich geworden ist. Und manchmal geht es andererseits überraschend flott, meistens dann, wenn die Gegebenheiten nicht völlig neu und unbekannt sind. Bei The Sea And Cake beispielsweise ist's einfach, da stehen sämtliche Scheunentore schon seit Jahren offen und der Weg zur großen ganzen Ergebenheit ist nicht mehr so weit. Ähnliches darf ich auch über das aktuellste Album in dieser Liste schreiben, denn der Boden für "Winter Ethereal" ist im Prinzip gleichfalls seit Jahren vorbereitet. 

Und so schrieb ich es bereits vor wenigen Monaten ins Internet hinein: wenn es in den 35 Jahren meiner Leidenschaft für Musik eine Konstante gibt, dann ist es Progressive Rock und Metal, meinetwegen in allen Spielarten, Subgenres und Auswüchsen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Affinität tatsächlich wiederbelebt werden musste, möglicherweise gilt das höchstens und im Besonderen für aktuelle Bands und Platten, aber "Darkness In A Different Light" und vor allem "Theories Of Flight" von Fates Warning waren zweifellos verdammt laute Weckrufe für ein Genre, das ich nicht unbedingt im Verdacht hatte, mich nochmal derart zu begeistern. Vor diesem Hintergrund ist es vermutlich keine riesige Überraschung mehr, "Winter Ethereal" bereits ein gutes Jahr nach der Veröffentlichung schon in einer Bestenliste für das ganze Jahrzehnt zu sehen. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Und da schließt sich folgerichtig ein weiterer Kreis für "Winter Ethereal", sind John Arch und Jim Matheos doch die teils ehemaligen (Arch), teils noch aktiven (Matheos) Protagonisten von Fates Warning. Sieben Jahre nach dem Debut "Sympathetic Resonance" haben die beiden Superhelden im Jahr 2019 alle Regler auf Anschlag gedreht: Virtuosität, Kraft, Melodie, Komplexität, Tiefe, Klang - viel mehr ist für einen, der den jüngeren Entwicklungen im Metal mit einiger Skepsis gegenübersteht, kaum mehr vorstellbar. Keine aufgesetzte Härte, kein martialisches Herumprotzen, kein Image-Dachschaden, keine nukleare Atomreaktor-Produktion, stattdessen echte Durchschlagskraft durch überragende technische Fähigkeiten, ein über alle Ebenen gespanntes und bis in die letzte Ritze totalarrangiertes Melodieverständnis und mit John Arch ein Sänger, der die komplette Kontrolle über alle lyrischen Höhen und Tiefen hat und sich wie entfesselt durch diese neun Songs schraubt - unaufhaltsam, uneinholbar, unnachahmlich. Sollten sich von seiner Entscheidung, künftig nicht mehr auf Tournee gehen zu wollen, Indikationen auf das baldige Ende seiner Gesangskarriere ableiten lassen, so hat sich dieser Mann mit "Winter Ethereal" sein eigenes, ultimatives Denkmal gesetzt. Ich wüsste auch ehrlich gesagt nicht, was noch einer solchen Darbietung noch kommen soll. 

Herzklopfen. Feuchte Hände. Freudentränen. Ein echter Meilenstein des Heavy Metal. 




Erschienen auf Metal Blade, 2019. 



04.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Segue - Over The Mountains




SEGUE - OVER THE MOUNTAINS


Segues 2013 erschienenes Album "Pacifica" war sowas wie ein Überraschungserfolg im Nischensegment Dub Techno und Ambient; immerhin ließ das Label Silent Season verlauten, man sei von der Geschwindigkeit, in der die 300 gepressten CDs ausverkauft waren, auf dem falschen Fuß erwischt worden. Die kurz darauf folgende Veröffentlichung der LP war ebenfalls in nullkommanix aus allen Katalogen gestrichen und wurde erst fünf Jahre später neu aufgelegt - und Neuauflagen sind für ein Label wie Silent Season alles andere als selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund wäre die Nennung von "Pacifica" in meiner "Das Beste des Jahrzehnts"-Aufstellung sicher kein Fehler gewesen. Mal ganz davon abgesehen, dass es ganz zweifellos eine sehr tolle Platte ist.

Es hat allerdings seinen Grund, weshalb ich vor einigen Jahren im Review zu "Over The Mountains" schrieb, das Album müsste "bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden": Jordan Sauer wagt sich auf seinem zweiten Album auf Silent Season weiter ins offene Wasser hinaus als zuvor und eröffnet sowohl seinen Sounds als auch seinen Zuhörern völlig neue Perspektiven auf das Leben, die Natur, den Geist und die Seele - und krempelt damit im Prinzip ein ganzes Genre auf links. So wie es eben alle Großen tun. Die klangliche Ästhetik seiner Produktionen, die sehr geschmackvollen und bildhaften Sounds, die nach sattem, im milchigen Morgendunst liegendem und in Nebel gehülltem Grün klingen, nach verschlungenen und unberührten Pfaden durch mystische Wälder, sind völlig einzigartig, erhebend und inspirierend.

Niemand klingt so wie Segue.

Haben wir eigentlich alle schon geschnallt, wie glücklich wir uns mit dieser Musik schätzen können?





Erschienen auf Silent Season, 2016. 

26.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können. 

Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen. 

Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente. 

The Sea And Cake ist Leben. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018.