Ich habe mich lange davor gedrückt, über "Safety In A Number" zu schreiben. Tatsächlich ist dies der letzte Text, den ich für meinen 2015er Jahrescountdown geschrieben habe; für alle anderen Kandidaten gab es irgendwann den richtigen Moment und die richtige Stimmung, bei Brock van Weys zweitem Album des abgelaufenen Jahres ("A Step In The Dark" erschien außerdem einige Monate zuvor) hat das nicht geklappt, und es wäre nur ein Klischee davon zu sprechen, "A Safety In A Number" ließe mich sprachlos zurück.
Und doch ist etwas Wahres dran.
Es fällt mir schwer "A Safety In A Number" einzuordnen, sowohl in Brock's Oevre insgesamt, als auch persönlich und emotional, und ich kann mich nicht daran erinnern, so etwas schon mal über seine früheren Platten geschrieben oder auch nur gedacht zu haben. Bei seinen Meilensteinen "The Art Of Dying Alone" aus dem Jahr 2010 und "Home" (2014), die beide ohne jeden Beat auskommen und stattdessen mit sakraler Aura den dicksten Sentimentalistätsteppich des Universums ausrollen, war ich ob der Schönheit und Eleganz mental gelähmt, "Safety In A Number" rückt mir emotional aus einer anderen, noch intimeren Richtung auf die Pelle. Mir scheint es, als wäre mittlerweile wirklich jede Distanz zwischen mir und seiner Musik aufgelöst worden. Das mag sich etwas heikel lesen, unangenehm zumal, aber ich hatte ich irgendwann dazu entschlossen, es zuzulassen. Und im Grunde hatte ich auch keine andere Wahl, um dieser Platte auf Augenhöhe zu begegnen. In der Zwischenzeit hat sich aus meiner bewohnten Lebensbubble und dieser Musik eine Symbiose entwickelt, die Schutz, Inspiration, Heilung und Weisheit im ständigen Austausch bietet - was möglicherweise auch als Nachhall zu den Texten zu verstehen ist, die dieses Mal tatsächlich zusammenhängende Sätze und damit Inhalte aufs Tableau werfen und nicht wie früher in erster Linie von Klang und Timing abhängig waren.
Brock bezeichnet "Safety In A Number" als den persönlichen Zenith seiner Ambientmusik, für mich ist es mittlerweile zu "The Art Of Dying Alone" und "Home" aufs Treppchen gesprungen - in eine ironiefreie, sehr persönliche und dadurch sehr vertraute Zone. Ein Rückzugsort.
Erschienen als Privatpressung Brock van Wey, 2015.
"Black Messiah" ist das "Chinese Democracy" des Rhythm & Blues. Unzählige Male angekündigt, genauso oft wieder verschoben, entwickelte es sich gleichfalls zu einem Mythos, auch wenn die Hintergründe der Produktion und der Befindlichkeiten der führenden Köpfe zumindest in Teilen andere waren. D'Angelo, nach seinen Erfolgen mit "Brown Sugar" und ganz besonders dem 2000er Klassiker "Voodoo", überwältigt von Ruhm und seinem Status als Sexsymbol, tauchte ab - und das ist wortwörtlich zu verstehen: in die Untiefen von Scotch- und Wodkaflaschen. Es folgte das übliche Programm mit Anklagen wegen betrunkener Autofahrten und Besitz von Marihuana, verbunden mit Polizeibildern, die einen kranken und gezeichneten Mann zeigten. Verlassen von allen guten Geistern, Freunden - und vom Label, das 2005 keine Lust mehr hatte zu warten.
Nach einer Entziehungskur Mitte der nuller Jahre begann D'Angelo damit, mit vereinzelten Liveauftritten Fuß zu fassen und nahm die Arbeiten an dem Album wieder auf, das nach vierzehn Jahren Wartezeit schließlich im Dezember 2014 unter dem Namen "Black Messiah" praktisch aus dem Nichts erschien. Keine wochenlange Marketingkampagne, kein Social Media-Dauerwerbefeuer, keine fancy Teaservideos, keine Ankündigung in der Presse. Es war eben auf einmal da. Nach vierzehn Jahre Wartezeit. Ursprünglich sollte "Black Messiah" erst 2015 veröffentlicht werden, die Vorfälle in den USA rund um die Ermordung von Michael Brown in Ferguson und Eric Garner in Staten Island brachten ihn jedoch kurzfristig dazu, seine Pläne zu ändern und das Album noch im Dezember 2014 in die Läden zu bringen. Taktisch kommerzielles Kalkül oder der Drang, ein wichtiges und künstlerisches Statement in diesen Zeiten zu platzieren? Der Zyniker sagt "Taktik!", ich sage:"Sowohl als auch." Call me Mutter Theresa.
Interessant war dann das Verhalten jener Musikpresse zu beobachten, die ihre Jahresbestenlisten schon Ende November in die virtuelle Welt pupst - und die dann ziemlich dämlich aus der Wäsche geguckt haben muss. Zwar drückten einige Publikationen die Scheibe noch in letzter Sekunde in ihre Jahrescharts, ob das aber auf ausreichender Auseinandersetzung geschah, oder nur um die Relevanz von "Black Messiah" zu würdigen - wer soll's wissen?
Ich natürlich, dess es geht in erster Linie um Relevanz. Und auch das konnte man an den Reaktionen im Internet ablesen: es gab praktisch kein schlechtes Wort zu lesen. Wie auch, wenn das schwarze Amerika sich gerade von Polizeigewalt und -willkür bedroht sah und mit diesem, auch noch programmatisch betitelten "Black Messiah" eine Stimme bekam? "Black Messiah" war und ist mehr als nur Musik, es ist zu gleichen Teilen Statement und Trost, Kampfansage und Heilung, Selbstbewusstsein und Identität. Wer sollte dagegen ernsthaft opponieren?
"It’s about people rising up in Ferguson and in Egypt and in Occupy Wall Street and in every place where a community has had enough and decides to make change happen." (D'Angelo)
Einbettet wurde dieser intellektuelle Überbau in den eigenständigsten und heißesten Soulfunkjazz seit den großen Zeiten von Prince - und da kann jetzt jeder für sich selbst zurückrechnen, wie lange das im Einzelfall sein kann. "Black Messiah" ist ein Wunderwerk: hochmusikalisch mit einer Legion Schichten von Instrumenten und Blickwinkeln, so eigenwillig arrangiert, dass es sich wochenlang mit diesen Songs aushalten lässt, weil es immer etwas Neues zu entdecken gibt, weil nichts auf schnellen Charterfolg und offensichtliche Hits ausgerichtet ist.
Wer nach "Black Messiah" immer noch meint, die heutige Musik wäre unerträglich hohl, oberflächlich und wertlos, darf sich so ganz allmählich wirklich eingestehen, dass die Faulheit und die Ignoranz gesiegt haben. Und für die nächsten Jahre auch bitt'schön die Klappe halten.
Lee Reed ist seit 1996 aktiver Rapper aus der kanadischen Kleinstadt Hamilton. Ich wurde auf ihn aufmerksam, nachdem Propagandhi über ihren Twitteraccount mitteilten, sein Album "Emergency Broadcast" via Bandcamp gekauft zu haben.
Lee Reed ist ein unbeugsamer, wahrhaftiger Kämpfer, ein Anarchist und Intellektueller. Seine Texte wurzeln immer im politischen Widerstand, sie kommentieren gesellschaftliche Auflösungszustände, decouvrieren systemische Korruption, die soziale und moralische Asozialisierung von Machteliten, die Entfremdung der Solidarität, sie entwaffnen Patriotismus und Nationalismus und, ganz besonders auf "The Butcher, The Banker, The Bitumen Tanker": widmen sich der katastrophalen Umweltzerstörung durch den Ölsandabbau in Kanadas Prärieprovinz Alberta.
"The oil sands are the second largest oil deposit in the world, bigger than Iraq, Iran or Russia; exceeded only by Saudi Arabia. Digging the bitumen out of the ground, squeezing out the oil and converting it in into synthetic crude is a monumental challenge. It requires vast amounts of capital, Brobdingnagian technology, and an army of skilled workers. In short, it is an enterprise of epic proportions, akin to the building of the pyramids or China’s Great Wall. Only bigger." (Stephen Harper, 2006)
Auf "The Butcher, The Banker, The Bitumen Tanker" findet sich außerdem der Song des Jahres - und das wird nicht diskutiert, Ihr Ficker:
"We bombed Hiroshima, we bombed Nagasaki, and we nuked far more than the thousands in New York and the Pentagon, and we never batted an eye... and now we are indignant, because the stuff we have done overseas is now brought back into our own front yards. America's chickens are coming home to roost. (...) (Jeremiah Wright)
Musicians should stay out of politics? Is that right? Did somebody say that? Is that a great Canadian belief? Is that it, that your provision should be considered and weighed carefully when deciding whether you have freedom of speech? That just doesn't make sense to me. (Neil Young)
An die allgegenwärtigen Weichzeichner-Scheißhausbands, die meinen sie seinen punk, rebellisch, aggressiv und gefährlich: Fuck ya!
Gemessen an den neuerdings eingeführten Statistiken von Last.fm, habe ich im abgelaufenen Jahr kein anderes Album so oft gehört wie "The Good Fight" von Amir Mohamed el Khalifa aka Oddisee. Natürlich sind die Zahlen verfälscht, da die Vinyl- und CD-Umdrehungen in meinen dreikommaviernull Quadratmetern logischerweise nicht mitgezählt werden, und der Preis für das meistgehörte Album 2015 demnach auch an andere Kandidaten vergeben werden könnte. Trotzdem ist das schon ein eindrückliches Zeichen, zumal der Abstand zu und im Vergleich mit den Abständen der folgenden Plätze immens ist.
Seit "People Hear What They See" aus dem Jahr 2012 habe ich einen Narren an seiner Musik gefressen; für die beiden Nachfolger "The Beauty In All" (Instrumental) und "Tangible Dream" habe ich auf diesem Blog folgerichtig ebenfalls schon die Konfettikanone gezündet, und die beiden Gigs, denen ich beiwohnen durfte, waren angesichts der umwerfenden Musikalität, der positiven Kraft und Leidenschaft echte Sternstunden meiner Karriere als Konzertgänger.
"The Good Fight" ist einerseits noch songorientierter und kompakter als "People Hear What They See", andererseits ist es bei Licht betrachtet stilistisch noch schwerer zu verorten als seine früheren Arbeiten. Es geht nicht wirklich um Schubladen, denn natürlich kann das alles noch unter Hip Hop einsortiert werden, und es ist auch keine Überraschung, dass sich Oddisees Roots in der Wolke, der Aura dieses Albums finden lassen. Was er dann aber letzten Endes aus diesen Songs macht, geht viel, viel weiter als das, was in den letzten 20 Jahren in diesem Genre passiert ist - was ausdrücklich all den avantgardistischen Krempel einschließt. Im Grunde konserviert er die Musikalität seiner Liveband Good Company auf diesen Songs, die so vielschichtig, deep, melodisch, smart und kreativ zusammengebaut wurden, dass es schon eine Reihe extraguter Musiker braucht, um sie in und mit einem Bandgefüge auf eine Bühne zu bringen. Dazu kommt ein Überbau aus Intellektualität und Urbanität und aus der Freude am Leben, der offensichtlich kaum wahrnehmbar ist, dafür aber in den tiefer liegenden Schichten diesen ganz besonderen Vibe zum Schwingen bringt.
Und wie er am allerschönsten schwingt zeigt dieses Video von niederländischen Into The Great Wide Open-Festival, das hier auch stellvertretend und kommentarlos mit meinem Roman hätte ausgetauscht werden können: vom fünf- bis sechzigjährigen tanzt, lacht, singt und klatscht hier jeder, der noch gerade stehen kann. Ab der Mitte des Songs sogar im strömenden Regen.
Sommer 2015, August. Urlaub in Lübeck. Die über sechsstündige Autofahrt wird versüßt von George Fitzgeralds neuem Album "Fading Love". Selbst die Herzallerliebste ist Feuer und Flamme.
Mit Fabbi am Hundestrand in Scharbeutz. Es ist warm, die Luft schmeckt nach Meer, salzig. Immer mit dabei: "Fading Love", auf jedem gefahrenen und gelaufenen Meter. Selbst Fabbi könnte die Melodien mittlerweile wohl mitpfeifen. Wenn Hunde pfeifen könnten.
"Fading Love" war der Soundtrack unseres Sommers und wird für immer mit dieser Zeit verknüpft sein. Die letzte Platte, die das ähnlich eindrücklich schaffte, was "Menos El Oso" von Minus The Bear. Und wermeine irrationalen Huldigungen zu jenem Album kennt, weiß ungefähr, wie super und super und außerdem: total super "Fading Love" ist.
Fernsehen in den frühen neunziger Jahren bestand für mich zu einem großen Teil aus dem unverschlüsselt gesendeten Programm des damaligen Bezahlsenders Premiere. Der Night Talk mit Bettina Rust, Showbiz und Acht mit Susan Atwell, Oliver Kalkofes Mattscheibe und natürlich Roger Willemsens Talkshow 0137. Willemsen gefiel mir vor allem aufgrund seiner und der für einen pubertierenden völlig absurd erscheinenden zwei Gesichter: er war schlau, smart, vielleicht ein bisschen kokett, baute seine Fragen und Geschichten aus formvollendet formulierten, druckreifen Monologen und war andererseits erfrischend respektlos und unprätentiös; ein Schlacks, der zweifellos aus gutem Hause kam, aber der es verstand auf dieser dünnen Linie entschlangzuschlendern, die Autorität von Anarchie trennt, und der außerdem Krawall für vornehm hielt, wenn er absolut wahrhaftig und sowieso unumgänglich erschien. Ein Helmut Markwort wüsste selbst nach den nächsten 1000 kalten Wintern ganz bestimmt noch sofort, was ich damit meine.
Roger Willemsen ist am gestrigen Sonntagabend in Hamburg an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben, und ich bin wirklich getroffen von dieser Nachricht. Er war mir besonders in den letzten Jahren ans Herz gewachsen, sein strahlender Intellekt, sein Ausdruck, sein Humor, seine Begeisterung, seine Wahrhaftigkeit und die Nachricht, die ebenjene aussandte: Folge Deiner Leidenschaft, folge dem, was Dir Freude bringt - aber auch ganz besonders beeindruckend seine zweifellos vorhandene Albernheit, das kindlich naive und der Mut, seine intime und emotionale Seite zu zeigen und sie mit einem Trommelfeuer an Formulierungen zu vertreten; Formulierungen zumal, die mir in ihrer Brillianz ein ums andere Mal ins selbstverschuldete Subtext-Exil zuriefen, die Schreiberei, und sei sie noch so trivial und privat und wirklich völlig egal, an den Nagel zu hängen, weil so gut und so frei ich wohl niemals schreiben könnte.... - Dabei spornten sie mich aber eigentlich an, jeden Text gleich besser zehn oder wenn nötig gar zwanzig Mal zu redigieren, Formulierungen zu überprüfen, mich selbst die ganze Zeit zu hinterfragen: "Für diesen Satzbau hätte er mich doch ausgelacht, Mann!"
Egal, welches Videointerview man auf Youtube auch auswählt, sein Auftritt und seine Worte werden immer inspirierend sein. Ich lege mir heute Abend noch sein mit dem gleichfalls mittlerweile verstorbenen Dieter Hildebrandt entwickeltes und aufgeführtes Bühnenprogramm "Ich gebe ihnen mein Ehrenwort - Die Weltgeschichte der Lüge" in den CD Player und erinnere mich an einen großen, wichtigen, schreiend komischen und schrecklich schlauen Menschen.
Tschüss Roger. Du fehlst.
P.S.: Man verzeiht mir bitte die Unterbrechung der musikalischen Dauerwerbesendung, aber das war mir wichtig.
Na, wo warst Du, als Du zum ersten Mal "The Epic" gehört hast? Ich weiß noch, wie und wo ich es zum ersten Mal hörte; für gewöhnlich brennt sich so ein Erlebnis ja nur dann ins Gedächtnis ein, wenn das Gefühl neben den Lauschern entlang spaziert, etwas Wichtiges oder Großes zu hören - jedenfalls geht mir das so. Ich kann mich schließlich auch noch an mein erstes Mal mit "Smells Like Teen Spirit" erinnern.
"(...) es war im Wohnzimmer der frisch verkabelten elterlichen Wohnung, dunkelbraune Auslegeware, braunes Noppensofa (Mutmaßungen, was ein Noppensofa ist gerne in die Kommentarspalte), ein schwerer, gleichfalls dunkelbrauner Raumteiler so groß und schwer wie die verfickten Alpen. Halbgrauer Herbstnachmittag, MTV. Ich hatte noch nie einen Ton von dieser Band gehört, aber mir knallte alles durch. Ich sprang über die Noppen im Sofa abwechselnd auf den Sessel, auf die 2er- und 3er-Couch, setzte zum Torjubel eines Fußballspielers an und bremste auf dem krausen Teppich mit den Knien direkt vor dem Fernseher. Es tat nicht weh, das Adrenalin unterdrückte jeden Schmerz."
Ich hörte "The Epic" zum ersten Mal an einem Sonntagnachmittag im Mai 2015, während ich mein Plattenregal sortierte. Es war ein Tweet, der mich auf eine Seite mit dem kompletten Albumstream leitete, und als ich das dreistündige Mammutwerk erstmals hinter mir gelassen hatte, drückte ich umgehend erneut die Play-Taste. Ich stand in Flammen. Ich war wirklich aufgeregt, immerhin so aufgeregt, dass ich noch am selben Tag eines meiner frühen Instagram-Post absetzte, mit einem Screenshot der Labelseite von Ninja Tune und mit aus heutiger Sicht immer noch nachvollziehbarer "You got to hear this!"-Übertreibung im Text:
Ein paar Tage später verfasste ich sogar einen Blogpost zu "The Epic" - sogar drei Tage vor einem entsprechenden Artikel in der ZEIT, dem "knalligen Jugendmagazin aus Hamburg" (Harald Schmidt) - remember, where you read it first!
Das Album wirbelte in den kommenden Wochen und Monaten ganz schön viel Staub auf: Das Feuilleton feierte wie von Sinnen die Rückkehr des Jazz (und außerdem die Rückkehr der Leser), Qualitätsmedien wie der Spiegel bezahlten Qualitätsschreiber wie Andreas Borcholte für das Abschreiben des Pressetexts - weil: wer kann, der kann - und selbst Fans von breitbeiniger Rockmusik, die Jazz bis dahin als spaßfeindlich, intellektuell, elitär - kurz: "Schwuuul!" (Matussek) ablehnten, entdeckten plötzlich das Saxophon für sich. "The Epic" sahnte in Deutschland sogar eine goldene Schallplatte ab. Das muss man sich alles mal auf der Netzhaut zergehen lassen: ein 180-minütiges Jazzalbum auf einem Indielabel im Jahr 2015 gewinnt eine goldene Schallplatte in Deutschland. Wo wenn nicht hier, wäre ein besserer Moment, die Sackgesichter der für die RWE arbeitende Werbeagentur und ihre Scheißhausparole "Sind wir Deutschen denn eigentlich verrückt geworden?" zu erwähnen?
Nun ist's aber so: die Jazzszene ist in weiten Teilen tatsächlich spaßfeindlich, intellektuell und ganz besonders elitär - das ist zwar nicht "Schwuuul!" (Hans-Peter, 58, Kegelclub "Alle Neune"), führt aber zu einer teils bizarren Ablehnung von allem, was ihre heiligen Hallen mit unreinem und unheiligem Unrat verschmutzt. Unrein und unheilig wird es vor allem dann, wenn der Scheinwerfer allzu hell und grell die dunklen Ecken der ollen verstaubten Jazzbar ausleuchtet und dadurch also Gäste kommen, von denen man sich in jahrzehntelanger und harter Detailarbeit so schön abgrenzte. Das ist wie in der kleinen Stadtteilspelunke um die Ecke: jahrzehntelang sitzen hier die Schwerstarbeiter aus den umliegenden Fabriken unbehelligt von der modernen Welt beim ruhigen und tranigen Feierabendbesäufnis, und plötzlich stürmt eine Horde 16-jähriger Teenies die Kneipe, lässt Skillex und Taylor Swift über die Handylautsprecher deren "abominations unto the Lord" (John Oliver) hinausplärren, alles riecht nach Axe "Uganda", sie bestellen KiBa-Weizen - da fühlt man sich einfach nicht wohl. Das kratzt, das wird ungemütlich, man will die respektlose Brut am liebsten einfach rausschmeißen. Genau so geht's der halbwegs eingeschworenen Jazzgemeinde, und nichts belegt das schöner als das Webforum einer größeren deutschen Musikzeitschrift von "den Wichsern von Springer" (Blank When Zero):
"Klingt für mich nach Coltrane ( ca 1964) mit Chorsätzen des "It's Time"-Albums von Roach - und das alles auf mäßigem Niveau. (...) Ich höre durchschnittlichen Post Bop."
"Was für ein substanzloses Gedudel. (...) Süßliche Endsiebziger-Radiojazz-Melodik, schmalzige Chöre, ein Saxophonist, der Übungspatterns sinnlos aneinanderreiht, und bei jedem Solo hört man, dass er nicht weiß, was er als Nächstes spielen soll. (...) Wieso darf der ein Album machen? Grausig."
"Mich hat dieser quasi schon vorab feststehende Meisterwerk-Status auch gestört. Nur weil sich jemand 30 Tage einschließt und ein 3 Stunden-Machwerk rausbringt, ists kein neues Bitches Brew."
"Ach, und Thundercat ist nun auch nicht gerade der herausragende Bassist."
"Es langweilt mich. Das Schlagzeug hört sich nach schlechtestem Pop an, überhaupt scheinen die alle an einer Jazzakademie studiert zu haben. (...) Das Chorgeplänkel ist aber wirklich albern und das Streicherzeugs auch."
Orthografie- und Satzzeichenfehler wurden aus Gründen der Authentizität selbstverständlich übernommen.
Nun arbeite ich seit Jahren daran, mein Toleranzlevel in schwindelnde Höhen zu schieben und natürlich respektiere ich als Vorsitzender der "Sossenheimer Akademie für freie Meinungsäußerung - es sei denn die von Arschlöchern e.V." jede Meinung, aber come on: that's just a fuckin' pile of fuckin' bullshit.
Freilich ist immer ein bisschen Vorsicht angebracht, wenn vor allem genrefremde Musikfreunde plötzlich zu Jazzern werden - zu leicht blendet der Hype die Sinnesorgane und man muss heute mehr denn je aufpassen, mit welchen Wölfen man heult. Aber total egal ist's dann eben trotzdem: "The Epic" hat auch nach knapp acht Monaten nichts von seiner Faszination eingebüßt. Natürlich hat das nicht die politisch und sozialkulturell aufgeladene Wucht der 1960er Jahre, natürlich ist das Panorama von "The Epic" mit Edelweichspüler bearbeitet, natürlich ist das in der Ansprache sanfter und bedachter - das ändert aber nichts an meiner Wahrnehmung:
"The Epic" ist ein opulentes, tiefes, spirituelles, herausragend komponiertes, brillant gespieltes, mitreißend arrangiertes und modernes Crossover Jazz-Album, das sowohl das freie Spiel eines mittelalten John Coltrane als auch die modalen Post Bop-Spirituals der 1970er Jahr von Pharoah Sanders oder auch Alice Coltrane streift und sie mit Soul- und sogar Pop-Elementen umrankt, aufhübscht, garniert - und nicht zukleistert.
Donato Dozzy und Guiseppe Tillieci haben für ihre Performance im MAXXI Kunstmuseum in Rom die vom Debut bekannten Dubtechno-Beats in der großen Kiste mit den vielen Ideen gelassen und als Ersatz die noch größere Kiste mit den noch viel, äh, vieleren Ideen geöffnet - eine Schatzkammer des Sounds. "Live At MAXXI" klingt unverschämt gut, so weit und klar, so breit und tief. Ich glaube nicht, dass ich im Jahr 2015 besser klingende Musik gehört habe.
Ich kann nur erahnen, was es benötigt, um als Musiker an einen solchen Punkt zu gelangen. Dozzy und Tillieci sind für ihre akribische Auseinandersetzung mit Sound und -Design bekannt, was sich sowohl auf ihrer selbstbetitelten ersten Platte als auch auf den Arbeiten ihrer anderen Projekte abseits von Voices From The Lake hören lässt. Mit "Live At MAXXI" geht das Duo gleich mehrere Schritte weiter. Auch deshalb, weil sie bis auf wenige, im Gesamtbild des Werks beinahe untergehenden, Momente auf die klassischen Beats verzichteten - das verärgert die Peer Group, die von ihren Helden doch bitteschön immer und immer wieder dieselbe Suppe vorgesetzt bekommen möchte. Aber wer Ohren hat, der höre, denn diese Platte ist ein Meisterwerk des hypnotischen Ambients: jedes noch so kurze Rascheln, jedes Zucken, jede Fläche, jedes Funkeln, jedes Gluckern hat seinen Platz in diesem Universum, flüstert ins Ohr, reibt sich, fließt, schaukelt, und arbeitet nur auf diesen einen großen Moment hin, auf den "Live At MAXXI" ab der ersten Sekunde ausgerichtet ist. Die abschließende Coverversion "Max" von Paolo Conte ist der himmel-, seelen- und herzaufreißende Höhepunkt.
Das australische Minimal Jazz-Trio hat die Leichtigkeit eingebüßt. Was nicht als qualitative Wertung verstanden werden soll, eher als Beschreibung dessen, was sich auf dem mittlerweile 18. Album als kleine musikalische Polverschiebung äußert. Es wird schwerer, dunkler, dröhnender, und das ist gleichfalls neu: praktisch ab der ersten Sekunde. Wolkenbrüche, Donnergrollen aus der Ferne - und direkt in deine vier Wände. Verwirrung und Orientierungslosigkeit, vielleicht gar ein bisschen Verzweiflung, jedoch immer unüberhörbar autark und erlöst. Das ist ihr Spiel mit der unbedingten Freiheit, nicht nur in der Instrumentierung dieser knapp 44 Minuten, sondern im wesentlichen Mindset, und der Klaustrophobie, der Ohnmacht. Der eigenen Irrelevanz.
Die Auflösungen solcher Ambivalenz sind selten, aber sie sind natürlich ungemein effektiv. Und es sind genau diese Momente auf "Vertigo", die, obwohl grundsätzlich nur mühsam zu dechiffrieren und klanglich mindestens so diffizil und dunkel wie die über- und durcheinander gelegten perkussiven Gewitter, mir fast die Tränen in die Augen treiben, weil sie unvermittelt die Türen zu einer Idee, einem Gefühl der vermeintlich universellen Klarheit und Wahrhaftigkeit öffnen.
Es hat sehr lange gedauert, das zu erkennen, aber ich empfinde die Artikulation ihrer Ansprache bislang noch auf keiner ihrer Platten so deutlich wie auf "Vertigo".
Nach dem eher durchschnittlichen Vorgänger "In Your Brain" aus dem Jahr 2012, das zwar eine Handvoll Hits aufbot, dabei aber viel zu lang geriet und besonders ab der zweiten Albumhälfte deutlich schwächelte, wusste ich zunächst nicht, was ich von "Sound Of Sinning" zu erwarten hatte. Dass die Monophonics eine fantastische Liveband sind, lässt sich via der hochgeladenen Videos auf Youtube bestens nachverfolgen, der Nachweis, ob sie auch im Studio im Stande sind zur Hochform aufzulaufen, stand aber noch aus.
Um es ansatzweise kurz und schmerzlos zu machen: wir können den großen, grünen Haken rausholen, because they fuckin' can! "Sound Of Sinning" hat den offensichtlichsten Mangel von "In Your Brain" beseitigt und ist hinsichtlich der Spielzeit signifikant kürzer ausgefallen, was die Kompaktheit des Albums logischerweise ungemein unterstützt. Die Band läuft selbst in den ruhigeren Momenten ihres R'n'B-, Soul- und Funk-Gemischs auf allen Intensitätszylindern und hat jeden überflüssigen Ballast aus ihren Songs entfernt - was zwar ein bisschen auf Kosten der psychedelischen Elemente ihres Sounds geht, der Platte insgesamt aber zu mehr Fokus verhilft.
Mit "Sound Of Sinning" ist den überzeugten Analogisten, deren Instrumenten- und Equipmentfuhrpark fast ausschließlich aus alten Stücken der 60er und 70er Jahre besteht, das bemerkenswerte Kunststück gelungen, die ihrem Sound innewohnende Pastiche zu überdecken, oder besser: sie umzuwandeln. Mit sprühender Energie und trotz der kraftvollen Umsetzung mit viel Fingerspitzengefühl. Das ist keine alte, rückwärtsgewandte Musik, "Sound Of Sinning" ist zeitloser, deeper Soul.
Dexter Storys Debutalbum "Seasons" war eines der besten Alben des 2013er Jahrgangs: bunt, freundlich, spirituell, hoffnungsvoll und mit einer ganz besonderen Weisheit aufgeladen, die mir ganz gelassen "Alles wird gut" ins Ohr säuselte und danach an einem großen Joint zog. Kein Wunder also, dass ich mich sehr auf und über "Wondem" freute. Und da sind wir auch schon wieder - in der Jahresbestenliste des Jahres 2015, ein herzliches Willkommen.
Der fünfzigjährige Multiinstrumentalist hat für sein zweites Album als Bandleader den musikalischen Fokus aufgeteilt. Wo "Seasons" mitten im San Francisco des Jahres 1972 Seifenblasen über Strand und Hanfplantage pustete, hat Story nach einem Erweckungserlebnis als Gastdrummer in Trompeter Todd Simons Bandprojekt Ethio Cali (u.a. mit Kamasi Washington) die Wurzeln und den Spirit äthiopischer Musik untersucht und in sein künstlerisches Schaffen integriert.
"Wondem" ist ein Amalgam aus dem zur kalifornischen Sonne passenden, mit offenem Geist und offenem Herzen verwirklichtem Lebensgefühl und äthiopischem Jazz mit seinen traditionellen Melodien und Gesängen. Story hatte das ostafrikanische Land noch nie besucht und es dauerte tatsächlich bis kurz vor der Veröffentlichung von "Wondem", bis er durch Äthiopien zog, Land und Menschen kennenlernte und sich mit bekannten Musikern des Landes traf, um sich mit ihnen auszutauschen.
Wie schon auf "Seasons" ist es vor allem die Lebensfreude, die Ausgelassenheit und die kreative Lust am Spiel und an der Musik, die mich so begeistert. Je öfter ich "Wondem" höre, desto offensichtlicher wird die "beautiful soul" dieser Platte.
Es ist 2015 eine große Leistung, nicht zu einem Zyniker zu werden - Story hat es geschafft, dass selbst ich für ein paar Minuten keiner mehr bin.
Jazz aus dem vereinten Königreich lieferte sich in diesem letzten Jahr ein hartes Duell der Sexyness. Auf der einen Seite stand Matthew Halsall und sein Gondwana Orchestra mit der ausgesprochen entspannten "Into Forever"-LP, auf der anderen die Greg Foat Group mit "The Dancers At The Edge Of Time" und ich will ehrlich sein: ginge es nur nach dem Titel, wäre das Kollektiv rund um Greg Foat der haushohe Sieger.
Musikalisch ist er's nun auch, wenngleich nicht so überdeutlich. Das innerhalb von drei Tagen in der Saint Catherine's Church auf der Isle of Wight durchgängig analog aufgenommene Werk hatte letzten Endes wegen seiner hypnotischen, versunkenen Stimmung die Nase vorn, wegen seiner nicht religiösen Spiritualität, wegen seiner komplementären Konzepte in der Ansprache und Ausführung und natürlich wegen der zweitschönsten Auslaufrille des Jahres.
Moderner modaler Jazz kann eine trostlose, stocksteife Angelegenheit sein, dieses vom Pianisten Greg Foat angeführte Ensemble schwingt und swingt, es tänzelt, gräbt sich ein, bricht aus und igelt zusammen, was zusammengeigelt gehört. Fast scheint es, als sei die Geschichte der alten Kirchenmauern in die Köpfe, Hände und Herzen der Musiker gefahren und hätte dabei Zauberwesen vom Planeten Oz gechannelt. Weisheit, Liebe und Verbundenheit. Andächtig in Trance durch Zeit, Raum und Klang schwebend. Wer "Love Theme" gehört hat, weiß was ich meine - und ich würde "Love Theme" auch total gerne verlinken, aber mein Wuntanfall über die GEMA hat mich gerade total aus der Balance gerissen.
Gewöhnlicherweise haben die Herzallerliebste und meine Wenigkeit nur selten ernsthaftere Auseinandersetzungen über die getroffene Musikwahl. Selbst wenn Herr Dreikommaviernull einen seiner zwar seltenen, aber dafür eben nicht gerade leisen Thrash Metal-Anfälle bekommt, herrscht, sieht man von vereinzelten Giftpfeilen ab, wenn es ganz arg doll schlimm wird, meistens durchaus Verständnis im Wohnzimmer. Bei Felix Labands "Deaf Safari"-Album sieht die Sache überraschenderweise ganz anders aus, und dabei sind wir von Thrash Metal gleich ganze Universen entfernt. Bei Laband zeigten sich die Giftpfeile eher als die berüchtigten 16t Gewichte Monty Pythons.
Ich halte das für eine durchaus gesunde Reaktion auf Musik, jedenfalls ist mir kulturelle Reibung lieber als aalglattes Abnicken und windelweicher Konsum. Für beide letztgenannten Punkte ist der Südafrikaner Felix Laband zumindest auf "Deaf Safari" der falsche Ansprechpartner, aber das liegt weniger an seiner Musik, denn die ist so bunt, künstlerisch, melodisch, blumig und sogar sensibel wie auf dem mittlerweile zehn Jahre alten Vorgänger "Dark Days Exit". Vielleicht sind seine Tracks dieses Mal wegen der satten 4/4 Bassdrum tanzbarer und weniger ätherisch, wofür in erster Linie die verarbeiteten Einflüsse aus dem Kwaito-House verantwortlich sind, einem Musikstil, der sich in den 1990er Jahren entwickelte und zum Symbol für die Veränderungen zwischen den Apartheid- und Post-Apartheid-Generationen wurde. Vielleicht schlägt das die inhaltliche Brücke zu den Vocalloops, die "Deaf Safari" zum Leidwesen der Herzallerliebsten so dominieren und die der Platte soviel Kraft und Energie in die Plattenrillen ritzen: aggressives, schamanisches Gebrabbel und Geschrei, Gebete, Voodoo, Zauberei, Beschwörungen, Verfluchungen bis hin zum Vergewaltigungsbericht aus einer Nachrichtensendung. Es sind diese Gegensätze zwischen einer weitgehend entspannten Musik einerseits und provokanten Stimmen und Texten andererseits, die "Deaf Safari" zu einem inspirierenden und sehr intensiven, manchmal ziemlich unangenehm berührenden Album machen.
In diesem Zusammenhang empfehle ich den Griff zur im Vergleich mit der digitalen Ausgabe etwas gekürzten Vinylversion, die kompakter und ausgewogener erscheint und damit gegebenenfalls die Nerven etwas entlastet. Der Downloadcode liegt bei, daher geht auch nichts verloren.