MINUS THE BEAR - LOST LOVES
"Der Buchhalter des Rock'n'Roll" (Frau Dreikommaviernull über Herrn Dreikommaviernull) schlägt wieder zu: Meine weltbesten Weltbestleser haben in den Texten des vor zwei Monate abgeschlossenen "Top 20 2015"-Countdowns möglicherweise entziffert, dass der Radio/Scrobble/Musikentdeckungsdienst Last.Fm im Rahmen des letztjährig durchgeführten Relaunches neue Statistiken einführte; so zum Beispiel die Darstellung über die meistgehörten Alben. Über die Top 4 dieser Liste habe ich bereits geschrieben: Oddisees "The Good Fight", Lee Reeds "The Butcher, The Banker, The Bitumen Tanker", George Fitzgeralds "Fading Love" und "Stillpoint" von Purl, allesamt Alben aus dem Jahr 2015.
Über den fünften Platz der Last.Fm-Liste habe ich noch nicht geschrieben, und ich verdanke es letzten Endes Herrn K. aus S., dass ich die dazu passende Platte überhaupt hörte. Und deren fünfter Platz kommt auch nicht von ungefähr.
Minus The Bear sind ein Phänomen. Seit 2005 gehört die Truppe aus Seattle zu den wichtigsten Bands in meinem Leben. "Menos El Oso" (2005) und "Omni" (2012) kann ich praktisch auswendig mitsingen, und ich halte auch gerne und außerdem mühelos jeder Diskussion stand, die Band habe noch kein auch nur durchschnittliches Album veröffentlicht, wenn man vielleicht von den ersten noch etwas unausgegorenen EPs "This Is What I Know About Being Gigantic" und "Bands Like It When You Yell "Yar!"" absieht. Aber das waren ja auch keine Alben. Wink-Wink.
Trotzdem, oder besser: ganz besonders deswegen schrecke ich oft zurück, wenn die Truppe eine neue Platte ankündigt, wofür ich oft nur großes Unverständnis ernte. Dabei ist die Erklärung dafür vielleicht gar nicht so schwer. Ich habe die Hosen voll. Ich will einfach nicht enttäuscht werden. Ich will, dass ich mir auch in 30 Jahren beim Anhören des dann 127. Minus The Bear-Albums noch denke, dass das manchmal, in gewissen Lebenssituationen und auch darüber hinaus, die beste Musik der Welt ist, erdacht und gespielt von der vielleicht besten Band der Welt. Und ich weiß, dass das praktisch unmöglich ist, zumal das Quintett regelmäßig seinen Sound weiterentwickelt, oft nur in Nuancen, aber das ist immer noch viel mehr als der Mut, den die übliche Indie-Konkurrenz aufzubringen vermag. Irgendwann wird es also soweit sein. Irgendwann werde ich eine ihrer Platten hören und werde enttäuscht sein. Die logische Folge: Von "Lost Loves" wollte ich zunächst auch nicht viel wissen, und erst als der Ploetzenhengst mit eifriger Vehemenz und einem Funkgurken-Dauerfeuer wieder und wieder von dieser Platte schwärmte, knickte ich ein. Glücklicherweise.
"Lost Loves" ist eine Zusammenstellung aus Songs, die in den Sessions für die vorangegangenen drei Studioalben entstanden, also für "Planet Of Ice", "Omni" und "Infinity Overhead", aber es nicht auf das jeweilige Werk schafften. Das klingt zunächst unspektakulär nach öder, beinahe ärgerlicher Resteverwertung, denn wer will schon den Krempel hören, der aus einem meist sehr validen Punkt nicht für das finale Album berücksichtigt wurde? Bei näherem Hinsehen relativiert sich jedoch die Sachlage: In den Liner Notes schreibt die Band, dass es in den Auswahlprozessen für ihre Alben in erster Linie um die Frage ging, wie sich die Songs in das jeweilige Albumkonzept einpassten. Und was sich, aus welchen Gründen auch immer - sei es Sound, Arrangement oder Text - nicht richtig anfühlte, wurde auf die Wartebank ge- und verschoben.
Die Band verweist in diesem Zusammenhang freilich darauf, dass es sich bei den hier vertretenen Tracks mitnichten um B-Ware handelt - was ich mit hochoffizieller Freude bestätigen kann, denn "Lost Loves" ist erneut ein fantastisches Album geworden. Außerdem hat es ein eingebautes Quiz: einfach die Songs anhören und raten, für welche Platte sie ursprünglich geplant waren.
Meine Erfolgsquote ist übrigens ganz gut.
Erschienen auf Dangerbird Records, 2014.