18.06.2014

Multi-Minimalist



DIGGS DUKE - OFFERING FOR ANXIOUS

Es artete beinahe in peinlich hektisches Gerenne aus, um noch ein Exemplar von "Offering For Anxious" zu ergattern. Die Mailorderextremität HHV.de bemerkte vorsorglich, dass es nur eine Platte pro Bestellung und Besteller gäbe, was immer ein sicheres Zeichen dafür ist, sich besser ein wenig zu beeilen. Was außerdem zur Kaufentscheidung trotz kompletter Ahnungslosigkeit darüber, was mich hier erwartete, beitrug: Gilles Petersons Label Brownswood Recordings steckt dahinter und so schlecht kann das also nicht sein. Plus: Brownswood gehen mit ihren Vinylausgaben traditionell sehr sparsam um.

Der erste Duchgang war etwas ernüchternd, aber das lag an meiner Erwartungshaltung, die vermutlich auf extrasmoothen Souljazz hoffte. Ein paar Tage später drehte sich "Offering For Anxious" nochmal mit etwas mehr Freiraum im Oberstübchen auf dem Teller und siehe da: Begeisterung machte sich breit. Diggs Duke ist ein Multiinstrumentalist aus Washington DC, der auf seinem Debutalbum praktisch alles im Alleingang aufbaute. Er schrieb die Songs, er spielte sie selbst ein, er produzierte und mischte sie und dann bastelte er auch noch das Cover selbst. Ein Freak aus dem Bilderbuch, ein hochmusikalischer noch dazu. Duke verzwirbelt in nur 24 Minuten Jazz, Hip Hop, Folk, Soul und Spaceship-Electronica zu einem äußerst schwer zu durchschauenden Potpourri aus fünfzig Jahren Musikgeschichte. Dabei bleibt er erfrischend unkonkret: von Songs im herkömmlichen Sinne kann keine Rede sein, und kaum ist eine schöne Hookline in dieser brodelnden Suppe aufgetaucht, versinkt sie auch schon wieder auf Nimmerwiedersehen im Kurzzeitgedächtnis, im Beatgeschepper, in Flying Lotus'schen Weirdo-Abfahrten, die die Tiefe des Raums ausloten. Wie weit kann man in Sachen avantgardistischer Dekonstruktion gehen, ohne die Seele zu verlieren? Vielleicht exakt so weit.

Erschienen auf Brownswood Recordings, 2014.

17.06.2014

Fifa La Revolucion

Ich muss nochmal flott nachtreten.

Über die seitens des ZDF selbsternannte Satiresendung "Die Anstalt", als Nachfolger zur "Neues aus der Anstalt" Reihe seit Anfang 2014 monatlich ausgestrahlt, kann man sicherlich einiges zum Meckern finden und es ist auch kein Geheimnis, dass das Format des Vorgängers, insbesondere mit dem Weggang des großen Georg Schramm als Partner von Urban Priol, einige Federn lassen musste. Nichtsdestotrotz war ich speziell bei den letzten beiden Ausgaben der Anstalt im April und Mai überrascht, wie gut sich die beiden neuen Protagonisten Max Uthoff und Claus von Wagner mittlerweile eingespielt haben. Zusätzliche Pluspunkte sammelte die Sendung bei mir durch eine von ZEIT Herausgeber Josef Joffe eingereichte Unterlassungserklärung  an das ZDF, weil Claus von Wagner in der Sendung vom 29.April 2014 auf die Verbindungen von Qualitätsjournalisten zu elitären Zirkeln aus Wirtschaft und Politik und den daraus vermeintlich resultierenden Interessenkonflikten hinwies:




Plump und polemisch (= genau meine Kragenweite) könnte man jetzt laut "Ha! Getroffene Hunde bellen!" rufen, aber das Thema ist natürlich - wie dummerweise so vieles auf dieser Welt - bedeutend komplexer. Der oben verlinkte Heise-Artikel stellt die Komplexität in diesem Sinne sehr anschaulich dar.

Die aktuelle Ausgabe der Anstalt aus dem Mai 2014 befasst sich beinahe ausschließlich mit der Fußball-WM in Brasilien und passt deshalb bestens zur vorangegangenen Motzattacke meinerseits.





14.06.2014

Fairplay'n'Foul

Es ist ein moralisches Dilemma, in dem vermutlich nicht nur ich gegenwärtig stecke, und es ist praktisch unlösbar - was die Situation für einen, der es wenigstens für das eigene Wertesystem immer 100% richtig haben will, nicht substantiell verbessert.

Einerseits mag ich Fußball, also das Spiel an sich. Die Taktik. Den Kampf. Meinetwegen auch den vermeintlichen Pathos, wenn es um das Team geht, als dessen Anhänger oder Sympathisant man sich bezeichnet. Mein Vater hat mich zur Frankfurter Eintracht geführt, und das nicht nur im übertragenen Sinne. Mein erstes live angeschautes Spiel der Eintracht im damals noch unter dem Namen Waldstation firmierenden Tempel des Dramas ging 1985 gegen Werder Bremen. Es war ein furchtbares 0:0. Da war ich sieben oder acht Jahre alt, konnte aber schon mit meiner Mini-Fahne in der Hand "WAS IST GRÜN UND STINKT NACH FISCH? WERDER BREMEN!" singen, sehr zur Belustigung der anderen Besucher der Haupttribüne. Mein Vater hat gelacht, meine Mutter zischelte mir ein empörtes "FLORI!" zu, bevor sie meinem Vater mit vorwurfsvollen Blick aus blitzenden Augen "Von mir hat er das nicht!" an den Kopf warf. Damit war ich der Eintracht verfallen. Ein paar Jahre später stand ich in jedem Heimspiel im Block H. Und ich genoss das, ich schaute mir immer alles ganz genau an. Jeden Spieler, jeden Spielzug. Da hatte von "Event" noch niemand etwas gehört, da ging man ins Stadion, um Fußball zu gucken und um mitzufiebern. Damals waren dann zwar auch nur 20000 Fans im über 60000 Menschen fassenden weiten Rund, gerne auch mal nur 8000, wenn es an einem nasskalten Mittwochabend im November, Nieselregen, 4°C, gegen attraktive Gegner wie Bayer Uerdingen ging und man noch dazu von einer Niederlage ausgehen konnte. Aber die 8000 gammelten dann nicht in der Loge herum und schaufelten sich vor dem Breitbildfernseher sitzend frittierte Schweinehaxen rein.

Wird nur das Spiel betrachtet, ist in meinem Buch eigentlich immer alles in Margarine - auch wenn immer öfter dreißig Grottenkicks toleriert werden müssen, um wenigstens ein Mal ein packendes, spannendes, mitreißendes Duell mitzuerleben.

Törichterweise hört das Spiel nicht nach den 90 Minuten auf. Noch weniger als sonst in der Bundesliga, wenn die Horden besoffener und emotional völlig krankhaft aufgeheizter Deppenkommandos aufeinander losgehen, hört es nach den 90 Minuten in diesen Tagen auf, in denen die Weltmeisterschaft in Brasilien läuft. Seit einem Jahr werden alleine schon die Vorbereitungen mit Großdemonstrationen begleitet, die von der Polizei mit sehr großer Gewalt beantwortet und niedergeschlagen werden. Mehrere Menschen sind seit Beginn der Proteste bereits ums Leben gekommen. Hintergrund sind die Kosten des Großereignisses: mit umgerechnet elf Milliarden Euro (etwa 1,2 Milliarden davon werden von der FIFA gesponsort) ist es die teuerste Weltmeisterschaft aller Zeiten. Und es geht um die daraus resultierende Gängelung des eigenen Volks, dessen Bürger nicht nur "für fünf Euro am Tag ein Stadion bauen (dabei krepieren), damit irgendwelche Oligarchen in Zürich oder Rio noch eine Milliarde reicher werden" (Stefan Gärtner), sondern die Gelder lieber in Bildung und Gesundheit investiert sehen wollen. Und ich sitze hier fett vor mich hindampfend auf der Couch in meinen 100qm Deutschland, trinke irgendeine zusammengepanschte Plörre und höre beim Eröffnungsspiel Starkommentator Bela "Ich betone Silben wie ich will" Rethy zu, der dank modernster Übertragungstechnik klingt, als modereriere er gerade die versuchte Mondlandung von Apollo 13. Sehe die mit McDonalds zugeschissene Bandenwerbung, werde von "Hitlers Lieblingsbrause" (Guido Knopp) und der deutschen Kreditanstalt - oh, the irony - mit Knalldeppenwerbung zugemüllt, sehe einen FIFA-Korruptionsskandal nach dem anderen, in dessen Verlauf nun auch die Schlichtgestalt des deutschen Fußballs, der Kaiser Franz, der "Ich sehe keine Sklaven"-Beckenbauer verwickelt zu sein scheint (auch super, wie die "Mia san Kriminell"-Führungsriege des FC Bayern immer wieder und öfter mit dem Gesetz in Konflikt gerät: Rummenigge schmuggelt, Hoeness hinterzieht, mitunter Geld und man munkelt eventuell auch Intelligenz und Mentalhygiene, Beckenbauer hat sich mutmaßlich mit einem Schwarzwälder Schinken in irgendeinem mutmaßlichen Sandstaat mutmaßlich bestechen lassen - mutmaßlich, versteht sich), sehe Menschen, die für den Bau einer zwei Kilometer langen Straße vom örtlichen Busbahnhof zum Stadion enteignet wurden: 129 Familien, die ihre Häuser in Recife im Nordosten Brasiliens im November 2013 innerhalb weniger Tage verlassen mussten und die bis auf wenige Ausnahmen noch heute auf eine Entschädigung warten. Die brasilianische Bürokratie wird's schon richten. Was sie nicht richten wird: dass sich nur die exklusiven Mitglieder der besserverdienenden Mittel- und Oberschicht eine Eintrittskarte für das weltweite "Brot und Spiele"-Narkosemittel leisten können, während rund 700.000 Familien im Land in extremer Armut leben und knietief im Favelas-Schlamm stehen, schlafen und essen müssen. Der Bau der neuen Fußballarenen verschlang so viel Geld wie noch bei keiner Weltmeisterschaft zuvor und es wird uns im Nachgang der Spiele hoffentlich mehr als nur eine Randnotiz wert sein, dass viele der aus dem sprichwörtlichen Nichts gestampften Tempel nach der Weltmeisterschaft als sogenannte weiße Elefanten enden werden. Sie werden nicht mehr gebraucht, für den Fußball gleich gar nicht. Schon gibt es Überlegungen, Arenen zu Hotels umzufunktionieren. In denen dann keiner übernachten wird.

Und dann hören wir unseren Bundesgauck davon halluzinieren, dass sich Deutschland für die Erhaltung von Menschenrechten nicht grundsätzlich vom Griff zur Waffe abhalten lassen soll. Dann mal los, stolze Soldaten! Auf zur Copacabana. Menschenrechte schützen.

Und man toleriert diesen ganzen Schwachsinn, wenn man einschaltet. Und zuschaut. Und man toleriert diesen ganzen Schwachsinn, wenn man nicht einschaltet. Und nicht zuschaut. Es ist allerdings trotz emotionaler Verbundenheit zum Spiel und selbst mit einem eingehaltenen Sicherheitsabstand einigermaßen grotesk, sich dieses Schauspiel mit reinem Gewissen anschauen zu wollen. Wir gehören eben dazu, ganz egal, ob man sich unter Ekelkrämpfen dazu durchringt, zuzugucken oder nicht. Abgesehen davon: ich wette den Namen meines noch nicht gezeugten Kindes, dass wir von all diesem Irrsinn spätestens ab Ende August nie wieder einen Ton hören werden. Von China und der Olympiade, über die Menschenrechte und Tibet und Umweltverschmutzung und Propaganda werden wir ja seit 2008 täglich in unseren Systemmedien zugeschissen. Wir haben ja kaum mehr Luft zum Atmen.

Blank When Zero-Band- und auch sonst -Freund Simon hatte sich zur WM 2010 in Südafrika (über die damals stattfindenden Schweinereien liest man heute ja auch immer noch fast minütlich) ein waschechtes Fußballlied ausgedacht und unter professionellen Bedingungen aufgenommen - und jetzt sogar ein Video dazu erstellt. Ein etwas anderes Video, wenn ich das sagen darf. Angesichts der Trilliarden unterirdisch bekloppter, peinlicher, hirnloser, extreme Fremdscham auslösender, intelligenzfeindlicher, mich zum virtuellen Massenmörder machenden Dreckssongs und Drecksvideos von Menschen, die sich ganz offensichtlich weder die eigenen Schuhe zubinden können noch irgendeine Ahnung von Würde und Demut haben, dafür aber über das Selbstbild eines großen, brodelnden Mithaufens verfügen, ist's eine glatte Wohltat.

HIER GEHT'S ZUM VIDEO

13.06.2014

Beta Blocker





 Quattuor Elementa Vitae: Aqua
 Part 1 of the four elements - Water.
A collection of deep dubtechno and ambient.

Wer im Moment wie meinereiner mittels ärztlich verordneter Auszeit aus dem Verkehr gezogen wurde und also die derzeit sehr deutlich fühlbaren 87°C im Schlafzimmer mit aktiver Entspannung und frischer Wassermelone und, wie bei einer Walrettung, mit nassen Lappen bekämpfen muss, der hat mit der Dubtechno-Zusammenstellung des Greifswalders DaTilt einen neuen partner in crime gefunden.

Über zweieinhalb Stunden kann die warme Suppe durchs Hirn wabern und besonders gestern Morgen, als eine kleine Abkühlung durch Sossenheim zog, ich eine Schmeißfliege rettete (!) und eine Schwalbe gegen das Wohnzimmerfenster flog (es geht ihr gut!), und ich in der Küche den ersten und einzigen Kaffee des Tages braute, war es vielleicht für diesen Moment die beste Musik.

 Die Tracklist:

1. Velge Naturlig - Waterstone [Portugal]
2. Shrine - The Iron Water [Bulgaria]
3. Vytis - Rain Meets Fog [-]
4. Mr. Cloudy - Recluse [Russia]
5. Segue - Snow Dub [Canada]
6. The Nautilus Project - Late Summer Memories [Germany]
7. Yagya - As it is [Iceland]
8. Mr. Cloudy - Increase [Russia]
9. Rajaleidja - Heli [Estonia]
10. Brickman - In The Rain (Version 1) [Russia]
11. cv313 - Clouds Beyond [USA]
12. S. Crosbie - Mid Blue [UK]
13. Gradient - Illuminated (October Rain Variant) [Russia]
14. Yagya - Like The Noise Of Great Waters [Iceland]
15. Havdis - There's Beauty In Sadness [Norway]
16. Textural Being - Shore [USA]
17. Urenga - Shelf Cloud (Pacific Tide) [Hungary]
18. G.R.I.T. - Endless Waves (P.Laoss Remix) [Germany]
19. Joergmueller - Walk With me [Germany]
20. Mystica Tribe - Meditation Stick [Japan]
21. M. Rahn - Gama [Germany]
22. Voices From The Lake - Drop 1 [Italy]
23. Audub - Days To Come [France]
24. The Nautilus Project - Blue Dawn [Germany]
25. Sandwell District - Immolare (Function Version) [USA]
26. Nick Dunton - Oikumene (65000 Leagues Mix) [UK]
27. Grad_U - Sunrise I [Lithuania]
28. Grad U - EV -4 [Lithuania]
29. The Nautilus Project - Rain In The Forest [Germany]

Einmal streamen, bitte: 



Downloaden darf man das Set übrigens auch.

Bitte, Danke, Enjoy.


11.06.2014

Mit Anlauf



KELIS - FOOD


Seems like no one is surprising
Anymore, it's not that I'm
Ungrateful, I'm just a little bored

Beim Durchklicken der zumindest deutschen Internetreviews zu "Food", dem sechsten Album der US-amerikanischen Diva, kommen einem zum wiederholten Male die Tränen: überall werden die selben öden Redundanzen präsentiert. Wer auch nur unfallfrei das Textverarbeitungsprogramm öffnen kann, bringt irgendeine verkackte Analogie zum Essen (wegen, Achtung festhalten, kommt ihr nie drauf: "Food" - Irre!), jeder schreibt, dass Kelis sich in den letzten Jahren zur Köchin hat ausbilden lassen, jeder verweist auf ihre erfolgreichen Singles unter Beteiligung von Produzent Tic, Tric und Trac oder dem Hustinettenbär oder, Gott bewahre: Bohlen, und auf die kommerziell sich mit ebenjenen nur selten auf Augenhöhe treffenden Alben. Macht sich eigentlich niemand mehr einfach nur eine Handvoll eigene Gedanken?

Dabei gäbe es soviel Relevantes zu erzählen. Kelis hat sich nach Ausflügen in die Bereiche Dancefloor, R'n'B, Hip Hop und Elektropop mit "Food" stilistisch freigeschwommen, und das nicht zum ersten Mal. In allererster Linie liegt das an Produzent Dave Sitek, denn das Gründungsmitglied der New Yorker Indiekapelle TV On The Radio hat "Food" deutlich seinen Stempel aufgedrückt. Stark perkussiv, rhythmisch bisweilen hochspannend mit allerlei Latin- und Salsa-Einflüssen arrangiert, marschieren dazu wahre Felsmassive von Saxofonen, Trompeten und Posaunen durch die dreizehn Songs, deren Soundästhetik durchgängig an Siteks Hauptband erinnert. "Food" ist dabei genauso wenig futuristisch wie klassisch, was in meinem Buch mindestens genauso charmant ist wie die Tatsache, dass die Platte, nimmt man den ein oder anderen geharnischten Kommentar auf Last.fm zum Maßstab, so manchen Fan wenigstens zu Beginn leicht vor den Kopf stößt. Nicht, dass es nicht verständlich wäre, denn "Food" ist nicht das, was zu erwarten war. "Food" ist, mit dem Mut zur Verzweiflung seelenruhig ausgesprochen: Pop. Und zwar ausdrücklich die komplette Platte, die zu gleichen Teilen so stimmig und kohärent wie abwechslungsreich und vielfältig ist. Leicht hätte Kelis den Mainstream-R'n'B bedienen können, die Stimme und das Charisma hat sie gleich drei Mal. Sie entschied sich stattdessen für einen Stilmix, der vor allem dann höchst eigenwillig ist, wenn man in die Tiefebene der Songs eintaucht und plötzlich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. So viele Einflüsse, so viele Funken - und am Ende ist und bleibt es eine richtig spannende und neue Platte von Kelis.

Und am Wegesrande: mein persönliches Highlight ist das schunkelnde, funkelnde und überaus amüsante "Floyd", aus dem auch das oben stehende Zitat entnommen wurde und über das ich beim ersten Hören laut lachen musste.

Erschienen auf Ninja Tune, 2014.


31.05.2014

Tanzschule



KEV BEADLE PRESENTS PRIVATE COLLECTION
Independent Jazz Sounds from the 70s and 80s

Die Liste der Platten, die teils schon seit Jahren auf eine ausführliche Behandlung innerhalb dieser 3,40qm warten, ist Legion. Und immer wieder dann, wenn ich vor dem Regal stehe und mir den nächsten Kandidaten für eine gemeinsame Runde auf dem Plattenteller aussuche, stolpere ich über genau jene Scheiben, die schon auf zig Notizfetzen, ob nun virtuell oder analog, verewigt wurden, auserkoren für drei halbsteife Sätze, die ich zu irgendwas prachtvoll erigiertem hochjazzen will. Weil's mir halt doch manchmal wichtig ist, sie zu würdigen - man verbringt bisweilen viel Zeit mit ihnen, verwächst mit ihnen und manchmal, im besten Fall, tragen sie mit dazu bei, dass sich das Leben ändert. Weil sie einen neuen Weg zeigen, weil sie inspirieren.

Für gewöhnlich stehen insbesondere die alten Helden aus meiner musikalischen Blütezeit auf diesen Notizen, wie kürzlich am Beispiel von Nirvana dargestellt, mit denen man nicht nur wegen einer anderen Lebenssituation als Teenager, Schüler und quadratpickliger Pubertätshohlklotz mehr Zeit verbracht hat. Dennoch lege ich wert darauf, dass ich mir die Begeisterung für Neues nicht madig machen lasse - nicht umsonst muss ich jedes Jahr aufs Neue darauf hinweisen, dass die vergangenen zwölf Monate aus musikalischer Sicht die besten seit circa immer waren. Das muss dann inhaltlich nicht mehr viel mit 1991 zu tun haben (und wenn es das täte, könnte ich mir meinen schönen Satz tatsächlich dahin tätowieren, wo die Sonne niemals scheint), aber man entwickelt sich ja weiter. Was ja auch so super ist: wenn 1990 ein Musikredakteur eine neue Metalplatte rezensierte und etwas von "Weiterentwicklung" schrub, wusste man, dass man besser die Finger von der Platte lässt. Heute ist Weiterentwicklung sexy und urban, manchmal geht sie auch horribly wrong, so wrong, wie man es sich nichtmal im ärgsten Alptraum hat vorstellen können, aber grundlegend ist das ja alles gut. "Weiter, immer weiter" wusste schon der Hulk des Fußballabiturs und heutiger mopsfideler Aasgriller O.Kahn ins Mikrofon zu sprotzen, und sofern man sich nicht mittels Überdosis Muskat ins Nirwana bröseln will, stimmt das ja auch.

Wir müssen auf alle Fälle über Kev Beadles Zusammenstellung teils obskurer Jazz'n'Funk-Leichen aus den 70er und 80er Jahren sprechen, und eigentlich wollte ich das schon im vergangenen Jahr tun. Genau genommen war die Doppel-LP fest für die Bestenliste 2013 vorgesehen, rutschte aber aufgrund des Sampler-Formats von der Agenda, verbunden mit dem dürren Gedanken, im Rahmen einer Art Nachglühkabinett jene Platten explizit vorzustellen, die es, gleichwohl wichtig und toll, aus welchen Gründen auch immer nicht geschafft hatten. Die Zeit rast - jetzt ist's beinahe Juni und so sehr ich mich um Konstanz (nicht die Stadt) bemühe, manchmal saust es halt doch schon ganz ordentlich an mir vorbei.

"Private Collection" ist das Ergebnis von Jahrzehnten harter Arbeit des britischen DJs Kev Beadle, der in den neunziger Jahren zusammen mit Gilles Peterson und Bob Jones damit anfing, dem Jazz auf die Tanzflächen Camden Towns zu helfen. Bei der Auseinandersetzung mit dieser Platte darf man sich von den gängigen Jazz-Klischees getrost verabschieden, und vor allem von denen, die sich durch den furchtbaren Mainstream-Jazz der Achtziger entwickelten. Weder handelt es sich um minutenlange Soloeskapaden, noch um wehenden Freejazz-Noise der wilden, freien Sechziger, noch weniger geht es um die gelackten und windelweichen Schulterpolstersakkoträger der achtziger Jahre, die ihr Saxofon manchmal nur dazu verwendeten, die Brötchenkrümel vom achteckigen, schwarzlackierten Frühstückstisch aus Marmor zu blasen. Und mit der unsäglichen Fusionmuckerwichse hat dieser hier präsentierte Sound auch nichts zu tun: das ist wirklich alles wirklich tanzbare wirkliche Musik. Wirklich. Keine Erinnerungen an James Last und keine weichgezeichneten Bilder aus der Glotze, die man vielleicht vom elterlichen Fernsehabend noch kannte. Dafür ist die "Private Collection" ein hochmusikalisches, manchmal exotisches, schwer groovendes, immer hell ausgeleuchtetes Abbild der damaligen Zeit und der Menschen, die in ihr lebten. Was es zu hören gibt, ist mal eine Spur bekannter wie Irakeres “Chekere Song“ oder der Smasher "Freedom Road" der Pharaos, deren "The Awakening"-Scheibe 2013 auf Ubiquity wiederveröffentlicht wurde, mal aber komplett unter jedem Radar: “Open Your Mind“ des Southern Energy Ensembles, über das man selbst heute fast nichts erfahren kann, außer dass im Jahr 1993 ihre einzige Platte (als Re-Issue?) auf Black Fire erschien, oder auch das großartige “Brotherhood“ von Kamal Abdul Alim.

Beadles Zusammenstellung lag zu zahllosen Gelegenheiten auf dem Plattenteller und es ist eine dieser Platten, die es seit dem Erwerb noch nie in das extra vorgesehene Jazz/Funk/Soul-Regal schafften. Immer griffbereit, immer in der Nähe im Neuheiten-Fach - man könnte ja auch mal kurzfristig Lust darauf bekommen. Jetzt, im sich langsam ankündigenden Sommer, wird sich daran auch nichts ändern. Fast schon ein Standardwerk, das allerdings, und auch darauf ist an dieser Stelle hinzuweisen, in jedem Format eine andere Songauwahl auffährt. Vinyljunkies bekommen neun Songs, CD-Anhänger derer zwölf und wer sich den Kladderadatsch als MP3 Download besorgt erhält gleich 16 Tracks.






Erschienen auf BBE Records, 2013.





25.05.2014

Monsters of Tanzbrunnen

Einen kleinen Nachtrag noch zum Nirvana-Kniefall des vorangegangenen Postings:

Ich stieß kürzlich auf dieses unten eingebettete und außerdem ganz ironiefrei wunderbare Video bei Youtube, das Nirvana am 24.August 1991 auf der Bühne des Kölner Tanzbrunnen zeigt, also einen knappen Monat vor der Veröffentlichung von "Nevermind". Der Anlass war das 1991er Monsters of Spex-Festival.

Hierzu sind drei Auffälligkeiten festzustellen:

Erstens: Cobain hatte, im Gegensatz zu der Zeit nach dem großen Erfolg, noch Bock auf "Smells Like Teen Spirit" und spielte den Song so, wie er vermutlich auch gespielt werden sollte.

Zweitens: wie geil die Songs von "Bleach" alle sind!

Drittens: wenn man sich das komplette Video anschaut, und die halbe Stunde darf man schon mal investieren, dann wird man feststellen, wie das Publikum mit fortschreitender Spieldauer immer weiter auftaut. Wo die Reaktionen während "Drain You" noch übersichtlich sind, und ich davon ausgehe, dass nur zwei Handvoll Zuschauer die Band bereits kennt, will man das Trio am Ende gar nicht mehr von der Bühne lassen - was in ein großes Pfeifkonzert mündet, als die geforderten Zugaben ausbleiben.

Und Cobains Gitarrenschmeißeinlage zum Ende des Sets ist großartig. Man achte auf die Gesichter der am linken Bühnenrand stehenden Typen. Es ist köstlich.







21.05.2014

OH SCHEISSE, DU LEBST!



NIRVANA - LIVE AT READING

Im Rahmen meines Livereviews (sowas müsste ich eigentlich viel öfter hier machen, ne?!) zum "Newermind"-Sampler aus dem Jahr 2011, und es löst weniger Schrecken denn Resignation aus, dass das schon wieder fast drei Jahre her ist, schrub ich:
Es ist nicht so, dass ich keinen Grund hätte, über Nirvanas "Nevermind" zu schreiben. Nachdem die Elogen zum zwanzigjährigen Jubiläum im Spiegel, in der TAZ, in der Süddeutschen sowie im Metzgerfachblatt "Tanz, Du Sau!" an uns vorbeigezogen sind, natürlich immer mit einer kaum bis extrem stark auffälligen Vermischung von redaktionellem Inhalt ("Sprachrohr einer Generation", "Verzweiflung", "So jung kommen wir nicht mehr zusammen!") mit plump und clever platzierter Werbung ("DIE DICKE JUBILÄUMSBOX ZUM JUBILÄUM! JUBILÄUM! JUBILÄUM! NUR 800 EURO! JUBILÄUM!"), könnte ich ja mal so tun, als ob sich irgendeine alte Sau noch dafür interessiert, was ich über "Nevermind" zu sagen hätte. Das Problem ist jedoch, dass ich mich nach zwanzig Jahren selbst nicht mehr dafür interessiere, wie ich über "Nevermind" denke.
"Nevermind" ist längst in meinen Knochen verbaut. Ich muss das nicht mehr mit allen verfügbaren Floskeln analysieren, zumal niemand, der die Explosion (zuerst) und die Implosion (später) live und in Farbe miterlebte, es jemals analysieren wollte. Es war einfach da, und es war überwältigend. Und das war mehr als ausreichend. Wir wären vermutlich alle wahnsinnig geworden, hätten wir wie vom Teufel getrieben unsere Gedanken und Gefühle reflektieren und erklären müssen. Es fühlt sich falsch an, über "Nevermind" heute noch mehr Worte zu verlieren.

Und, leicht pathosverstrahlt:
Ich weiß nicht, wem es nützt. Aber wer vielleicht ein letztes Mal hinter seine Songs und diese Wand aus Gitarren und einem donnernden Schlagzeug blicken will, der kann selbst in schwachen Momenten dieser Zusammenstellung viele beeindruckende und verbindende Elemente in "Nevermind" finden, die jede Veränderung und jede Lage aushalten. Eine Art universeller Aura, die in jedem Song mit glühender Leidenschaft erstrahlt.


Das ist in meinem Buch einerseits immer noch alles ziemlich richtig, andererseits ist es auch schon bemerkenswert, dass ich in diesen freien, unabhängigen und lediglich meiner Selbst verpflichteten 3,40 Quadratmetern außer diesen oben stehenden Zeilen noch nie ein nennenswertes und weiteres Wort über die vielleicht wichtigste Band meines Lebens verloren habe.

In meinem allerersten Blogpost überhaupt, und wir wollen uns jetzt galant anschweigen, dass der sogar schon knappe sieben Jahre zurückliegt, teilte ich "Nevermind" immerhin noch in die Reihe musikalischer Erleuchtungen ein:

Musikalische Erleuchtungen gab es in den Jahren 1982 (Roland Kaiser, "Santa Maria"), 1986 (Iron Maiden, "Live After Death"), 1991 (Nirvana, "Nevermind"), 1997 (Tool, "Aenima") 1999 (Neurosis, "Times Of Grace") und 2005 (John Coltrane, "A Love Supreme"), davor, dazwischen und danach allerhand Großartiges, Inspirierendes und zum Speien Furchtbares.


Das war's dann auch vorerst mit der Restverwertung und ich will mich mitnichten dazu hinreißen lassen, mir nun wirklich dreiundzwanzig Jahre später "Nevermind" explizit vorzuknöpfen. Aber, und das verdanke ich einer neuerlichen Tournee durch die Frankfurter Plattenläden und einem spontanen Impuls, dem ich bis zu jenem Freitag im Mai jahrelang aus dem Weg gehen konnte: wir müssen über Nirvana sprechen.

Wir müssen darüber sprechen, dass ich ohne Kurt Cobain heute keine Gitarre spielen würde. Dass ich ohne seinen Tod niemals mehr die seit 1989 in der Ecke vor sich hin staubende Akustikgitarre angefasst und mir mit der von MTV praktisch rund um die Uhr gesendeten "Unplugged"-Session das Gitarrespielen beigebracht hätte. Und Cobains Dropped-D Tunings bei "On A Plain" einfach nachmachte, ohne einen blassen Dunst von dem zu haben, was Kurt da treibt. Von Noten oder auch nur Akkorden hatte ich keine Ahnung, ich schaute einfach nur auf seine Finger. Und ich sang dazu - was mir, der Ausflug in die heutige Zeit sei mir an dieser Stelle gestattet, selbst heute noch zu Gute kommt.

Wir müssen darüber sprechen, dass ich noch genau weiß, wo ich war, als ich zum ersten Mal "Smells Like Teen Spirit" hörte: es war im Wohnzimmer der frisch verkabelten elterlichen Wohnung, dunkelbraune Auslegeware, braunes Noppensofa (Mutmaßungen, was ein Noppensofa ist gerne in die Kommentarspalte), ein schwerer, gleichfalls dunkelbrauner Raumteiler so groß und schwer wie die verfickten Alpen. Halbgrauer Herbstnachmittag, MTV. Ich hatte noch nie einen Ton von dieser Band gehört, aber mir knallte alles durch. Ich sprang über die Noppen im Sofa abwechselnd auf den Sessel, auf die 2er- und 3er-Couch, setzte zum Torjubel eines Fußballspielers an und bremste auf dem krausen Teppich mit den Knien direkt vor dem Fernseher. Es tat nicht weh, das Adrenalin unterdrückte jeden Schmerz. Diese Kraft. Was für eine Kraft das war. Es war EIN SCHREI. Ich lief am nächsten Tag in den Frankfurter WOM und brauchte unbedingt diese Single. Die Augen des Tresenmannes leuchteten, und er sprach:"Hier ist die Single, aber nimm' Dir das Album auch mit. Das ist einfach, das ist....einfach UN-GLAUB-LICH! Alle Lieder sind so gut wie die Single, das ist einfach...einfach....WHOAH!" Er hielt dabei die CD in den Händen, aber die 33,95 DM waren für einen vierzehnjährigen zu teuer. Die 17,95 für die LP hingegen waren noch knapp im Budget.

Wir müssen darüber sprechen, dass ich in den kommenden Jahren zum Kurt Cobain-Fanboy und -Look-a-Like mutierte, der noch Jahre nach seinem Tod im Frankfurter Flughafen von wildfremden Menschen mit ihm verwechselt wurde ("OH SCHEISSE, DU LEBST!") und sein bis heute zweifelhaftes Modebewusstsein mit einer prima Karohemdensammlung schärfte.

Wir müssen darüber reden, wie arg mich "In Utero" mitgenommen hat und darüber, wie ich mir ein 90er TDK-Tape mit dem siebenminütigen Bonuskrach "Gallons Of Rubbing Alcohol Flow Through The Strip" in Endlosschleife aufgenommen habe, weil es für mich letzte, endgültige Essenz dessen war, was Nirvana darstellten. Und wie dieses Bild nie klarer als auf "In Utero" zu erkennen war. Vielleicht wirklich die letzte, wirklich große Punkplatte. Als Schlusspunkt. Was für ein Statement.

Wir müssen darüber sprechen, dass ich Konzertkarten für das Nirvanakonzert am 3.3.1994 hatte, ich seit Wochen und Wochen und Wochen und Tagen und Tagen und Tagen diesem Tag entgegenfieberte und am Morgen von meiner Mutter mit den heute noch in meinem Hirn jederzeit abspielbaren Worten geweckt wurde:"Floooriiii! Aufstehen!!! Das Nirvanakonzert fällt aus!". Und darüber, dass ich einige Stunden später im weißen "In Utero"-Longsleeve mit den anderen Jüngern im Chemie-Klassenraum stand und wir uns sicher waren, dass sie das Konzert nachholen werden. Ganz schnell. Ganz sicher. Ganz schnell. Ganz sicher.

Und wir müssen darüber reden, dass ich noch genau weiß, wo ich war, als ich von Cobains Tod hörte. Meine Eltern befanden sich im Osterurlaub in Reit im Winkl und überließen ihrem Sprössling die Aufsicht über die Wohnung, wofür dieser sich mit einer, äh, kleinen Feier mit Freunden für das entgegengebrachte Vertrauen bedankte. Das war noch vor diesem ganzen Cocktailschrott, womit alles, was die Jungs und Mädels brauchten drei Kästen Bier, ein paar Päckchen Benson & Hedges und ein CD-Player war. Nachts um vier und mit vermutlich ebenso viel Promille im Blut) lief die Glotze, und als jemand den Sat1-Videotext öffnete und die Schlagzeile "Nirvana Sänger Kurt Cobain ist tot." sichtbar wurde, wurde es plötzlich ganz still auf der Noppencouch. Und auf dem dunkelbraunen Teppich. Und auf dem Balkon. Und in der Küche. Und in dem Raumteiler.

All das wurde in den letzten Wochen wieder nach oben und ins Bewusstein gespült. Der Grund dafür heißt "Live At Reading" und es sagt schon wieder einiges aus, dass fünf Jahre ins Land zogen, bis ich mir die Platte kaufte. Und es sagt vielleicht noch mehr aus, dass ich diese Songs schon so lange nicht mehr hörte, möglicherweise auch nicht mehr hören konnte. Und wie unwirklich es scheint, dass ich im Jahr 2014 hier sitze und immer noch und schon wieder weggeblasen bin von dieser Kraft, dieser Wucht. Wie geil die waren. Und wie fett sie klangen, für ein Trio gleich noch beeindruckender.

Nirvana stehen seit fast zwanzig Jahren als Heiligtum in dem großen Alpen-Raumteiler in meinem Kopf, in Ehren, nur mit den besten, den allerbesten Erinnerungen, mit einer Standleitung in beide Herzkammern. Und mit einem immer noch präsenten Blick auf die unschuldige Zeit als Teenager. Ein Teenager, der sich zum rotschwarzen Karohemd den 8-Tage-Bart ins Davidoff "Zino" Parfum seines Bruders tauchte. Der aus zwei Stunden Geschichtskurs bei Peter Weihnacht ("Geht's Ihnen gut? -"Joa?!" -"Sehen Sie - wählen sie die CDU!"), zwei Freistunden in der Höchster Wunderbar zauberte und dabei "In Utero" auf dem Walkman hörte. Der knietief im ersten Liebeskummer stand und die B-Seite der "Heart-Shaped-Box"-Single - "Marigold" - und "Where Did You Sleep Last Night" über Stunden auf Repeat laufen ließ. Der mit der ersten E-Gitarre in seinem Zimmer stand, sich die Bühnenbewegungen Cobains von Livevideos abschaute und "Bleach", "Nevermind" und "In Utero" für ein imaginäres Publikum nachspielte und am Ende des virtuellen Konzerts die typischen, minutenlangen, ultrafiesen und megalauten Feedbackorgien nachstellte. Wie unfassbar tolerant unsere damaligen Nachbarn gewesen sein müssen.

Und doch - als ich 1991 "Nevermind" kaufte, liebte, zum Grunge-Kid wurde und Freunde meiner Eltern im gleichen Atemzug was von den damals zwanzig Jahre zurückliegenden Hochzeiten Led fucking Zeppelins und der Beatles erzählten, diesem angestaubten, granatenalten, langweiligen, mies klingenden Schrott aus einer anderen Zeit für andere Menschen und für eine andere Welt, da hatte ich noch nicht auf dem Schirm, wie genau diese Welt wohl im Jahr 2014 aussehen mag und was sich ein heute vierzehnjähriger wohl dabei denkt, wenn der Blog-Onkel, dessen 8-Tage-Davidoff-Bart heute hier und da schon grau anläuft, ihm was von dieser angestaubten, granatenalten, langweiligen, mies klingenden Schrottcombo Nirvana erzählt.

Es ist schon alles sehr crazy, wenn man sich's "imaginiert" (Polt).

Erschienen auf Universal, 2009.

18.05.2014

It's Like I Shine



DOUGHBOYS - CRUSH

Da muss der eigentlich geplante Aufsatz zur vielleicht wichtigsten Band im Florianschen Musikkosmos glatt um ein paar Tage verschoben werden. Grund: eine kurze Autofahrt zum Supermarkt. Die Sonne schien und im CD Player rotierte der von der Herzallerliebsten in Auftrag gegebene Autofahrsampler vor sich hin, und als sich TV On The Radios "Wolf Like Me" dem Ende entgegenlaserte und die Doughboys mit dem für alle "Feel Good"-Zusammenstellungen reservierten "Fix Me" loslegten, ging es mir nach den neuerlichen und direkt aus dem Höllenschlund herausgekotzten zwei Wochen des Wahnsinns mit schwerkrankem Hund und kranken Katzen inklusive besuchter Tierklinik und hinzugezogenem Tiernotarzt, für die kommenden knapp drei Minuten wieder besser. "Fix Me" steht auf "Crush", dem vorletzten Album dieser kanadischen Pop-Punkband aus Montreal und ist, wie die komplette Platte, ein sonnendurchfluteter Seelenschmeichler, ein musikgewordener Sonnenaufgang, ein Balsam für Ohren, Herz und Hirn.

Es war wieder mal mein Bruder, der mich Anfang der neunziger Jahre mit dem Quartett vertraut machte. Seit dem Debut "Whatever" aus dem Jahr 1987 ein beinharter Fan, der sich jede ihrer Platten aus Kanada importieren ließ, nachdem ihm sein Kumpel Martin ein zusammengestelltes Tape ins Autoradio wuchtete. "Crush" erschien, wie die kurz zuvor als Appetizer veröffentlichte EP "Blanche", auf dem Major A&M Records und zeigte die Doughboys in jeder Hinsicht gereift. Weniger Wohlgesonnene würden nun wahrscheinlich "geschliffen" sagen, und auch sie hätten Recht. Die Band lieferte auf "Crush" zwölf blitzsauber funkelnde Pop-Punk-Hymnen mit charmanter frühneunziger Indie-Schrammel-Grunge-Ästhetik("Disposable") ab, kompositorisch bis in die letzte Tonritze und Wortsilbe ausdefiniert, klanglich auf Weltklasseniveau, melodisch bis kurz vor Kitschhausen opulent ausgerollt. Kein Anwärter auf den "Flavour of the day", ganz sicher auch keiner für die wildeste Punkabfahrt aller Zeiten, dafür grundehrlich vor sich hin bratzelnd, melancholisch, mit wunderbaren Gesangs- und Gitarrenarrangements. Auf ganz vielen Ebenen also exakt mein Beuteschema.

Die offensichtlichen Hits dieser Platte heißen "Shine" (auch als Single veröffentlicht), das bereits erwähnte "Fix Me", der fulminante Ohrwurm "End Of The Hall" und "Melt", aber es sind auch die spannend arrangierten, angeschrägten "Neighbourhood Villain", "Shitty Song" und das großartige "Fall", die, wenngleich stilistisch etwas aus dem Rahmen fallend, "Crush" erst zu einer meiner Lieblingsplatten aller Zeiten machen. Auch hier gilt: solche Bands werden heute nicht mehr gemacht. Die Doughboys lösten sich nach der nächsten, leicht schwächeren und nochmal deutlich polierteren Scheibe "Turn Me On" auf. Mastermind John Kastner, vor seiner Zeit mit den Doughboys übrigens Sänger bei den Asexuals, komponiert und produziert heute Soundtracks für Filme und TV-Shows und -Serien, ist Manager der Men Without Hats (!) und veröffentlichte 2006 sogar ein Soloalbum.

Beim Stöbern auf Youtube fand ich diese Show von 1994 und wer Lust hat, der möge mal ein Auge drauf werfen. Macht Spaß. Vielleicht. Also: mir macht's Spaß.














Erschienen auf A&M, 1993. 

04.05.2014

Tout Nouveau Tout Beau (10)


Krassofant: seit über einem halben Jahr gab es keine "Neue Besen kehren gut"-Rubrik mehr hier zu lesen. Der Thrash Countdown und der Top 20 Countdown haben nach Opfern gerufen, und sie mit den neuen Besen auch bekommen. Skandalös.

Machen wir also mal wieder mit drei neuen Scheiben weiter, die sich mittlerweile im Regal tummeln.




ACTRESS - GHETTOVILLE

Der Blätterwald der elektronischen Musik brachte für Darren Cunninghams neues Werk "Ghettoville" ordentlich die Hypemaschine ans Bratzeln; der Brite ist nicht zuletzt aufgrund der dargebrachten Zuneigung der schreibenden Zunft einer der Stars der Produzentenszene. Und selbst wenn sein letztes Album "Splazsh" es immerhin auf Platz 18 meiner Bestenliste des Jahres 2010 brachte, hinterließ es dennoch einen verwirrten Florian, der im hochkomplexen Abbild von dick aufgeschlagenen Grautönen mit minimalen Farbblitzen verloren ging. "Ghettoville" packt der Herausforderung, sich seiner Musik zu nähern, nochmal eine Schippe drauf, wenngleich es sich stilistisch ein wenig homogener als der Vorgänger präsentiert. Cunningham taucht hier noch tiefer in undurchdringbares Beatgestrüpp ein, spielt mit kontrastierenden Szenenwechseln und Fluchtpunkten und setzt die Gesamtwirkung dieses monumentalen Albums, das 16 Tracks über 3 Vinylscheiben verteilt, in den Fokus. Das kann also noch was werden, für den Moment muss ich aber hier die Segel streichen: ich raffe "Ghettoville" noch kein Stück, aber die Puzzleteile erscheinen übersichtlicher als jene von "Splazsh".

Erschienen auf Werk Discs, 2014.




SEGUE - THE HERE AND NOW

Wie schon beim Vorgänger "Pacifica" brauchte es auch bei "The Here And Now" den Hinweis von Kumpel Oli, ohne den mir das 2014er Premierenalbum des kanadischen Produzenten Jordan Sauer wohl zumindest fürs Erste durch die Lappen gegangen wäre. "Pacifica" war vor allem aufgrund seiner Abstraktion ein Juwel des vergangenen Jahres, weil es Schönheit und Freiheit aus der Ferne behandelte und dennoch so wärmend und auch tröstlich erschien. "The Here And Now" macht mir das Leben etwas schwerer: der Melodienanteil ist deutlich nach oben geschraubt worden und insgesamt schielt mir "The Here And Now" ein bisschen zu sehr auf das Indie-Metchen, das mit Strohballen auf dem Kopf und Designer-Sonnenbrille auf der Nase die Festivalsaison begehen wird. Und ich mag weder Indie-Metchen, noch Festivals. Vielleicht ist's aber auch nur meine falsche Programmierung im Kopf, die mich nicht die totale Abhuldigung durchziehen lässt - und was falsch programmiert ist, kann man auch wieder richtig programmieren. Was mit dem VHS-Videorekorder von 1983 klappte, klappt schließlich auch in meinem Hirn. Denn was trotz der folgerichtigen Auflösung der Abstraktion auch für "The Here And Now" stimmt: Segue's Musik ist immer hörenswert und seine Mischung aus Dreampop, Ambient und Dub-Techno ist selbst knietief im Kitsch watend noch wunderschön.

Erschienen auf Sem, 2014.




LEON VYNEHALL - MUSIC FOR THE UNINVITED

Ganz im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Alben hat mich das neue Album (6 Songs, 36 Minuten Spielzeit, und ja: für mich ist das ein Album) von Leon Vynehall sofort mit großem Doppelfisting umgeboxt. "Music For The Uninvited" ist der Soundtrack für den Frühling und den Sommer, und wenn meinereiner noch wenigstens im Ansatz fühlen könnte, wie sich ein euphorischer Einstieg in die Zeit mit Temperaturen über 15°C noch vor 5 Jahren agefühlt hat, dann würde ich nackig durch Sossenheim rennen und mich vom gestern erstmals entdeckten vollgesoffenen Nazi-Pärchen vermutlich verprügeln lassen. Kein Raum für Gewalt oder auch nur trübe Tassen auf "Music For The Uninvited": Vynehalls Deep House ist vollgepackt mit Glücksblüten aus dem Garten Eden, Pollenflug, unbefleckte Empfängnis, hemmungsloses Gerammel mit Frau Adam und Herrn Eva. Sie wissen schon. Ein Track wie "Be Brave, Clench Fists" trifft einen trotz der für gewöhnlich nicht über Gebühr tiefgehenden und anspruchsvollen Housemusik regelrecht ins Herz und lässt dort einen Impuls fallen, der mich wieder an dieses seltsame Leben erinnert. Und an die Musik. Und an die dazwischen liegende Verbindung, die manchmal durch die innere und äußere emotionale Kälte einfach nicht anpingbar ist. Vynehall schmeißt dafür den Schwerelos-Dampfreiniger an.

Erschienen auf 3024, 2014.

27.04.2014

Playlist (KW17)

Mal gucken, wie lange es hält.

Mit freundlicher Unterstützung von Last.fm, meines Plattenspielers und meines Erinnerungsvermögens: unsere 10 meistgehörten Platten für die Woche vom 21.4. - 27.4.2014.


01 Bvdub- I'll Only Break Your heart

02 Vermont - Vermont

03 Segue - The Here And Now

04 Earthen Sea - Mirage

05 Thievery Corporation - Saudade

06 Candlemass - Live

07 Kassem Mosse - Workshop 19

08 The KLF - The White Room

09 Kangding Ray - Solens Arc

10 Rainer Veil - New Brutalism

26.04.2014

Record Store Day 2014 - Teil 2

Freund Simon und meine Wenigkeit ließen es, so ziemlich unserem Naturell entsprechend, ruhig angehen, zumal keiner von uns auf der Jagd nach den mutmaßlichen Raritäten die Machete zwischen den Zähnen klemmen hatte. Ich hatte drei Titel lose notiert und wenn ich sie finden sollte, dann wäre ich durchaus glücklich. Andererseits wissen wir beide von der Preisstruktur und sahen uns ob der aufgerufenen Preise im Laden schon in den letzten Jahren mehr als nur einmal ungläubig an. Die Chancen auf Erfolg standen also so  oder so nicht gerade blendend. Ein Kaffee auf der zugigen Sonnenterasse, bevor wir uns zur ersten Station aufmachen: Lucky Star Records in Bornheim. Der inklusive Klo 24qm kleine Laden in der Heidestraße hatte im vergangenen Jahr sogar ein kleines Feature in der Frankfurter Rundschau und ist als einer von vier teilnehmenden Frankfurter Plattenläden beim Record Store Day dabei, 2014 bereits zum dritten Mal.

Es ist kurz nach 12 Uhr, als wir ankommen, und Inhaber Günter Henn berichtet, der Laden sei direkt nach Öffnung um 11 Uhr aus allen Nähten geplatzt. Davon zeugt das beinahe leergeräumte "RSD 2014"-Fach. Waren die Heuschrecken also schon da. Ich mag den Lucky Star, der besonders in Sachen Jazz, Soul/Funk und Stoner- und Doom Metal das ein oder andere unerwartete Schätzchen führt. Ich finde nicht allzuoft etwas, aber der Laden hat Charme. Und hätte ich die zweite Danzig-LP nicht schon im Schrank stehen, hätte ich sie zum fairen Kurs von 20 Euro dieses Mal mitgenommen.

Weiter geht's zu meinem persönlichen Frankfurter Favoriten: Big Black Records in der Eisernen Hand. Bei meinem ersten Besuch 2009 war ich schon Feuer und Flamme für diese unbekannte Chaosperle Frankfurts: der große Verkaufsraum war mit Stehlampen, Staubsaugern, Radios, Fernsehern und tausenden Schallplatten vollgerümpelt, und wer an die Kisten mit dem schwarzen Gold wollte, musste mit dem ganzen Krempel erstmal Tetris spielen. Die Kundschaft aus dem Nordend-Kiez, die sich reparierte Handys, Plattenspieler oder Radios abholt, ist immer für einen Lacher gut und unterstützt so die luftige, entspannte Atmosphäre des Ladens. Der Inhaber, ein extrasympathischer und sehr hilsbereiter, lockerer Typ, hat indes in den letzten Monaten etwas klar Schiff gemacht, das war am Samstag deutlich zu sehen. Das Repertoire umfasst sämtliche relevante Stilrichtungen, die Preise sind in der Regel absolut fair und außerdem gibt es nicht selten einen schönen Rabatt. Ich entdeckte Ministrys "Psalm 69" und eine alte Gil Scott Heron 12-Inch ("Space Shuttle" von 1991) und freute mich wie Bolle. Big Black nimmt nicht am Record Store Day teil, aber dieser Geheimtipp ist immer fester Bestandteil eines jeden Ausflugs in die hessische Vinylhölle.

Nächste Station: Sachsenhausen. Oder, wie wir Kenner sagen: Hachsensausen.
Sickwreckords in der Schulstraße ist eine Institution in Sachen Punk, Hardcore, Ska, Indie, Garage, Rockabilly und Reggea, außerdem gibt's ein großes Angebot für Jazz und Black Music-Aficionados. Sickwreckords nahm am Record Store Day teil und hat, um die RSD-Platten auszustellen, den Probehör-Plattenspieler für diesen Tag eingemottet. Das ist zwar doof, aber wenn man auf der Jagd nach den heiligen RSD-Scheiben ist, dann findet man hier das größte Angebot in ganz Frankfurt (keine Kunst, aber hey!). Ich fand meine drei Favoriten nicht, aber hätte ich viel zu viel Geld und außerdem einen Hirnschaden, dann hätte ich vielleicht die 18 Euro (!) für eine 12"-Maxi (!!) von Charles Bradley bezahlt. Oder die 30 Euro für die verdammte Oasis "Supersonic"-Maxi. Ein Song, der schlappe zwanzig Jahre auf dem Buckel hat. Die nächste Frage ist rhetorisch, weil ja jeder die Antwort schon kennt, aber sei's drum: wird sowas wirklich gekauft? Zu den Preisen?


Was sich der Herr Dreikommaviernull gönnte: die geile Candlemass "Live"-Scheibe aus dem Jahr 1990 - ein Klassiker aus einer Zeit, in der man Metal noch hören konnte, ohne sich dabei vollzukotzen, "The White Room" von The KLF (dummerweise mit praktisch unsichtbarem, dafür aber leider deutlich hörbarem Längskratzer), Soundgardens "Loud Love" 12" mit grandiosem Pressfehler (die Platte ist schlicht nicht zentriert gepresst, was den Tonarm zu wilden Salsa-Abfahrten anstachelt - noch nie gesehen, sowas) und eine krude, aber dafür höggschd (Bundesjogi) interessante Platte einer ebenso kruden wie interessanten Band: "Sinister Funkhouse #17", das Debut von Last Crack. Der Nachfolger "Burning Time" (produziert von Dave Jerden) ist so eine Art vergessene Perle des Metals oder des Alternative Rocks - so genau lässt sich das bei Last Crack nicht sagen, was auch gleichzeitig ihr größtes Problem war: musikalisch zwischen allen Stühlen, dazu auf einem reinen Metallabel (Roadrunner) - eher hätte man im hochsommerlichen Freibad eine Skiausrüstung verkaufen können, als im musikalischen Klima Anfang der neunziger Jahre eine solche Band zu vermarkten. Egal. Mein Geheimtipp für diese Woche: Last Crack. Kaufen. Lohnt.

Wir fallen aus dem Sickwreckords raus und in den No.2 hinein - die Läden liegen nur wenige Meter auseinander und es bietet sich an, immer einen Blick in beide Häuser zu werfen. Der No.2 in der Wallstraße ist nach dem Brand im Jahr 2009 und dem anschließenden Umzug in die neuen alten Räume der OP-Saal unter den Frankfurter Plattenläden. Hier könnte man auf dem Fußboden problemlos eine Herz-OP durchführen: sehr aufgeräumt, eine sehr klare Struktur und sehr viel Platz. Die Platten passen sich in 49 von 50 Fällen diesem Niveau an und sind immer in piekfeinem Zustand. Ab und an finde ich in der Metalabteilung ein lange gesuchtes Schätzchen, beim restlichen Programm wird die Luft immer etwas dünn für mich, zumal die Herrschaften wissen, welchen Preis sie auf die Platten pappen können. No time for Schnäppchen. Folgerichtig ging ich auch dieses Mal mit leeren Händen nach Hause.

Letzte Station unseres Trips war Mythos Records in der Höhenstraße in Bornheim, ein Laden, den Simon und ich beim letzten Besuch als nicht besinnungslos überragend empfanden, der aber, als ich im Dezember mit Freund Jens dort die Regale durchforstete, einen deutlich besseren und sympathischeren Eindruck machte. Auch dieses Mal war es ein angenehmer Aufenthalt, obwohl ich auch hier das Portemonnaie in der Tasche ließ. Besonders im Alternative/Indie/Punk-Fach tummelt sich die ein oder andere schöne Scheibe, preislich durchweg im Durchschnitt. Kann man also schon machen. Inhaber Christos, der den beiden Jungs, die bereits im Sickwreckords augenscheinlich in erster Linie auf der Jagd nach Record Store Day-"Raritäten" (hihi) waren, auf ihre Frage,wo denn der heiße RSD-Scheiß zu finden sei, gleich eine Absage erteilte ("Da mach' ich nicht mit!"), erzählte uns anschließend auch noch seine Sicht auf das Konzept des Record Store Days. Viel zu viel Arbeit, viel zu viele wirre Emails und Telefonate, viel zu viele Idioten - und da man den ganzen Krimskrams, den man bestellte und vielleicht sogar geliefert bekam, ja auch nicht zurückschicken kann, sitzt man am Ende auf einem (Andrea) Berg Platten, die keiner haben will. Kein neues Problem: selbst der kleine Rough Trade Schuppen in London hatte noch schön die "RSD 2010" und "RSD 2011" Fächer rumstehen. Im Jahr 2012, wohlgemerkt.

Angeblich war auch "CDs am Goethehaus" Teilnehmer, allerdings nur auf Basis von Vorbestellungen, weshalb wir hier nicht reinschauten. Und, und das ist jetzt richtig schlimm, beziehungsweise haarsträubend: Memphis Records, ein mir noch unbekannter Laden in der Friedberger Landstraße, hat auch teilgenommen. Und ich wusste es nicht. Ich wusste nicht mal, dass es den Laden gibt. Das muss nachgeholt werden. Simon: das müssen wir uns bei Gelegenheit ansehen!

Vinyl saves!

22.04.2014

Record Store Day 2014



Allmählich entwickelt sich der Record Store Day zu einer Art Katatrophengaffen - man möchte eigentlich nicht hinsehen, dackelt aber dann doch in die erste Reihe, um vielleicht etwas zu erhaschen, in diesem Fall also: zu kaufen. Kaufen, kaufen, kaufen. Wir müssen immer alles kaufen.

Was als weithin unschuldiges Konzept zur Rettung der lokalen und unabhängigen Plattenläden begann, ist mittlerweile und zum großen Teil eine von Majorlabels gekaperte und durchkommerzialisierte Peinlichkeit geworden, die die für gewöhnlich mit Spinnweben versehenen Kartoffelpupser aus ihren 40qm Heimat herauslockt, damit die neuen Sammlerstücke bald einziehen dürfen. 500 vermeintlich exklusive Veröffentlichungen waren es im Jahr 2014, und mal ganz davon abgesehen, dass man sich schon fragt, wer diesen ganzen Scheiß mit Reis eigentlich kaufen soll, vor allem den völlig unbekannten Krempel, hat ein Plattenvertrieb wie Kudos aus London für die Wochen rund um den Termin am 19.4. schon die Segel gestrichen.

So groß die Faszination für Schallplatten und das Abtauchen in die Parallelwelt Plattenladen auch sein mögen, so unsinnig ist mittlerweile der ursprüngliche Ansatz geworden. Der Record Store Day fördert nicht den Erhalt lokaler Plattenhändler, er fördert viel mehr den Sammel- und Exklusivitätswahn, der seit dem Vinyl-Revival so oder so schon jeden 2nd Hand Dealer in Beschlag genommen hat. Dem man allerdings im Zweifelsfall keinen Vorwurf machen kann: wenn jemand einen dreistelligen Eurobetrag für eine Schallplatte bezahlen mag, die er an anderer Stelle auch für 20 Euro bekommen kann, dann ist das nicht seine Schuld. Dass aber auch im Vinylland jede Kompassnadel verrückt spielt, die den gesunden Menschenverstand versucht zu markieren, ist seit einigen Jahren nichts Neues mehr. Solange die Macher des Record Store Days weiter mit intransparenten Auflagenzahlen und ebenso undurchschaubarer Verteilungsstruktur fortfahren, fördern sie genau das Gegenteil des eigentlich sympathischen und sogar wichtigen Ziels: die Plattenläden sind einmal pro Jahr voll, zumindest für die halbe Stunde, bis die ganzen hochwertigen und raren Boxsets, Represses und bunte Vinyle von den Heuschrecken ausverkauft sind, die sie zwei Stunden später für den zwanzigfachen Preis auf Ebay und Discogs hochladen, danach kehrt jedoch wieder die ohrenbetäubende Ruhe zurück. Und die Sammelhengste kaufen die neue Bob Dylan Scheibe auf Amazon, die Rarität für drölf Trilliarden Euro bei Discogs. Aus Chile. Oder Japan. Hauptsache Italien, beziehungsweise: alles total lokal.

Der Record Store Day ist ein kurzfristiger Impuls, meinetwegen auch eine kurze Erinnerung daran, dass es da draußen auch noch Realitäten gibt, die Ladenpacht, Personalkosten und Existenzangst heißen. Und dafür ist es gut. Sehr gut sogar, das steht außerhalb jeder Diskussion. Aber in derart schnellen, oberflächlichen und vergesslichen Zeiten, in denen die Mobilgurke mit Spiegel Online-Eilmeldungen und Kriegstickern vollgepackt ist, die virtuelle Warteschlange für die nächste angesagte Hollywoodserie immer größer wird und selbst der stetige Konsum von Information uns mit einem leeren Bauch, Herz und Hirn zurücklässt, weil alles nur noch Selbstzweck und Pose ist, ist der Effekt so schnell verpufft, wie das Lippenbekenntnis "So kann das hier alles nicht weitergehen" den Weg ins Freie findet.

Das ist die eine Seite. Und weil alles ambivalent und vielschichtig und in Millionen Grautönen abbildbar ist, gibt es auch noch die andere Seite: der Florian, der watschelt auch jedes Jahr in die Frankfurter Plattenläden. Selbst und ganz besonders in jene, die dem Klimbim eine Absage erteilt haben, weil sie weder die 125 Euro Teilnahmegebühr bezahlen, noch ihre Kundschaft (und sich selbst) verarschen lassen wollen. Frei nach der Einschätzung von Brad Sanders, der in seinem Beitrag den Satz "I’ll go, but I don’t have to like it." erwähnt. Seine restliche Argumentation, es sei begrüßenswert, wenn möglichst viele Metaller am RSD in die Läden stürmen, um die ganzen Metalplatten leerzukaufen, weil der Händler dann mehr Metal ins Programm nimmt und die Labels mehr Platten pressen, ist natürlich ein naives und abgesoffenes Gedankenaquarium, aber sei's drum.

Über meinen inkonsequenten Samstag in den Frankfurter Plattenläden schreibe ich im nächsten Beitrag. Bleiben sie dran, ich zähl solange.