11.06.2014

Mit Anlauf



KELIS - FOOD


Seems like no one is surprising
Anymore, it's not that I'm
Ungrateful, I'm just a little bored

Beim Durchklicken der zumindest deutschen Internetreviews zu "Food", dem sechsten Album der US-amerikanischen Diva, kommen einem zum wiederholten Male die Tränen: überall werden die selben öden Redundanzen präsentiert. Wer auch nur unfallfrei das Textverarbeitungsprogramm öffnen kann, bringt irgendeine verkackte Analogie zum Essen (wegen, Achtung festhalten, kommt ihr nie drauf: "Food" - Irre!), jeder schreibt, dass Kelis sich in den letzten Jahren zur Köchin hat ausbilden lassen, jeder verweist auf ihre erfolgreichen Singles unter Beteiligung von Produzent Tic, Tric und Trac oder dem Hustinettenbär oder, Gott bewahre: Bohlen, und auf die kommerziell sich mit ebenjenen nur selten auf Augenhöhe treffenden Alben. Macht sich eigentlich niemand mehr einfach nur eine Handvoll eigene Gedanken?

Dabei gäbe es soviel Relevantes zu erzählen. Kelis hat sich nach Ausflügen in die Bereiche Dancefloor, R'n'B, Hip Hop und Elektropop mit "Food" stilistisch freigeschwommen, und das nicht zum ersten Mal. In allererster Linie liegt das an Produzent Dave Sitek, denn das Gründungsmitglied der New Yorker Indiekapelle TV On The Radio hat "Food" deutlich seinen Stempel aufgedrückt. Stark perkussiv, rhythmisch bisweilen hochspannend mit allerlei Latin- und Salsa-Einflüssen arrangiert, marschieren dazu wahre Felsmassive von Saxofonen, Trompeten und Posaunen durch die dreizehn Songs, deren Soundästhetik durchgängig an Siteks Hauptband erinnert. "Food" ist dabei genauso wenig futuristisch wie klassisch, was in meinem Buch mindestens genauso charmant ist wie die Tatsache, dass die Platte, nimmt man den ein oder anderen geharnischten Kommentar auf Last.fm zum Maßstab, so manchen Fan wenigstens zu Beginn leicht vor den Kopf stößt. Nicht, dass es nicht verständlich wäre, denn "Food" ist nicht das, was zu erwarten war. "Food" ist, mit dem Mut zur Verzweiflung seelenruhig ausgesprochen: Pop. Und zwar ausdrücklich die komplette Platte, die zu gleichen Teilen so stimmig und kohärent wie abwechslungsreich und vielfältig ist. Leicht hätte Kelis den Mainstream-R'n'B bedienen können, die Stimme und das Charisma hat sie gleich drei Mal. Sie entschied sich stattdessen für einen Stilmix, der vor allem dann höchst eigenwillig ist, wenn man in die Tiefebene der Songs eintaucht und plötzlich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. So viele Einflüsse, so viele Funken - und am Ende ist und bleibt es eine richtig spannende und neue Platte von Kelis.

Und am Wegesrande: mein persönliches Highlight ist das schunkelnde, funkelnde und überaus amüsante "Floyd", aus dem auch das oben stehende Zitat entnommen wurde und über das ich beim ersten Hören laut lachen musste.

Erschienen auf Ninja Tune, 2014.


2 Kommentare:

Bendrix hat gesagt…

Sehr schön. Hier jedenfalls Anwärter auf meine Platte des Jahres.

Flo hat gesagt…

Wird bei mir am Jahresende auch ganz bestimmt mit dabei sein.