22.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (6) - Korgüll The Exterminator - Sharpen Your Spikes




KORGÜLL THE EXTERMINATOR - SHARPEN YOUR SPIKES


Die Redaktion von 3,40qm freut sich ganz besonders, Ihnen heute eine Leseprobe des mittlerweile aus den Katalogen gestrichenen Zukunftsromans "2021 - Gedanken im Nachttopf" des Gelsenkirchener Autors Schlötz Kügelründ aus dem Jahr 1994 vorstellen zu dürfen. Das 116 Seiten starke Manifest ist das zentrale Werk im Schaffen des streitbaren Toast Hawaii-Liebhabers und frivolen Felgenbürsters und gilt unter Fachleuten als Klassiker im immer noch unterschätzen Genre der WC-Literatur. Weitere Bestseller des Kügelründ sind "Trendkacke. Braucht kein Schwein", eine einfühlsame Erzählung über Körperhygiene, Elektrizität und Brennessel-Knoblauch-Smoothies im urbanen Brennpunkt Olpe und "Hexenpisse", eine Biografie über die westdeutsche Ulknudelkapelle Rave Zigger mit einem Vorwort von Flips Bolzenkahl-Kahlenbolz. Und nun wünschen wir viel Spaß mit der folgenden Leseprobe aus dem Roman "2021 - Gedanken im Nachttopf".

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"Achtung, "Real-Talk": Es gibt keine schlechtere Musik als schlechten Heavy Metal. Schlechter Metal ist die furchtbarste, peinlichste, absurdeste, verschissenste Musik auf diesem Erdball. Ich würde mir lieber freiwillig eine Platte von Bob Marley anhören oder den Eurodance-Remix von "Ob-La-Di, Ob-La-Da" von den verdammten Beatles in Endlosschleife, als eine Minute schlechten Metal. Schlechter Metal ist unecht. Gespielt, aufgesetzt, künstlich, kommerziell endverwertet, aufgeblasen, over-confident, muskelbepackt. Er trieft vor Testosteron, riecht nach Reihenhausküche, er spricht "Mutti ist die Beste" und denkt "Frauen an den Herd", er fährt einen SUV von Volkswagen, in dem es jeden August auf "Wackööön" geht, abfeiern und danach wählt man die CDU. Eine Linie. Eine fucking Linie.  

Der US-amerikanische Produzent Mick Realo, der im Jahr 2021 als "You Tube Influencer" Bekanntheit erlangte, einer sich zur Mitte der 2010er Jahre entwickelnden und auf den Leichenbergen der postdekadenten Generation Z tanzenden Lebensform, stellte kürzlich die Top Ten der meistgestreamtengespielten Metal-Songs auf Shitify vor, und wenn es danach geht, muss man sich um den Herrn Heavy Metal wirklich so rein gar keine Sorgen mehr machen; der liegt nämlich schon mausetot in der Kiste - und wenn man diesen überproduzierten Kitschkackhaufen, diesen substanzlosen Einheitsbrei, diese leidenschaftslose und bis zum blanken Kotzen glattpolierte Fickpisse hören muss, kann man nur sagen: Glück gehabt! Aber es sind nicht nur die jungen Bausparer, die sich so schamlos an der Idee der einst so rebellischen Subkultur vergehen - die ließen sich in einem Paralleluniversum schließlich noch mit der unvermeidbaren Degenerierung im Zeichen von Weiterentwicklung und der damit verbundenen turbokapitalistischen Komplettverwertung von Kultur durchwinken und also  wegfloskeln. Bedeutend schwerer fallen jene ins Gewicht, die sich aus der schwermetallischen Ursuppe der späten 1970er und 1980er Jahre emporwürmelten, die mit unbekümmerter Naivität, echter Lebensfreude und authentischem Krach zu Vorreitern und Fixpunkten einer ganzen Generation junger Heavy Metal-Fans wurden - und sich 30 Jahre später von neureichen Businesskaspern als gut getarnte Zirkuskapelle am mittlerweile rostigen Nasenring durch die Manege schleifen lassen und ihre wie Gebirgsmassive zerklüfteten Hackfressen in Hochglanzvideos zeigen müssen, in denen sie ihre auf 340 Gigapascal hochgepeitschte leere Hülle einer ehemaligen Ahnung von Heavy Metal im Vollplayback vortanzen. Solche mausetot klingenden und bis zur Unkenntlichkeit durchgestylten Alben von Bands wie Onslaught oder, Gott steh' mir bei: den ehemaligen Alleskönnern von Heathen, die mittlerweile wohl nicht nur ihre Musikproduktionen, sondern gleich die ganze Bandbesetzung am vielzitierten Reißbrett entwerfen lassen, sind das eigentliche Ende des Heavy Metal, wie wir ihn mal kannten. Eine tieftraurige und gleichzeitig quietschfidel inszenierte Vollverarsche "von Behämmerten für Behämmerte" (Holger Stratmann) - das ist schon kein potemkinsches Dorf mehr, das ist ein ganzer verschissener potemkinscher Planet. 

Es braucht ein Gegengift. Ein starkes Gegengift. Ein stark rumpelndes Gegengift."

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Wir beamen uns zurück in die Gegenwart. 

Wenn sich eine Band nach einem alten Song der Science Fiction-Metallegende Voivod benennt, ist das schonmal ein guter Anfang für eine möglicherweise sehr tiefe Freundschaft mit meinem Herzen, und wenn ihr hysterisch hackender Black/Thrash Metal dann auch noch so klingt, als würden Venom seit 30 Jahren die längste Treppe der Welt herunterfallen und dabei ununterbrochen von einer manischen Sabina Classen angebrüllt werden, dann ist das wenigstens charmant - und manchmal sogar ein bisschen mehr als das. Das katalanische Quartett kann modernen Metal genauso wenig ab wie unser eben zitierter Schlötz Kügelründ und spielt sehr kompromisslos nur das, auf was es Bock hat, als Hobby. Dahinter steckt kein großes Label, ehrlicherweise nicht mal ein mittelgroßes, dahinter steckt auch kein ausgeklügelter Marketingplan, der mit den Extremen protzen muss - Korgüll nehmen einfach seit 2008 stoisch ihre Musik auf, die fürs sanftgebettete Mainstream-Pack völlig unzugänglich, kaputt und derb klingen muss: "Sharpen The Spikes" steht auf Bandcamp bei nur 85 Menschen in der Sammlung, auf dem Plattensammlersupergiganerdportal Discogs sind's gerade mal 25 Besitzer. Aber man ahnt auch ohne ausgefeiltes Studium dieser Platte, dass ihr räudiger Mix aus 1980er Patronengurtgeballer und 1990er Black Metal-Mystik entweder etwas für den fortgeschrittenen Kenner oder aber für den zurückgebliebenen Kartoffelficker ist. Die "Meddal-Midde" (Birne) hält sich die Ohren zu.  

"Sharpen The Spikes" ist ein durch und durch echtes, rebellisches, in Teilen kakophonisches, irre (IRRE!) treibendes Lets-Fetz-Gehacke aus dem Bilderbuch, schwer behängt mit Nietenarmbändern und mariniert in billigem Bier, hinsichtlich der Intensität eventuell mit einer zugekoksten Version der Mitt/Endneunziger Blackthrash-Urgesteine von Defleshed vergleichbar, nur lässiger, wilder und noch roher. Das geht logischerweise nicht immer klar in meiner Realität, und die Herzallerliebste lässt nach dem ersten, auf selbstredend infernalischer Lautstärke abgespieltem Urschrei von Sängerin Lilith Infernal Punisher nur ein trocken-bedrohliches "Is' klar!" in den Raum gleiten, aber in manchen Momenten kalibriert mir dieser primitive Chaoshäcksler die hohle Denkmurmel so aufs Vortrefflichste wieder auf NormalNull, dass ich mich diesem Zauber des wahren, echten, reinen, unverfälschten und unkaputtbaren katalanischen Superstahls einfach nicht entziehen kann. 


Kills all fucking posers on fucking contact.


 



Erschienen auf Xtreem Music, 2020. 



 

17.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (5) - Psychotic Waltz - The God-Shaped Void




PSYCHOTIC WALTZ - THE GOD-SHAPED VOID

Da waren Psychotic Waltz für sage und schreibe 23 Jahre weg vom Fenster und veröffentlichen ihr erstes Album seit 1997 nach jahrelangem und schier endlosem Warten ausgerechnet im Februar 2020, und damit kurz bevor Covid-19 die Welt zunächst stoppen und dann vermutlich langfristig verändern sollte - hier von "schlechtem Timing" zu schreiben, wäre eine geradewegs unanständige Untertreibung. "The God-Shaped Void" wäre ähnlich wie "Long Day Good Night" von Fates Warning unter normalen Umständen ein sicherer Kandidat für meine Top 20 des Jahres gewesen und wie es die geneigte Leserin, der geneigte Leser (nicht) lesen konnte: es kam schon wieder anders. 

Ich weiß schon: es herrschen nicht erst seit gestern schlechte Zeiten für Mut und Experimentierfreudigkeit im Heavy Metal, ganz besonders gilt das für Bands älteren Semesters, deren Wiederbelebung klassischerweise auf die paar Handvoll Fans zugeschnitten ist, die von früher übrig geblieben sind. Als Psychotic Waltz im Sommer 2017 eine kleine Europatournee aufzogen, fanden sich im Frankfurt Club "Das Bett" optimistisch geschätzte 150 Leute ein, die unter Garantie allesamt bereits 1997 in der Offenbacher Hafenbahn zur Tour des damals aktuellen "Bleeding" Albums anwesend waren, das verrieten die gleichermaßen ausgeblichenen und verkrumpelten Bandshirts und Gesichter. Dass jene Gruppe in aller Regel nicht (mehr) zu den Draufgängern zählt, den musikalischen zumal - im Alter wird man erstens komisch und zweitens erschütternd oft konservativ - ist wenig überraschend. Hinzu kommt im Falle der Anhänger von Psychotic Waltz sicherlich auch der Umstand, in einem von großen musikalischen Verwerfungen gezeichneten und damit stark polarisierten Jahrzehnt wie den neunziger Jahren aufgewachsen zu sein; ein Jahrzehnt, in dem alles, was sich auch nur einen Nanometer von der reinen Metallehre entfernte, in der Wahrnehmung der Fangemeinde automatisch zu Dreck wurde. Und es benötigt vermutlich auch kein Studium der Wirtschaftspädagogik, um nachvollziehen zu können, dass eine Band, die die Rückkehr nicht mehr als zwingendes Lebenselixier, sondern lockere Feierabendsause unter Freunden begreift, sich nicht in ihre Einzelteile zerreißen wird, um ein künstlerisch ambitioniertes Statement zu veröffentlichen, das die Zuhörer schlimmstenfalls verwirrt; da sollen bitte nach einer Tournee noch dreifuffzig im Portemonnaie landen. Ist alles geschenkt, ich weiß das, ich versteh' das. 

Nun nehme ich bereits mit meinen 43 Jahren erschreckenderweise bereits ziemlich ungute Entwicklungen im Sinne eben/oben genannter Parameter bei mir selbst wahr, habe mir aber immerhin meine Abenteuerlust in Sachen Musik behalten können - paradoxerweise ebenso bestimmt von den 1990er Jahren, nur vice versa: der Anything Goes-Vibe ist für mich noch immer über alle Maßen attraktiv. Und um ehrlich zu sein, falle ich damit aus der Zielgruppe für "The God-Shaped Void" raus. Plumps. 

"The God-Shaped Void" ist ein gutklassiges, wenn auch leicht antiquiert wirkendes Metalalbum geworden, das die Verspult-, Verrückt- und Verspieltheiten vergangener Zeiten konsequent vermeidet. Was das immerhin in Originalbesetzung auftretende Quintett anbietet, ist für Waltz'sche Verhältnisse äußerst konventionell und gemütlich geraten, wenngleich sich stilistisch zu den beiden Vorgängern "Mosquito" und "Bleeding" gar nicht mal so viel geändert hat: dicke Grooves, dezent heruntergedimmtes Powerchord-Riffing, ausladende Melodiebögen und spacig-bekifftes Abtauchen in Synthieglitter gab es in hochkonzentrierter Form schon nach ihrem deutlichen Stilwechsel zur Mitte der neunziger Jahre zu hören. Wofür man 1997 aber lediglich drei Minuten benötigte, dauert heute fast immer fast doppelt so lang, und das Konzept geht nicht nicht so richtig auf: natürlich lassen sich auf "The God-Shaped Void" immer noch herausragende Momente entdecken, die sich nur diese Band ausdenken kann,. Wo jedoch früher die Ideen superverdichtet wurden, um sie in kleine funkelnde Diamanten zu pressen, zieht sich heute so manches wie Kaugummi. Hier eine Wiederholung, da noch eine Wiederholung, zweites Solo, drittes Solo, und warum zur Hölle nicht nochmal der Refrain zum Schluss? Ein Track wie "Sisters Of The Dawn" hätte zweifellos auch auf "Bleeding" stehen können - nur eben drei Minuten kürzer, knackiger. interessanter. fokussierter. Über Vergleiche zu den ersten beiden Sternstunden ihrer Karriere "A Social Grace" und "Into The Everflow" müssen wir im Jahr 2020 endgültig nicht mehr reden. Genausowenig übrigens wie über den Fremdscham-Text von "While The Spider Spins", der mit nachdenklichen Hinweisen alter Männer über die Mediendiät junger Menschen referiert. Sweet baby jesus, srsly? Hat da irgendwer mal auf den Kalender geschaut? 

"The God-Shaped Void" ist ein gutes, bequemes Alterswerk. Ich freue mich wirklich, nochmal neue Musik von einer meiner absoluten Lieblingsbands hören zu dürfen, aber ein bisschen mehr Mut und Mumm hätten wirklich nicht geschadet.


 


Erschienen auf Inside Out, 2020.



12.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (4) - The Slow Dancing Society - The Disappearing Collective Vol. I


THE SLOW DANCING SOCIETY - THE DISAPPEARING COLLECTIVE VOL.I


Manchmal zeigt sich der Charakter eines Albums erst spät. Oder präziser formuliert: manchmal erkenne ich den Charakter eines Albums erst recht spät. Das ist logischerweise ein Unterschied. Es ist natürlich viel romantischer anzunehmen, die Musik selbst stelle sich mir nix, dir nix auf diese eine bestimmte Lebensrealität von Flohihaan Blödkommadoofienull ein und verändert sich, transformiert eigenständig die Frequenzen und Schwingungen und trifft genau den richtigen, haha: Ton zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort. Dann schreibt man sowas ins Internet wie "Die Musik hat mich gefunden.", weil man ihr eine Intelligenz zugesteht, ein Eigenleben, ein Bewusstsein - und weil es natürlich wie nix feststeht, dass die Musik damit AUSGERECHNET!^111einself zu einem selbst kommt, dem Mittelpunkt von allem, der Mutter aller Wahrheiten und Weisheiten. Ob's auch 'ne Nummer weniger theatralisch geht, hab' ich gefragt? 

"The Disappearing Collective Vol.I" des US-Amerikaners Drew Sullivan zog im Frühjahr 2020 über einige Wochen hinweg seine eleganten Kreise durch den Westflügel meines Anwesens, und obwohl sie mich nicht umgehend mit prachtvoller Erektion aus dem Sessel feuerte, blieb die Platte verdächtig lange im "Neu Eingetroffen"-Fach des guten schwedischen Pressspanregals einsortiert. Besondere Platten verbleiben aus unterschiedlichen Gründen bisweilen sehr lange in diesem Fach; es ist vielleicht das untrüglichste Zeichen einer durch was und wie auch immer bewegenden Musik, sie immer wieder hören zu wollen. Immer wieder von ihr angezogen zu werden, weil sie das Leben bereichert, es schöner, bunter, intensiver macht. Oder weil man möglicherweise etwas von ihr lernt. 

Es mag sich nicht sofort erschließen, aber ich lerne vor allem mit und wegen solcher Musik viel über mich selbst, über Menschen, über Liebe, Ängste, Demut. Über Schönheit. Und darüber, Schönheit zu erkennen, sie nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern sie zu verstärken und zu wertschätzen. Das geht fast immer ohne Worte, fast immer ohne darunter liegender Message, fast immer ohne Erklärung. Man fühlt diese Musik. Sie wird zu einem Baustein für das eigene Verständnis, einem Puzzleteil für die eigene Idee von Leben. 

Well, die Idee von Leben...manchmal ist da Chaos, manchmal ist da Einsamkeit, manchmal ist da Angst. Sind wir ehrlich: fast immer ist da Angst. Und plötzlich ist da inmitten dieses tosenden Sturms jene berühmte nächste Ebene in dieser Musik spürbar, denn das Gesetz der Anziehung gilt ja nicht nur für Licht und Liebe allein: ich habe sie gefunden. Das sind erhebende, aber leider sehr flüchtige Momente, in denen man vielleicht für wenige Sekunden mehr von diesem irren Ritt versteht, mehr von sich selbst, mehr von der Welt, mehr vom Universum, mehr von der eigenen Bedeutungslosigkeit - und stattdessen plötzlich alles über Einheit. 

Alles ist vergänglich. Nichts bleibt. 

“The things we love will one day disappear - first slow and then so quick.”
(Matthew Ryan) 

 



Erschienen auf Past Inside The Present, 2020 


11.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (3) - Huerta - Junipero




HUERTA - JUNIPERO


Das hier ärgert mich ein bisschen. Ich bin nach dem stets auszehrenden Kampf mit der Bestenliste am Ende eines Jahres normalerweise völlig im Reinen mit mir und dem Ergebnis, zumindest mit der eigentlichen Auswahl - die Reihenfolge wird sowieso immer noch ein bisschen hin und hergeschoben. Für 2020 war das wegen eines Falls anders und das liegt an "Junipero". Und es ärgert mich wirklich ein bisschen. "Junipero" hätte in der Top 20 auftauchen müssen. I fucked this one up. 

Umso wichtiger ist es nun, das Debutalbum des in Los Angeles geborenen und mittlerweile in Berlin lebenden Produzenten Steve Huerta in der "Sonst noch was, 2020?!"-Reihe vorzustellen. Denn es ist wirklich eines der schönsten Werke des Jahres. 

Inspiriert von der amerikanischen Westküste ist "Junipero" sonnenlichtgetränkte, zart funkelnde Electronica, eingerahmt von sanft schwebenden Ambient-Texturen, einem ätherischen, subtilen Spiel mit Beats und psychedelischen Tauchgängen in die Unterwasserwelt. Das Album wich mir über die Sommermonate nicht mehr von der Seite. Es schenkte Zuversicht und aurale Sonnenstrahlen für den ersten Kaffee am Morgen und beruhigte am Abend; es war beinahe, als würde dieser Sound die Umgebung in einen Aura-Kokon einhüllen, wie ein Schutzschild für den Rückzugsraum, für Introspektion. Auf Bandcamp schreibt User benjj:

In the early, especially uncertain days of quarantine in NYC my roommate and I spent nights listening to this and watching the empty subway cars go by our window. such a comforting, transportive album.

...and I can feel that. 

"Junipero" klingt, als hätten die Boards Of Canada nicht wie üblich im kalten und erschütternd tristen Schottland der 90er Jahre gekifft und dazu dünnen Filterkaffee getrunken, sondern am Strand in Malibu bei 34°C, Dauersonnenschein und eingeweicht in eiskalten Caipirinha wochenlang MDMA gezogen. 

Wenn diese Beschreibung nicht attraktiv genug ist, um nicht sofort auf Bandcamp den "Kauf ich!"-Button zu klicken, weiß ich auch nicht mehr weiter. 


   



Erschienen auf Voyage Recordings, 2020.

 

09.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (2) - Shabaka And The Ancestors - We Are Sent Here By History




SHABAKA AND THE ACENSTORS - WE ARE SENT HERE BY HISTORY

Neuer Jazz stand 2020 nicht hoch im Kurs im Hause Dreikommaviernull. Ich habe von neuen Veröffentlichungen tatsächlich nur sehr wenig mitbekommen - das liegt an meiner Ignoranz und nicht an dem Mangel neuer Musik, just sayin' - und die neuen LPs von Nubya Garcia oder Nubiyan Twist stehen immer noch auf dem Einkaufszettel, anstatt bereits (ausgiebig gehört) im Schrank. Der Fotograf und Betreiber der Jazzpages Frank Schindelbeck kommentierte letztes Jahr auf Twitter, für sein Bankkonto sei es überaus erfreulich, dass ich so selten über Jazz schreibe - und mich machte das wirklich etwas betroffen. Nicht weil ich mich über Gebühr um Franks Bankkonto sorge, sondern weil Jazz auf dreikommaviernull.de seit ein paar Jahren tatsächlich stark unterrepräsentiert ist, und das ist vor allem hinsichtlich der sich über das letzte Jahrzehnt entwickelten Renaissance der Jazzszene im Vereinigten Königreich beinahe ein kleiner Offenbarungseid - das gilt selbst unter Berücksichtigung des fehlenden Anspruchs dieses Blogs, über aktuelle Ereignisse oder Strömungen im Sinne eines Magazins zu informieren. Das war nie der gedachte Sinn von all dem geschriebenen Unsinn (sic!), aber ich hätte mich schon ein bisschen mehr anstrengen können, bon.

Es ist vor diesem Hintergrund gleichfalls verstörend, mit Shabaka Hutchings einen der bedeutendsten Protagonisten jener florierenden Szene lediglich zwei Mal auf diesem Blog namentlich erwähnt zu haben, anstatt auch über seine Werke zu schreiben. Das im Jahr 2016 erschienene "Wisdom Of Elders" (noch auf Brownswood Recordings erschienen) hätte bereits in die damalige Top 20 gehört und ähnliches könnte ich auch über das 2018er Durchbruchsalbum "Your Queen Is A Reptile" seines Projekts Sons Of Kemet schreiben. "We Are Sent Here By History" ist nun das zweite Album des Tenorsaxofonisten mit seinen Ancestors, ein herausforderndes, manchmal verwirrendes, manchmal erleuchtendes Monument des Jazz, das künftigen Generationen als Zeitkapsel dienen wird, um sich über den Zustand der Welt im Jahr 2020 zu informieren. Aufgenommen in Johannesburg, wo die Ancestors zu Hause sind, vibrierend vor Spannung, drückend. Köpfe in den Wolken, geerdet im Zerfall. 

Meine persönlich gezogenen Linien zwischen dieser Platte und der Zeit, in der sie entstand und wirkte, beziehen sich vor allem auf die globalen Black Lives Matter-Proteste aus dem Mai des vergangenen Jahres, die in den USA mit der Ermordung von George Floyd begannen und sich von dort aus zu einem globalen Phänomen ausweiteten. Der Schmerz, die Verzweiflung und der bebende Zorn derer, die jahrhundertelange Unterdrückung plötzlich so klar wie nie zuvor sehen konnten auf der einen, und die wohl noch nie so stark gespürte Anerkennung der eigenen Schuld und Verantwortung auf der anderen Seite, vereinigten sich zu einer mitreißenden Bewegung, die für mich das Jahr mindestens so bestimmte wie die Covid-19-Pandemie - und unter diesem Eindruck des Aufruhrs, der Erweckung, aber auch der Verbrüderung hörte ich "We Are Sent Here By History" als weitere Stimme dieses Chors, als Aufschrei, als Weckruf. Die Worte von Autor und Dichter Siyabonga Mthembu begleiten die Band dabei auf ihrem Weg durch das Album, sie untermalen und untermauern das thematische Konzept eines neu gedachten Humanismus nicht nur, sie stehen ganz zentral für Veränderung: 

"We are sent here by history/The lighter gave fire, and was present at the burning/The burning of the republic/Burnt the names, burnt the records, burnt the archive, burnt the bills, burnt the mortgage, burnt the student loans, burnt the life insurance/An act of destruction became creation."


Hutchings selbst sagt:

"'We Are Sent Here by History’ is a meditation on the fact of our coming extinction as a species. It is a reflection from the ruins, from the burning; a questioning of the steps to be taken in preparation for our transition individually and societally if the end is to be seen as anything but a tragic defeat. For those lives lost and cultures dismantled by centuries of western expansionism, capitalist thought and white supremist structural hegemony the end days have long been heralded as present with this world experienced as an embodiment of a living purgatory."

Was die Musik dieses Sextetts (unter anderem mit dabei: Schlagzeuger Tumi Mogorosi, über dessen Debutalbum ich vor einigen Jahren schrieb) so drastisch und expressiv macht, ist die authentische Wucht des Vortrags einerseits, ein tosender, entfesselter Sturm aus einer Million Kehlen und Lungen, andererseits die tief verwurzelte Spiritualität der Gruppe, ihre Geschichte, ihre Verbindung zu ihrem Land und ihren Menschen. Aus diesen zwei vornehmlichen Strömungen in dieser Musik entsteht eine Wahrhaftigkeit, eine Überzeugung darüber, dass Veränderung unausweichlich ist. 

Man antizipiert den Schmerz, man hört geradewegs das Auseinanderreißen alter Strukturen, die Zerfaserung, das Splittern. Man schmeckt die Tränen. Alle gemeinsam für ein neues Morgen.


 


Erschienen auf Impulse Records, 2020.



08.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (1) - Fates Warning - Long Day Good Night

Für den Top 20-Jahresrückblick blieben ein paar Alben auf der Strecke, manchmal unerwartet, manchmal einfach nur, weil ich sie zu spät kennenlernte. Um nicht wie in den fucking 13 Jahren zuvor immer wieder den selben Fehler zu machen und solche Kandidaten irgendwann einfach zu vergessen, werden wir also über die nächsten Wochen Monate öfter mal ein Wort über das verlieren, was sich abseits der vermeintlich besten Platten des Jahres noch so getan hat. 

2020 wird uns also noch eine Weile beschäftigen - und das gilt vermutlich sogar über die Musik hinaus. 

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FATES WARNING - LONG DAY GOOD NIGHT

Ich liebe Fates Warning. Ich liebe ihre Unaufgeregtheit, ihre Melancholie, ihre Brillanz. Dass sie nach ihrem Comeback mit "Darkness In A Different Light" im Jahr 2013 nur drei Jahre später einen echten Meilenstein aus dem Hut zauberten, traf mich bei aller Verliebtheit wie ein Öltanker bei Nacht: "Theories Of Flight" ist ein überragendes progressives Metalalbum, über das ich bereits hier und hier ausgiebig referiert habe. Dass der im November 2020 erschienene Nachfolger "Long Day Good Night" in meine Top 20 gehört, war glasklar, eigentlich schon vor dem Hören. 

Aber es kam anders. 

Es stimmt etwas nicht mit dieser Platte, und ich kann nicht mit Gewissheit sagen, was es ist. Es gibt aber Indizien. Erstens: das Album ist zu lang. Die Vierminüter aus dem letzten Drittel gehören streng genommen komplett gestrichen, weil der Band hier jede Spannung aus den Händen gleitet. In diesem Zusammenhang ist es zweitens mindestens genauso wichtig zu erwähnen, dass kein einziger Song der besagten Gruppe für sich genommen medioker oder gar Schlimmeres ist - dass sich trotzdem jener Eindruck verfestigt, deutet auf ein echtes Problem aus dem Regieraum hin. Drittens: wenigstens in der ersten Hälfte meint man hinsichtlich der Songstrukturen ein Abziehbild des Vorgängers zu hören. Ich nenne dieses Phänomen den Tool-Effekt: definitiv andere Songs, definitiv andere Vibes - und dennoch: "Das kenne ich doch genau so schon von der letzten Platte, dafuck?!" Viertens: die ohnehin nicht gerade üppig gesäten Experimente wollen nicht recht gelingen. Der ZDF-Fernsehgarten-Schunkler "Under The Sun" ist mindestens diskussionswürdig und sorgt spätestens im Refrain bei meiner der Band ebenfalls überaus zugeneigten Herzallerliebsten für den so berüchtigten wie wort-und verständnislosen Blick über den oberen Brillenrand. Und der Longtrack "The Longest Shadow Of The Day", angeblich bereits über mehrere Jahre in Arbeit, man fragt sich leise "Warum?", gerät mit einem - ich möchte offen sprechen: komplett ratlos machenden Instrumentalteil zu Beginn zu einem zwar ambitionierten aber gleichzeitig orientierungslosen Epos, das beim Versuch, dem Intensitätsmonster "The Light And Shade Of Things" ein Eckchen abzuknabbern, sich ordentlich verschluckt. Fünftens: sollten sich die Gerüchte bestätigen und "Long Day Good Night" ist tatsächlich das letzte Studioalbum dieser legendären Band, dann müsste ich mir angesichts des zwar (ein bisschen zu) programmatisch betitelten Abschlusssongs "The Last Song" und seiner auffallenden emotionalen Lethargie und Schlaffheit beinahe ein paar Sorgen machen. Vielleicht entgeht mir aber auch die Verbindung jener Lethargie zu einer wirklichen, echten Erschöpftheit der Protagonisten; ein so naheliegender wie profaner Gedanke, aber es gibt auch hier ein Problem: "Long Day Good Night" kann selbst diese vermeintliche Dramatik weder tragen noch klären, dafür fehlen Tiefe, Ausdruck, Engagement. Ich wiederhole mich: Es stimmt einfach etwas nicht mit dieser Platte. 

All das liest sich wie ein furchtbarer Verriss. Das ist jedoch nur das viertelchen Wahrheit. 

Ich liebe Fates Warning. Es gibt ganz wunderbare Momente auf "Long Day Good Night", es war alleine im Digitalformat eines meiner meistgehörten Platten des vergangenen Jahres (und in dieser Statistik sind die Schallplattendurchgänge freilich nicht mal aufgeführt.) Und ich liebe Ray Alder. Ich würde mir jede weitere Fates Warning Platte taubstummblind kaufen, und hätte ich letztes Jahr einen großen und damit auch irgendwie einmaligen Schluck aus der Schnapspulle genommen und mir gar eine Top 30 vorgenommen, wäre "Long Day Good Night" vermutlich dabei gewesen. Der Begleittext hätte indes nicht bedeutend anders ausgesehen als dieser hier. 

Möglicherweise saß das Problem aber wie so häufig mal wieder vor dem Plattenspieler. Ich kann nicht abstreiten, dass ich nach dem Höhenflug von "Theories Of Flight" (und auch der Arch/Matheos-Sternstunde "Winter Ethereal") auf eine Wiederholung dieser Erfahrung hoffte und jedes Bröckeln dieser Erwartung nichts weniger als einen kleinen Weltuntergang bedeutete. Die Logik weiß, dass die herausragende Qualität solcher Platten wie eben "Theories Of Flight" auch deswegen so herausragend ist, weil sie so selten passiert. Wunderwerke sind eben rar. 

Das Herz will das alles nicht verstehen. Das Herz will Überfluss, Euphorie, Drama - 24/7, auf allen Kanälen und aus allen Rohren gefeuert. Man nennt's Leben.


   



Erschienen auf Metal Blade, 2020. 



04.04.2021

Best of 2020 ° Platz 1 ° Night Sea - Still



NIGHT SEA - STILL

I'm looking California
And feeling Minnesota
(Soundgarden)

Das Album des Jahres kommt aus den tiefen Urwäldern British Columbias, von meinem neben A Strangely Isolated Place anderen, meinem also zweiten Lieblingslabel Silent Season. Labelchef Jamie sagt selbst, Silent Season hätte 2020 mit lediglich zwei physischen und drei digitalen Veröffentlichungen ein ziemliches "low-key"-Jahr gehabt (neben "Still" kam nur noch Tomas Jirkus "Touching The Sublime" auf Schallplatte heraus, ebenfalls ein sehr gutes Album), aber wenn solch ein Meisterwerk wie "Still" auf dem Radar ist, kann ich mit einem heruntergefahrenen Ausstoß an neuer Musik bestens leben. 

Nach spätestens 2 Minuten und 53 Sekunden mit "Still" ist klar: das ist eine besondere Platte und das wird in den folgenden 48 Minuten ein besonderer Trip. Wenn sich durch den langsam aufziehenden diesigen Ambientschleier plötzlich ein Energieblitz aus den Schallplattenrillen über den Tonabnehmer, Tonarm, die Innereien des Plattenspielers über die Kabel in den Lautsprechermembran seinen Weg bahnt, unaufhaltsam und mächtig und beinahe physisch spürbar direkt in dein Herz schießt - Treffer, versenkt. Was für ein Einstieg. Eigentlich eine eiskalte Dusche nach dem 180°C Saunagang - danach folgt totale Entspannung: sanft fließende Dub-Variationen, aquatische Motive, Levitation im freien Raum. 

Denn "Still" ist das beruhigendste und gleichzeitig betörendste Album des Jahres. Ich habe es im vergangenen Sommer tatsächlich in erster Linie in jenen Zeiten gehört, die nach aktiver Entspannung gerufen haben; wenn also Lohnarbeit, Leerdenker und Leben über das wucherten, was in normalen Zeiten noch geistige Gesundheit genannt wurde, war "Still" ein außerordentlich starkes Sedativum, das allerdings nicht die Sinne betäubte und dämpfte, sondern sie öffnete. In den vergangenen Texten über die Top 20 des vergangenen Jahres hatte ich mehrfach die Ambivalenz erwähnt, die ich in so mancher Musik entdeckt zu haben meinte - sei es aus Projektion und selektiver Wahrnehmung, 's is' eh schon alles egal - und die ich vermutlich deswegen so attraktiv finde, weil sie mich in der Notwendigkeit bestärkt, Grautöne wahrzunehmen, besser: wahrnehmen zu müssen, um die Welt und mich selbst zu verstehen. Denn das ist vielleicht immer noch der heilige Gral, den es im Leben zu finden gilt: Verständnis, Aufklärung, Bewusstheit. Alles, was mich diesem Kern näherbringt, hat Bedeutung und Wirkung. 

Das bemerkenswerte an "Still" ist: da ist keine Ambivalenz. Da ist keine Projektion und keine selektive Wahrnehmung, da sind keine bohrenden Zweifel, kein Grau, da ist kein Zaudern. Stattdessen: Klarheit. Tiefe. Wärme. Natur. Verbundenheit. Empathie. Ursprünglichkeit. Und die Erkenntnis, dass es keinen Antagonismus benötigt, um auf die andere Ebene, die andere Seite zu kommen. Ganz im Gegenteil: Es braucht Einigung. 

Viel näher kommt man an das Licht nicht heran.  


   

Erschienen auf Silent Season, 2020. 


03.04.2021

Best of 2020 ° Platz 2 ° War On Women - Wonderful Hell





WAR ON WOMEN - WONDERFUL HELL

"If you say you're not a feminist, it's kinda like admitting a lot of really weird shit about yourself." 
(Tim McIlrath)


Ich habe seit Jahren einen Narren an dieser Band gefressen, ich geb's zu. Seit der ersten Begegnung im Vorprogramm von Propagandhi bin ich fasziniert von dem damals noch sehr aufgerauten und nervösen, heute melodisch ausgefeilteren Hardcore-Punk-Gemisch, den völlig kompromisslosen und konfrontativen Texten, ihrem rigorosen Auftreten. Wo sie es einem anfangs noch etwas schwer machten, die von naiver Ungestümtheit und der zügellosen Stimme von Sängerin Shawna Potter geprägten Punkeruptionen der EP "Improvised Weapons" vorbehaltlos zu umarmen, machen sie es einem spätestens ab dem ersten selbstbetitelten Album praktisch unmöglich, ihnen die kalte Schulter zu zeigen. Sie wurden immer besser, sowohl auf Platte als auch live: zwischen der ersten Show im Jahr 2013 bis zum letzten Auftritt im sommerlichen Wiesbaden liegt eine kleine Welt. Apropos, das Konzert zusammen mit den ebenfalls so tollen wie wichtigen Petrol Girls - ein Traum-Billing, sowieso - war vielleicht das beste des Jahres 2019. Überall gute und entspannte Menschen und zwei herausragende Punkbands mit einer so bedeutsamen Message, dass es mir bei den intensiven Ansagen von Petrol Girls-Sängerin Ren Aldridge nicht nur einmal um ein Haar die Tränen kamen. Diesen Abend werde ich so schnell nicht vergessen.

"Wonderful Hell" ist nun auf jeder Ebene ein einziger Triumphzug für War On Women und der vorläufige Höhepunkt ihrer Karriere. Wenn ich beim letzten Album "Capture The Flag" darüber schrieb, die Band aus Baltimore könne es sich sogar erlauben, den besten Song "Anarcha" im hinteren Drittel zu verstecken, dann haben sie es sich jetzt erlaubt, gleich die ganze Platte bis unters Dach mit derlei Brechern vollzupacken. Hits. Hits, Hits, Hits. Überall Hits. Durchgängig. I'm not fucking kidding.

Shawnas erneut verbesserter Gesang (die Frau hat fucking pipes!), ein überragendes Melodieverständnis, ohne auch nur einen Hauch Durchschlagskraft und Drive zu verlieren, ein angenehm weites stilistisches Spektrum mit einigen herausragenden Ideen und Experimenten wie im rhythmisch vertrackten und abwechslungsreichen "Big Words" oder das zynische "Her?" mit großartigem Riffing und zornigem Text, der den allgegenwärtigen Frauenhass und die Doppelmoral einer von Männern konstruierten Welt offenlegt. Apropos Texte: auch auf "Wonderful Hell" stehen glasklare Kante zeigende und -einfordernde Texte, die in ihrer Geradlinigkeit so kraftvoll sind und damit selbst einem wie mir, der sich über den eigenen Status als Profiteur des patriacharlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems sehr genau im Klaren ist und über all die so sorgfältig aufgebauten protektiven Strukturen und ihre desaströsen Folgen besser Bescheid weiß als mir lieb sein kann, immer noch den Holzhammer auf die gleichfalls immer noch erschütternd leere Birne bommeln lassen und mich jedes Mal aufs Neue dazu zwingen, meine eigene Realität und Wahrnehmung zu hinterfragen. 

Und dennoch haben sie es auch jetzt wieder geschafft, die beiden alles überstrahlenden Tracks ans Ende des Albums zu setzen. Zunächst entwickelt sich "The Ash Is Not The End" von einem recht unspektakulärem Beginn innerhalb von Sekunden zu einer mitreißenden Hymne mit bebendem Text:

So you wanna burn it all to the ground
Like there's no coming back from this?
You fucking quitter
The fire, the embers, the ash are not the end
If you want it, then you're gonna have to build it yourself

bevor "Demon", in guter Tradition als längstes und ungewöhnlichstes Stück am Ende des Albums platziert, dann mit bislang ungeahnter Intensität tatsächlich alles zu Staub zerbröseln lässt. Bedrohlich und düster - und so kraftvoll und mächtig. 

Ein beeindruckender Abschluss für ein beeindruckendes Album einer beeindruckenden Band. 

Wo soll das alles noch hinführen? 

 

Erschienen auf Bridge Nine Records, 2020. 


02.04.2021

Best of 2020 ° Platz 3 ° Soela - Genuine Silk


SOELA - GENUINE SILK

One more cosmic watergate
Psychic war, deletion zone
Future destiny unknown
(Voivod)

"Genuine Silk" hat mich noch kurz vor Jahresende blutig abgegrätscht, weil mein Bauchgefühl bereits bei Erstkontakt im Spätsommer des vergangenen Jahres sämtliche 10000 Watt Glühwürmchen in die "für die Jahreszeit zu warme" (Jens "Granate" Riewa) Winternacht Sossenheims schicken sollte. Der Ausgangspunkt, weil same procedure as last month, dear Girokonto: einfach mal ein Wochenende lang auf den bevorzugten Webstores rumhängen und mit geradezu ungesunden Mengen an Kaffee und Proteinriegeln in neue Musik reinhören, recherchieren, vergleichen und am frühen Montagmorgen um halb drei mit nervösen Ausfallerscheinungen und 57 Platten in 6 Warenkörben versuchen, Schiffe Versenken für behämmerte Giganerds zu spielen, um das Supermarkt-Budget am Monatsende nicht auf "rohe Kartoffeln, rohe Zwiebeln, frische Knorpel"-Niveau runterfahren zu müssen. Im Falle des Albumdebuts der in Berlin lebenden Produzentin Elina Shorokhova war die Sache eigentlich nach wenigen Augenblicken klar. Das markant-unwirkliche und anziehend wirkende Cover-Artwork, das Label (Dial) und eine Minute des Quasi-Openers "Shadows On The Wall" reichen aus, *klick*, gekauft, Hurra!

Eines meiner liebsten Labels, das in Los Angeles operierende A Strangely Isolated Place, bedruckte vor Jahren mal einige Merchandise-Shirts mit dem Motto "Ambient In The Sheets - Techno In The Streets" und wenn man mich früge (sic!), kam bislang kein anderes Album der Vereinigung der beiden vermeintlichen Gegensätze so nah wie "Genuine Silk". Für jemanden, dessen Leben sich zumindest mental ohne Weiteres zu 97% im Bett abspielen könnte, die restlichen drei Prozent gehen für den (fast) unvermeidlichen Toilettengang und Plattenpakete vom Briefträger an der Haustür abholen drauf, ist diese Platte ein Paradies: wachsweiche Synthieschwaden fließen sirupartig von der Decke herab, ein melancholischer Blick aus dem Fenster zeigt einen diesigen Horizont avec Nieselregen, die Nebelmaschine zischt mit der Kaffeemaschine um die Wette, das elegant getupfte Piano lässt zusammen mit dem verhuschten Stimmengefetze Erinnerungen an die verstörend leeren Schlafzimmerblicke der ersten Tri Angle-Veröffentlichungen wach werden - und in der zweiten Hälfte houst es sich mit hellerem, klarerem Beat in Richtung Kuschelsex und der Zigarette danach. Es. Ist. So. Fucking. Smooth. 

Ich habe mit "Genuine Silk" weite Teile des Lockdown-Winters verbracht. Das hat wegen der idyllischen Melancholie seiner Songs schon gut funktioniert. Ich kann es andererseits auch kaum erwarten, das Album in der Frühlingssonne und an lauen Sommerabenden auf der Terrasse in meinem Frankfurter Kiez zu hören. Denn diesen Spagat bekommt Soela hin: lebensfrohe und sommerliche Urbanität mit schwermütigem Grauschleier zu verbinden ist ein Klacks für dieses Wunderwerk. 

Wir treffen uns bitte in der Mitte, auf ewig.


 


Erschienen auf Dial, 2020.



01.04.2021

Best of 2020 ° Platz 4 ° Aril Brikha - Dance Of A Trillion Stars




ARIL BRIKHA - DANCE OF A TRILLION STARS

Broken, bruised, forgotten, sore
Too fucked up to care anymore
(Nine Inch Nails)


Über die ersten sechs Monate des Jahres saß "Dance Of A Trillion Stars" auf dem Thron der Jahresbestenliste und wurde erst in der zweiten Jahreshälfte ein ganz kleines bisschen verdrängt. Eine Platte, die ich in einer Zeit, in der vieles auseinanderzufallen drohte, als gesundes Regulativ wahrnahm, als Normal Null. "Dance Of A Trillion Stars" ist bei aller Introvertiertheit und Ruhe keine elegische Operette der Besinnung, es bietet keinen Pfad in die Untiefen des eigenen Geistes, es zeigt keinen übertriebenen Gestus der Dramatik. Es ist eher ein Glas frisches, kaltes Wasser: Ein Lebensspender, wenn die eigene Realität vor der geistigen Dürre kapituliert. 

Sein erstes Album seit 13 Jahren zeigt den schwedischen Produzenten in den Zwischenwelten der Schwerelosigkeit, des Fantastischen, der Bewegung und man fragt sich: waren das einmal Skizzen seiner sonst üblichen Techno und House-Tracks, bevor damit anfing, diese Kompositionen auseinanderzubauen und zu belüften? Einen Beat hat man den pulsierenden Grooves nämlich fast durchgängig entzogen; sie entstehen im Grunde lediglich aus ihrer Dynamik, die sich aus den übereinandergelegten, im Tempo immer wieder variierenden Schichten und dem Spiel unterschiedlicher Perspektiven und Fluchtpunkte einstellt. Das macht "Dance Of A Trillion Stars" einerseits abstrakt, weil die Verschiebungen so subtil inszeniert sind, dass man sich ihnen zunächst nur über das Flackern ihrer Aura nähern kann - andererseits entwickelt sich aus ihnen bisweilen eine fast expressive Klarheit. Wenn Brikha hingegen wie im Stück "Everything Was Here First" einen sehr rudimentären und nur für wenige Minuten sehr sparsam eingesetzten Beat zulässt, vergrößert sich diese Klarheit noch zusätzlich, sie wird lebhafter und direkter. Etwas diesig wird es eigentlich nur im Abschlusstrack "She's My Everything", der sich am weitesten ins Grenzgebiet zwischen Ambient und Techno vorwagt und die perlenden Synthieblitze mit einem gedämpft pochenden Unterwasserbeat und rollendem Basslauf begleitet. Und selbst hier ist es eher kaltweißes Licht, das die Dämmerung bricht als der vorgewärmte Sepiafilter im Wohlfühlpulli.

"Dance Of A Trillion Stars" ist Raumfahrer-Techno für den Spaziergang im unendlich weiten, kalten Kosmos. Eine Streckübung des Science Fiction Ambients, gebaut für den so benötigten Perspektiv- und Paradigmenwechsel: aus 3,40 Millionen Lichtjahren Entfernung ist auch der größte Scheißhaufen eben nur ein Maulwurfhügel. Ein Trost, immerhin.


 



Erschienen auf Mule Musiq, 2020.



28.03.2021

Best of 2020 ° Platz 5 ° Shuta Yasukochi & Carlos Ferreira - Quiet Reminders



SHUTA YASUKOCHI & CARLOS FERREIRA - QUIET REMINDERS


The blood drop signifies a rise in the stock
(Thievery Corporation)


Ich adelte "Quiet Reminders" in einer meiner sehr seltenen Reviews auf Bandcamp als das "most soothing and consoling album of 2020" und wenn ich mich außerhalb dieses Blogs zu solchen öffentlich vorgetragenen Meinungsäußerungen hinreißen lassen, handelt es sich um eine durchaus bemerkenswerte Ausnahme. 

Ich schreibe oft davon, dass die ersten Sekunden einer Ambient-Produktion oft den Unterschied für mich machen. Stephane Mathieu ist beispielsweise ein solcher Meister des unmittelbaren Klangs, der mich sofort einnimmt und in die Tiefe abtauchen lässt. Die Arbeiten von Shuta Yasukochi sind in dieser Hinsicht exotisch, weil sie mich zwar zum gleichen Ergebnis bringen, dafür aber ein paar Umlaufbahnen um mein Herz in Kauf nehmen müssen, an denen ich mich zunächst nur schwer entzünden kann. Wie bereits bei seinem Album "Short Stories" aus dem Jahr 2017 hat es auch bei seiner Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira für "Quiet Reminders" etwas gedauert, bis ich den sorgfältig versteckten Eingang in dieses Labyrinth fand. 

Einmal durch diese Tür gegangen und die Schwelle zur Klangwelt auf der anderen Seite passiert, gibt es aber kein zurück mehr. Wie konnte das passieren? 

Ich glaube, die Antwort besteht aus zwei Teilen. Erstens: ich empfinde Yasukochis und Ferreiras musikalische Sprache als sehr bildhaft und assoziativ, sie gibt einen Schaltplan vor, der mögliche Verknüpfungen, Möglichkeiten, Wege und Linien aufzeigt und dem Hörer damit sämtliche Freiheiten in das eigene Zutrauen überlässt. Es folgt ein hochgradig komplexer und spezialisierter Prozess, der Muskeln trainieren, Reflexe anerkennen muss; ganz so, als müssten nach einer Gehirn-Operation bestimmte Körperbereiche und -funktionen wieder neu programmiert, oder besser: rebootet werden. Daran muss ich mich immer wieder zuerst gewöhnen, eine Mischung aus Phantomschmerz und Nachtblindheit. Zweitens: ihre Musik ist in ihrem Schwebezustand auffallend expansiv und wird geflutet von kaum wahrnehmbaren Mikrobewegungen. Die entstehenden Bilder entwickeln mit der Zeit ein Eigenleben, sie bewegen sich mit der Musik, verändern sich, tauchen ab, steigen wieder empor, stellen scharf und verschwimmen. Damit wird der zu beobachtende Raum übergroß und frei, obwohl er doch unter ständiger Kontrolle der beiden Musiker bleibt. Diese Ambivalenz, beinahe eine Chimäre, ist nicht leicht zu verarbeiten, weil sie einerseits überfordert und andererseits komprimiert. 

"Quiet Reminders" lebt von der Auseinandersetzung, von dem Spiel mit diesen Gegensätzen. Und eines Tages wachst du auf und stehst wie selbstverständlich mitten auf dem Spielfeld, angezogen von der Tiefe, belohnt mit der Weite.


         


Erschienen auf Archives, 2020.

25.03.2021

Best of 2020 ° Platz 6 ° Recondite - Dwell


RECONDITE - DWELL


Here's Tom with the weather.
(Bill Hicks)


Corona-Lockdown-Soundtrack, Teil 2: Es gibt Musik in meiner Welt, die für immer mit einer bestimmten Zeit in meinem Leben verbunden sein wird; Alben und Songs, die Bilder, Situationen, Lebensgefühle in emotionale Frischhaltefolie gepackt haben und deren auch nur kurz aufzuckende Erinnerungsblitze sofort die Tür zur Herzkammer aufreißen und "Film ab!" rufen. In der Retrospektive sind das jene Platten, die bleiben werden, für immer. Und wenn ich mich endlich mal zu einer Entscheidung durchringen könnte, wäre das ganz eventuell die Antwort auf die sich seit Jahren in meinem Kopf windende Frage, wie der Auswahlprozess bei einer radikalen Verkleinerung der Tonträgersammlung wohl aussehen mag. Es klingt so einfach, aber ich würde mir lieber den kleinen Zeh mit einer rostigen Nagelschere entfernen oder ein Metalcore-Album bei vollem Bewusstsein anhören, als es wirklich durchzuziehen. Noch. 

"Dwell" von Recondite aka Lorenz Brunner ist mein Soundtrack des ersten deutschen Corona-Lockdowns. Ich hörte im März und April des Jahres 2020 keine andere Platte so häufig - und keine andere Platte war in der Lage, mir dieses Gefühl der Geborgenheit und des Trosts zu spenden wie "Dwell" - und das ist deswegen bemerkenswert, weil "Dwell" weder Kuschelambient noch ein "Feel Good Hit Of The Summer" ist. Gehen wir also auf Entdeckungsreise. 

Dämmerung. Fahles, gelbes Licht. Unschärfe. Zeitlupe. An der Oberfläche ist das kein ungemütlicher Ort. Es funkelt schwach unter der matten, glatten Fassade; ein paar fiebrige Erinnerungen, ein rauschhaftes Verlangen, ein sedierter Morgen danach. Es lässt sich sehr tief sinken mit dieser Platte, und vermutlich gilt das für exotherme wie auch für endotherme Lebensrealitäten, für die Extase wie für den Knacks. In beidem steckt Melancholie, sie unterscheiden sich nur in der Art der Lichtbrechung: das senkrecht auftreffende Licht ändert seine Richtung nicht, es erfährt weder einen Erkenntnisgewinn noch Varianz. "Ich will so bleiben wie ich bin", der ganze Wahnsinn einer Margarinewerbung in Schwermut gebadet. Anders das schräg einfallende Licht, das schon aus einer Quelle entspringt, die Zweifel, Kritik und Geistesgegenwart auf die Stirn küsste - und beim ersten Hindernis vom Weg abkam. "Dwell" hat all das mit seinem elegischen Ambient-House verinnerlicht; es spielt sein Blatt mit all dem Drama, all der Schwere - und verzieht dabei doch keine Miene. Bleibt nüchtern, hält sogar etwas Abstand ein, beschreibt und dokumentiert mehr, als dass es sich in das Schauspiel direkt hineinbegibt. Als hätte Lorenz "Dwell" auf eine Leinwand gemalt: da ist eine Verbindung zum Bild, aber fast keine zum Motiv. 

Aber da ist noch mehr. Die dunklen, minimalistischen Melodiebögen, dessen Arrangements manchmal wie eine obskure Mischung aus spätromantischen Dead Can Dance und torkelnden Boards Of Canada klingen und die Weite in den großen, kargen Flächen dieser Songs bis hin zur Klaustrophobie verengen können. Darunter der stoische Beat, der ab und zu ins Stolpern gerät und mit überraschenden Trap-Elementen spielt, dazu die nervöse, zitternde HiHat. Bei aller Elegie - hier brodelt auch etwas Unheilvolles unter der Oberfäche vor sich hin. Vielleicht hat sich mein Gefühl der Unsicherheit und der Furcht im vergangenen Jahr in dieser Musik gespiegelt und vielleicht kam darüber die enge emotionale Bindung zu "Dwell". 

"Dwell" kann all das. Die Endorphin-Rumba im Hedonismusmantel, Leidenschaft bis zur Selbstaufgabe - und zum Sun-Downer ein Diazepam-Flip mit Kirschwasser. Der süße Nektar des Scheiterns. Endlich daheim.


   


Erschienen auf Ghostly International, 2020.


21.03.2021

Best of 2020 ° Platz 7 ° D.K. - Live At The Edge




D.K. - LIVE AT THE EDGE

There's no such thing
As owning something
It's all borrowed for a time
It's all borrowed for a time
(Marillion)


Ich habe bis zur Mitte der 00er Jahre keine elektronische Musik gehört, ich war Rock with a capital R, Rrraaaawwwwwwk; nicht unbedingt in Person, weil ich schon immer ein Sensibelchen war, nett, lieb, brav und emotional mit so manch heikler Situation, zwischenmenschlicher zumal, schlicht überfordert, aber beides war eben auch meine Sozialisation: gut behütet und beschützt im ruhigen Frankfurter Westen aufgewachsen, Elternhaus weitgehend intakt, der Tag hatte Struktur wenn ich morgens in Panik in die Schule und am Nachmittag mit Tüll-Tü-Tü auf die Rollschuhbahn zum Eislaufen (o.s.ä.) musste, es darf sich einfach niemand mehr über irgendwas wundern  - aber ich hatte auch einen Bruder im Nebenzimmer, der mich in den 1980er Jahren mit Hardrock, Heavy, Thrash und Speed Metal anfixte. Oder besser: seine Poster-, Picture Disc- und Konzertkartensammlung an der Wand seines Zimmers fixten mich an. Erst als Rock im Allgemeinen und Metal im Besonderen so frisch und spritzig wie eine drei Tage alte Urinprobe von Jürgen Fliege waren und ich außer königlicher Langeweile nichts mehr spürte, streckte ich die Hände zur Rettung aus - und wurde von den üblichen Verdächtigen aus dem trüben Sumpf der gespielten Rebellion und egaler Gleichförmigkeit gezogen: es waren zunächst die Downtempo und Future Jazz Vibes von Jazzanova und der Thievery Corporation, der Glücklich-Samplerreihe von Rainer Trüby, die Latin Jazz-Exkursionen eines Gilles Peterson, später kamen dann die abstrakteren Vertreter wie Autechre oder Boards Of Canada hinzu. Diese, nennen wir sie zeitgemäß einmal "zweite Welle" erlebte im vergangenen Jahr ein Comeback im Hause Dreikommaviernull und es waren Platten wie "Live At The Edge", die dafür mitverantwortlich waren.

Das ist weniger als direkte Reminiszenz an die Musik der eben erwähnten großen Namen gemeint, denn wo Autechre so lange dekonstruierten bis außer geisterhafter, im Nebel herumstehender Grundmauern einer Ahnung von Musik nicht mehr viel blieb und Boards Of Canada es sich mit einer Überdosis in Ketamin getränktem Weichmacher auf dem Jupiter gemütlich machten, gerät die im Club The Edge in Seoul aufgenommene Livesession des französischen Produzenten Dang-Khoa Chau im Vergleich weder über Gebühr experimentell noch entrückt. Was "Live At The Edge" aber zwischen Schwebeteilchenambient, Unterwasserelectronica und betäubtem Sci-Fi-Deep-Bass channelt, sind die Vibes jener avantgardistischen Aufbruchstimmung der 90er Jahre, die diffuse Nostalgie, Befreiung und Beklemmung gleichermaßen im Subtext mitlieferte. 

Melancholie, Nostalgie, Kellog's Frosties - die drei wichtigsten Götter der Generation X. "Live At The Edge" erinnert mich daran, an uns nämlich, und außerdem daran, das Proseminar "Soziale Strukturen II: Gesellschaft und Konsum" nicht abgeschlossen zu haben, sei's drum: Man sagt uns nach, dass wir uns um nichts kümmern, dass wir zynisch sind, oberflächlich. Schlau und gebildet, gewiss - aber doch an nichts interessiert. In Wahrheit waren wir verloren und isoliert - und umarmten daher Musik, die unsere Orientierungslosigkeit reflektierte, uns auffing und verstand. Die uns eine Perspektive gab, obwohl sie genau so wenig wusste woher wir kommen und wohin wir gehen. Das gilt genreübergreifend für die aufkommende Technoszene wie für den Grunge und Alternative Rock. Und das gilt auch für das, was früher unter dem umstrittenen Begriff des IDM, also der Intelligent Dance Music einsortiert wurde. "Live At The Edge" ist aus diesem Stoff gestrickt. So aufgeweckt wie trist, so indifferent wie klar. Endlose Weite im Kosmos und gleichzeitig Klaustrophobie im unterirdischen Labyrinth der Werjowkina-Höhle. This beat is Ambivalenz. Man kann es uns nicht recht machen.


   



Erschienen auf 12th Isle, 2020.