11.02.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 12 bis 10



Platz 12 - THOMAS DYBDAHL - THE GREAT PLAINS


Monsieur Etten nannte den in seinem Heimatland Norwegen hart am Superstar-Status kratzenden Thomas Dybdahl mal im Rahmen seiner ersten beiden Alben "That Great October Sound" und "Stray Cats" den "Styler unter den Singer/Songwritern" und traf damit den Nagel auf den Kopf. Mittlerweile hat sich ländliche Idylle und eine Art von Kammermusik stärker als zuletzt in seine Songs eingewebt, allerdings nicht ohne eine bisweilen durchaus bemerkenswerte Portion Psychedelica-Pop einzubauen. Die von seiner Musik geschaffenen Bilder erscheinen dadurch oft verschwommen, träumerisch und apart. "The Great Plains" überrascht darüber hinaus mit einigen sehr offenen und luftigen Pop-Arrangements mit erstaunlichem Tiefgang, die nicht selten, wie im Falle von "No Turning Back", mit einem herzhaften Biss ins Fliegenpilzbaguette gebrochen werden. Zu gleichen Teilen einfühlsam und kraftvoll bewegen sich Dybdahl nebst seiner Begleitmusiker durch eine purpur schimmernde und intime Platte, die man am besten zu Kerzenschein in den Nachtstunden genießt. 




Erschienen auf V2, 2017.










Platz 11 - PROPAGANDHI - VICTORY LAP


Über den Stellenwert dieser legendären Band für meine Welt zu sprechen, hieße Nazis in die AFD zu tragen, und weil man es ja trotzdem nie oft genug betonen kann, hier nochmal in Kurzform: sie veränderten mein Leben. Erstmals mit der neuen Gitarristin Sulynn Hago an Bord, war ich sehr gespannt auf "Victory Lap" und wurde nicht enttäuscht. Beginnt das Album mit dem Titeltrack noch überraschend eingängig, gerät die Denkvorrichtung schon mit dem folgenden "Comply/Resist" (einem ihrer besten Songs aller Zeiten) ein bisschen außer Balance und baumelt spätestens im dritten Albumviertel mit seinem sperrigen Thrashpunkmetal am seidenen Faden. Wer hier vorgibt, schon nach den ersten drei Durchgängen alles gerafft zu haben, nimmt es mit der Wahrheit wohl auch sonst nicht so supergenau. Qualitativ bewegt man sich auf "Victory Lap" in etwa auf "Failed States"-Niveau, hat mit "Letter To A Young Anus" und "Failed Imagineer" Hits bekannter Güte (und Machart) im Köcher und lässt wie üblich mit dem Rausschmeißer "Adventures In Zoochosis" alle Sicherungen durchkokeln, dieses Mal ganz besonders wegen eines persönlichen und emotionalen  Textes, der mir die Augen jedes Mal aufs Neue unter Wasser setzt. "Potemkin City Limits" und vor allem "Supporting Caste" bleiben derweil unerreicht, weil mir an der ein oder anderen Stelle die alles zerberstende Durchschlagskraft etwas fehlt (was vermutlich den in Teilen heruntergestimmten Gitarren geschuldet ist), dass "Victory Lap" im herausragenden Post-2000 Oevre dieser einzigartigen Band seinen Platz finden wird, steht freilich nicht zur Debatte.




Erschienen auf Epitaph Records, 2017.







Platz 10 - CIGARETTES AFTER SEX - CIGARETTES AFTER SEX


Größtes Aha-Erlebnis des Jahres mit extraweiter Augenbrauenlüftung, nachdem sich die Nadel des Plattenspielers zum ersten Mal absenkte und ich die ersten 30 Sekunden des Openers "K" hörte. Schwer zu glauben, dass hier tatsächlich ein Geschlechtsgenosse singt, ein bärtiger zumal - daher habe ich mir auch für volle zwei Wochen eine Chanteuse am Mikrofon imaginiert, die ihre Selbstbeschreibung auf Twitter lediglich auf den alten Hot Shots-Spruch "In meinen Händen wird nichts zu Wachs" beschränkt hat. Mit anderen und weniger bedachten Worten: Angesichts des wie ein heißes Messer durch gefrorene Butter gleitenden Gesangs bin ich auf dem besten Weg, meine Heterosexualität nochmal neu zu bewerten. Auf dem Debutalbum der New Yorker stehen zehn Slomo-Slowdance-Blues-Smoothie-Hymnen, die Cigarettes After Sex im Handumdrehen zur Band der Stunde machten und die melancholisch zu nennen eine glatte Untertreibung ist. Sentimental, romantisch, erotisch, kurz: "ein tiefes Rot" (Dirk von Lowtzow). Wer diese Platte hört, befindet sich für knappe 50 Minuten im Paradies und blinzelt verträumt in einen meinetwegen auch herbei halluzinierten Sonnenuntergang im Hochsommer ohne Klimaanlage auf einer durchgelegenen und versifften Matratze in einem heruntergerockten 11qm Rattenloch mitten in New York, im Arm die Liebe des Lebens, in der Hand die Post-Vögel-Kippe. Wir starren an: die Decke. 




Erschienen auf Partisan Records, 2017.




03.02.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 15 bis 13



Platz 15 - TORNADO WALLACE - LONELY PLANET


Knappe 40 Minuten pure Schönheit, Eleganz und Lushness: "Lonely Planet" ist ein mystisch-vernebelter Soundtrack für die Entdeckungsreise auf einer unbewohnten und halb versunkenen Insel im Indischen Ozean. Ich kam im vergangenen Jahr zu keiner anderen Platte so oft zurück wie zu dieser und hörte sie regelmäßig über volle zehn Monate immer und immer wieder. Musikalisch ist das mit so unterschiedlichen Fluchtpunkten aus Synthiepop der 1980er Jahre, bekifften Mittelmeersounds und Einflüssen aus frühen Arbeiten von Grace Jones (mit Sly & Robbie) und sogar den verdammten Dire Straits ein starkes Stück (höre: "Voices"), das sich außer auf der aus 10.000 Fuß wahrnehmbaren Hanfplantage nebst aller erwünschten Nebenwirkungen auf nichts so wirklich festnageln lässt. Alles was zählt ist der filmische Fluss dieser Kompositionen nebst ihren Bildern und ihren Farben. Könnte bald zu einem kleinen Klassiker im Elektro-Underground werden. Ist es am End' ja eh schon. 




Erschienen auf Running Back, 2017.






Platz 14 - DEATH MACHINE - COCOON


Der Bandname ist völlig debil und hätte mich Freund Jens nicht auf "Cocoon" aufmerksam gemacht, wäre ich alleine deshalb nicht mal im Traum darauf gekommen, meine schrumpeligen Finger nach dieser Platte auszustrecken. Und sie mussten sich schon ziemlich arg strecken, um in den Besitz der Vinylversion zu kommen; das Heimatland der Death Machine, Dänemark, sollte es schließlich richten. Death Machine haben mir in den zurückliegenden Herbst - und Wintermonaten gerade noch gefehlt, und das meine ich ausnahmsweise völlig unironisch. Ihre im weitesten Sinne dem zurückgezogenen Indiepop zugeneigten Songs sind bittersüß-verstrubbelte Himmelsstürmer zwischen resignierender Verzweiflung und kurzen Blitzen aus Kraft und Stärke, verbinden sich mit anämischem Folk und einem Road Movie Soundtrack vom Wochenendausflug auf der Venus. Ein auf vielen Ebenen außergewöhnliches Werk. 




Erschienen auf Gateway Music, 2017.





Platz 13 - THE WAR ON DRUGS - A DEEPER UNDERSTANDING


Ich komme etwa drei Jahre zur spät zur Party, aber das liegt an meiner in Teilen bestens ausgeprägten Soziopathie, denn wo viele Menschen dasselbe Lied singen, springen bei mir für gewöhnlich alle Alarmglocken an. Bei The War On Drugs sangen (und singen) verdammt viele Menschen dasselbe Lied und es brauchte einige Überzeugungsarbeit aus dem Schwäbischen, um mir die Vorurteile zu nehmen. Belohnt wurde die "Arbeit an mir selbst" (Jürgen Fliege) mit einem Album, das mir bis heute einige Rätsel aufgibt: warum sitzt da schon wieder Angelo Sasso am Schlagzeug? Und warum spielt Angelo Sasso keine Becken? Warum hackt Angelo Sasso denn wirklich jeden Uptempo-Song ohne jedes Feeling durch wie ein frisch aus dem Hungerstreik gepellter Mähdrescher? Warum wühlt diese aus einem Haufen Schulterpolster der US-amerikanischen 1980er Jahre zusammengenähte Rockmusik mit dem Bruce Springsteen-Gedächtnisstirnband im schlimm müffelnden Zahnzwischenraum von Bob Dylan herum? Ein Wahnsinn, dass der "jungen Generation" (Peter Altmeier) hier nicht der 3-Liter Kanister Mountain Dew durch die Nase hochkommt. Und warum hat "A Deeper Understanding" trotzdem eine derart überwältigende Anziehungskraft auf mich? Ich weiß es bis heute nicht. Nur eines: hier versammeln sich einige der zweifellos besten und gefühlvollsten Momente des Jahres 2017. 




Erschienen auf Atlantic, 2017.

27.01.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 18 bis 16



Platz 18 - ZARA McFARLANE - ARISE


Eine interessante Entwicklung hat die britische Sängerin Zara McFarlane mit ihrem neuen Album "Arise" vollzogen, war doch der Vorgänger ein introvertiertes Werk aus nokturnem Jazz, zaghaftem Pop und modernem Soul. Auf "Arise" liegt der Jazz mindestens in der Nachmittagssonne, der Pop bekam mehr Groove und der moderne Soul bekam mehr Reggae in die Dreads gezwirbelt - das Schillern und die Lebhaftigkeit dieser Aufnahmen sind im Vergleich mit dem flackernden Kerzenschein von "If You Knew Her" eine willkommene Abwechslung und wirken wie eine Frischzellenkur für die Sängerin. Großartig produziert (höre: der Bass in "In Between Worlds"), mit mehr Verve als zuletzt, ist "Arise" in der Ausstrahlung zwar immer noch intim, aber heller, luftiger und in der Folge sogar markanter als das ohnehin schon fantastische "If You Knew Her". Zwei unterschiedliche, aber künftige Klassiker. 




Erschienen auf Brownswood, 2017.





Platz 17 - ODDISEE - THE ICEBERG


Auf Oddisee ist Verlass, der Mann veröffentlicht ausschließlich Qualitätsware. "The Iceberg" ist im Vergleich zum Vorgänger "The Good Fight" nochmal kompakter und eingängiger: mit der Single "Things" wagt er sich sogar erstmals zaghaft in Dancefloorbereiche vor, während ihm mit "Want To Be" gar ein sonniger Monster-Popper mit deutlicher Soul und Funk-Schlagseite gelungen ist. In meinen Ohren gibt es in der internationalen Hip Hop Szene niemanden, der ihm das Wasser reichen kann - dabei agiert er immer noch meilenweit unter dem großen Mainstreamradar und zieht stoisch sein eigenes Ding durch. Immer größeren Stellenwert bekommt seine Liveband Good Compny, mit der er nicht nur jährlich über 100 Konzerte spielt und nun sogar ein - ernsthaft!: fantastisches Livealbum mit kompletter Band veröffentlichte, sondern deren Talent und vielfältige Instrumentierung ihm ganz offensichtlich den eigenen Produktions- und Songwritinghorizont erweitert. 




Erschienen auf Mello Music Group, 2017.






Platz 16 - THE LIFE AND TIMES - THE LIFE AND TIMES


Normalerweise ist ein neues Album meiner liebsten noch aktiven Rockband ein Garant für die Top 3, dieses Mal reicht es immerhin noch für die 20 besten Alben des Jahres. der Grund (für beides): Das Trio hat etwas die Poliermaschine bemüht und die Arrangements gestrafft. Das Ergebnis sind kürzere, aufgeräumtere Songs mit weniger Wall-Of-Sound-Dramatik, dafür ein in der Ausstrahlung etwas breitbeiniger rockender Gesamteindruck. The Life And Times sind immer noch großartig, immer noch völlig einzigartig, immer noch Meilen von der gleichgemachten Soße zeitgenössischer Rockmusik entfernt - die komplette A-Seite der (im Vergleich mit der digitalen Fassung verspätet erschienenen) LP-Version ist ein einziges Erlebnis. Der Moment, der mir auf einer ansonsten fehlerlosen Platte Kopfzerbrechen bereitet, ist die offensichtliche Hommage an die ärgerlichste Rockband der letzten 20 Jahre Queens Of The Stone Age in "Out Through The Door", bei dessen Melodieführung mir glatt der vegane Rollbraten wieder hochkommt. Was soll sowas?




Erschienen auf SlimStyle Records, 2017.


21.01.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 21 bis 19



Platz 21 - MINUS THE BEAR - VOIDS

Wenn der Hypothalamus nicht gerade mit Konfetti schmeißt, wenn man ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung über "Voids" nachdenkt, liegt der Verdacht nahe, mit dem sechsten Studioalbum der Band aus Seattle stimme eventuell etwas Ärgeres nicht. Andererseits verrät mir die Statistikabteilung bei Last.fm (das MySpace des Web 2.0), dass ich im abgelaufenen Jahr, zumindest digital, kein anderes Album so oft gehört habe wie eben "Voids". Eine eilig einberufene Krisensitzung mit der Herzallerliebsten liefert dann auch gleich Entwarnung: alles bestens - Minus The Bear haben immer noch genügend kreative Einfälle für samtweiche Hooks, knackige Beats und große Songs. Dass sie immer deutlicher in Richtung Popmusik wandern, ist spätestens seit "Omni" kein Geheimnis mehr, aber mir soll's recht sein, wenn dabei solche lockeren Buttermilchsemmeln wie "Invisible" oder dramatische Schlawittchenpacker wie "Silver" herauskommen. Mein Bauchgefühl sagt mir aber trotzdem, dass es künftig nicht mehr allzu viele Minus The Bear Alben mehr geben wird. 




Erschienen auf Suicide Squeeze Records, 2017.





Platz 20 - WARMTH - HOME


Drei Monate nach Veröffentlichung des neuen Albums von Warmth hat Archives Labelchef Agus, der auch der Kopf hinter Warmth ist, via eines Facebook-Postings eine eher ernüchternde Bilanz gezogen: zwar seien die Verkäufe stabil und sicherlich besser als bei vielen anderen kleinen Labels, von den 200 Vinylexemplaren von "Home" konnte er indes in drei Monaten nur einen kleinen Bruchteil verkaufen - in erster Linie deshalb, weil sich kein Vertrieb für seine physischen Produkte finden lässt. Und dass, obwohl Archives sich über die letzten beiden Jahre einen exzellenten Ruf erarbeitet hat und Ambient als Genre heute relevanter erscheint als noch vor fünf oder zehn Jahren. "Home" ist im Grunde eine Fortführung von "Essay" aus dem Jahr 2016: sehr organische Sounds mit einem völlig einzigartigen Wechselspiel zwischen sonorer, einlullender Wärme und einem Gefühl der Distanziertheit, der Klarheit und - ich traue mich beinahe nicht, es auszusprechen: Kälte. Die Vinylversion ist in der Ausstattung zwar low-budget und kein Vergleich mit den Kunstwerken von beispielsweise A Strangely Isolated Place, dafür aber immerhin relativ fehlerfrei gepresst. 




Erschienen auf Archives Music, 2017.






Platz 19 - PORTICO QUARTET - ART IN THE AGE OF AUTOMATION


Es gibt Menschen, die angesichts des Wohlfühlsounds von "Art In The Age Of Automation" den offenbar experimentelleren, früheren Zeiten dieser englischen Band hinterhertrauern. Ich nicht. Tatsächlich sind sie nach Peter Gabriels Real Word Label und der darauffolgenden Stippvisite bei Ninja Tune mit ihrem jazzigen Postrock-Freestyle auf Matthew Halsalls Gondwana Records mittlerweile sehr gut aufgehoben: die behutsamen Weiterentwicklungen ihrer Songs eröffnen Schicht für Schicht neue Perspektiven und erinnern bisweilen an frührere Cinematic Orchestra; die fließenden Grooves verdichten selbst die für melancholische Weite sorgenden Melodien zu einem Dickicht aus funkelnden Sternenstaub. Experimentell ist all das in seiner Suche nach freien Tanzbewegungen inmitten eines Ambientrauschkonzentrats und den verwendeten Zutaten freilich immer noch, aber der Holzhammer bleibt in der Freaky-Werkstatt. Subtlety is king.




Erschienen auf Gondwana Records, 2017.


14.01.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 24 bis 22



Platz 24 - ILLUVIA - ILLUVIA


Ganze elf Veröffentlichungen stehen für das Jahr 2017 alleine auf Ludvig Cimbrelius' (aka Purl) eigenem Label Eternell im Büchlein; ihm und seinen Arbeiten zu folgen ist ähnlich wie bei Brock van Wey aka Bvdub eine Herausforderung, bisweilen eine kostspielige noch dazu. Hinzu kommen schließlich noch Releases für Labels wie Archives und A Strangely Isolated Place. Die Musik für das Illuvia-Projekt war für den fortlaufend produzierenden Schweden der Weg aus einer Depression, wie Licht, das durch die Ritzen von dunklen Mauern bricht - eine zu gleichen Teilen kraftvolle wie sensible Mischung aus delikaten Ambientsounds, perlendem Piano und vereinzelten Drum'n'Bass Beats, mit einer Extraportion Wärme spendenden Lichts der Mitternachtssonne und dem sich niemals verdunkelnden Himmel des schwedischen Sommers. Hoffentlich geht Ludvigs Wunsch, "Illuvia" auf Vinyl zu veröffentlichen, noch in Erfüllung.  Die digitale Version gibt es hier auf Bandcamp.





Erschienen auf Eternell, 2017.






Platz 23 - MR JUKES - GOD FIRST


Von Pitchfork erwartbar böse runtergesaut, von Fans geliebt: das Debut des Bombay Bicycle Club Frontmanns unter dem neuen Alias Mr Jukes ist ein nimmermüder Husarenritt durch Hip Hop, Soul, RnB, Jazz und die angeschlossenen Funkhäuser, der natürlich mit seinen vielen Kollaborationen (u.a. De La Soul, Charles Bradley, Lalah Hathaway) auf dickes Namedropping schielt, aber für den Hörer hat's ja indes nur Vorteile: die zehn Songs sind kurzweilige und stets abwechslungsreiche kleine Diamanten, die vor allem auf der B-Seite an der Grenze zur Sperrigkeit balancieren und somit für eine wirklich angenehme Langzeitwirkung sorgen. Besonders herausragend ist der emotionale Funkensprüher "When Your Light Goes Out" mit Lianne La Havas am Mikrofon. Man wünscht sich Knicklichter for Life.





Erschienen auf Island Records, 2017.






Platz 22 - MELANIE DE BIASIO - LILIES


Ich hatte an "Lilies" ein bisschen zu knabbern, denn die belgische Sängerin überrascht mit leicht verändertem Sound und einer Art von Helligkeit, die ihren vorangegangenen Platten komplett abging. De Biasios Statement, dass "Lilies" zwar eine Dunkelheit innewohnt, es für sie aber auch, Zitat: "luminous" sei, ist nachvollziehbar. Im Vergleich mit "No Deal" ist die tiefste Nacht mittlerweile vorüber. Vielleicht liegt es an der auf "Lilies" geringer gewordenen Distanz zwischen De Biasio und ihrer Außenwelt, weil die Frau, die bislang mit ihrer sowohl erotischen als auch introvertierten Musik als unnahbarer Sehnsuchtsort diente, sich nun verletzlicher und natürlicher gibt. In diesem Zusammenhang sind Songs wie das aus der 2016er EP "Blackened Cities" entlehnte und mit neuer, atemloser Inszenierung ausgestattete "Gold Junkies" sowie minimalistische Skizzen wie "Let Me Love You", oder "Brothers" - vom Fingerschnippi-Solocrooner "Sitting In The Stairwell" ganz zu schweigen - zunächst irritierend. Die Reduktion der Arrangements scheint zunächst von der glühenden Intensität und der Dramatik ihrer Musik etwas einbehalten zu haben. Das Bild ändert sich jedoch, wenn der Zoom die nur angenehm kurzen 40 Minuten von "Lilies" im Panorama präsentiert: zwischen der bekannten Jazzästhetik, die hier noch dürrer ausfällt, zarter Elektronik und Trip Hoppigem Bassgepumpe ist "Lilies" noch genau so intim wie "No Deal", de Biasio scheint sich lediglich etwas entmystifiziert zu haben.





Erschienen auf Play It Again Sam, 2017.


09.01.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 27 bis 25



PLATZ 27 ° DESOLATE - LUNAR GLYPHS


Das dritte Album des Produzenten Sven Weisemann unter dem Desolate-Moniker könnte das "Dark Side Of The Moon" der Millenials werden, wenn die sich noch ein bisschen um Musik und weniger um "urbane Styles" (Mutter Beimer) und also Kopfbedeckungen kümmern würden: "Lunar Glyphs" ist experimentell, aber nicht abgehoben. Progressiv, aber nicht verkopft. Atmosphärisch, aber nicht cheesy. An den richtigen Stellen eingängig und mitreißend, ohne banal zu werden. Außerdem: Deep wie Fick. Elektronische Musik hatte es abseits der meiner bekannten Obsession für (dubby) Ambientsounds 2017 schwer im Hause Dreikommaviernull, weil mir oft genau jener Ansatz fehlte, den Sven auf "Lunar Glyphs" über einen Zeitraum von fünf Jahren erarbeitet hat: die vernebelte und regennasse Großstadtstraße nebst vergilbter Straßenlaternenbeleuchtung auf meine Wohnzimmercouch zu beamen.




Erschienen auf Fauxpas Records, 2017.





PLATZ 26 ° EARTHEN SEA - AN ACT OF LOVE


Das erste von zwei fast zeitgleich veröffentlichten Earthen Sea Alben des New Yorkers Jacob Long steht auch stellvertretend für sein Pendant "A Serious Thing", hat aber für meinen Geschmack vor allem im Nahkampf die schmissigeren Kicks am Stizzle: "An Act Of Love" bekam ein, zwei Ecken mehr Konturen angetackert, nicht zuletzt durch Tracks wie die schön durch die Wolkendecke pumpenden "About That Time" und "The Flats 1975" bestimmt, und dadurch auch eine titelgerecht weniger deprimierende Aura als das, ebenfalls titelgerechte, ernster erscheinende "A Serious Thing". Dass ich ein Fan von Jacobs Arbeiten bin, steht hier schon seit ein paar Jahren geschrieben - seine Klangreisen durch den Dubtechno und Ambientkosmos sind immer bewegend und inspirierend. Lief vor allem über den Sommer in Dauerrotation. 




Erschienen auf Kranky, 2017.





PLATZ 25 ° HALFTRIBE - DAYDREAMS IN LOW FIDELITY


Irgendwie uncool, den im vergangenen Jahr mit dem Album "Luxia" noch auf Rang 9 ins Ziel geschwebten Ryan Bissett dieses Jahr auf Platz 25 zu schieben, und so richtig d'accord bin ich mit der Entscheidung immer noch nicht. "Daydreams In Low Fidelity" war ein Dauergast in meinem CD-Player, tatsächlich hat er seinen Platz seit Februar nicht mehr verlassen - und was ich im letzten März über "Luxia" schrieb, wird hier noch stärker herausgearbeitet: Bissetts Musik ist bei aller Weichheit überraschend crisp, fast intellektuell heruntergekühlt und ein bisschen rough around the edges. Das gibt mehr Raum für Experimentelles und witzige Ideen, gleichzeitig verlässt er die Ambient-Kuscheldecke und sucht die Herausforderung für anspruchsvolleres Storytelling, ohne dabei den Fluss der Kompositionen zu gefährden. Wer seine Stimmung gerne von äußeren Einflüssen manipulieren lässt, freut sich über die Endlosschelife von "Daydreams In Low Fidelity" besonders an regnerischen Frühlingstagen, wenn das Draußenleben aufs Neue wachgeküsst wird. 




Erschienen auf Archives, 2017.


05.01.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 30 bis 28



PLATZ 30 ° ANOUAR BRAHEM - BLUE MAQAMS


Ob der Titel des elften Albums des Oud-Visionärs Brahem sich auf den Modus eines Musikstücks in der arabischen und türkischen Musik oder auf die islamische Mystik bezieht, nach der Maqams „Wegstationen“ sind, die ein Gottessuchender auf seinem langen und mühevollen Weg auf der Suche nach Gott zurücklegen muss, bleibt vermutlich nicht ohne Grund unbeantwortet - und es ist bisweilen lohnenswert, "Blue Maqams" unter der Prämisse dieser zwei Interpretationsoptionen zu erkunden. Vor allem dann, wenn man wie ich weder vom einen noch vom anderen auch nur den blassesten Dunst hat. Liest sich gut, ist aber total sinnlos. Musikjournalismus im Jahr 2017, deal with it. "Blue Maqams" ist kein einfaches, weil sehr subtiles und überwiegend leises Album; offenbaren sich die seitens der vier Granden De Johnette, Holland, Bates und Brahem gesponnenen Ebenen doch in erster Linie beim tiefen Eintauchen via Kopfhörer und beim genauen Studium ihrer sowohl tonalen als auch rhytmischen Bewegungen. Es ist eine echte Freude, diesen vier Ausnahmemusikern dabei zuhören zu dürfen. 







PLATZ 29 ° THIEVERY CORPORATION - THE TEMPLE OF I & I


Nach dem auf ewig grandiosen Melancholiemonster und Überraschungscoup "Saudade" aus dem Jahr 2014 ist "The Temple Of I & I" eine Rückkehr zum bekannten Thievery Corporation Sound, dieses Mal jedoch ein Spürchen reggaebetonter als gewohnt. Qualitativ bewegen wir uns glücklicherweise wieder oberhalb des "Culture Of Fear"-Niveaus und einer trotz wie üblich   großen Schar von Gastsängern/-sängerinnen insgesamt gestiegenen Treue zum roten Faden, der das Album zusammenhält. Es verlangt Anerkennung, dass sie ihren Sound auch 20 Jahre nach den großen Erfolgen eines mittlerweile ziemlich vor sich hin müffelnden, fast möcht' man sagen: gar nicht mehr existierenden Genres immer noch frisch halten können, selbst wenn der Überraschungseffekt mittlerweile (und im Vergleich zum Vorgänger) auf "The Temple Of I & I wieder ausbleibt - und dass sich trotzdessen immer wieder die große Euphoriekammer im Herzen öffnet, wenn ein neues Thievery-Album ansteht. Herausragend: die lasziv-zornige Racquel Jones in "Letter To The Editor" und die beiden Sentimentalsmoothies "Time + Space" und "Love Has No Heart". 








PLATZ 28 ° BEACH FOSSILS - SOMERSAULT


Gebt mir noch ein halbes Jahr und "Somersault" steht felsenfest in der Top Ten. Dabei war's ein Beinahe-Blindkauf, weil mich der auf den ersten 20 Sekunden des Openers ausgemachte Gegensatz zwischen dem Verve einer Packeisscholle kurz vor Oldenburg einerseits und dem warmen und watteweichen Sixties- und Seventies-Sound so provokativ und sexy ansprang. Ich fand folgerichtig erst nach ein paar Durchgängen den Zugang zum dritten Album der New Yorker, dann war ich allerdings tatsächlich kurz davor, mir selbst im November-Nieselregen den Mankini anzuschnallen und vor Freude in einen Stadtbus zu urinieren: "Somersault" klingt, als hätten Paul McCartney, Robert Smith, Sam Prekop und Johnny Marr am Strand von Kalifornien gehascht und alle hätten sie vor Ergriffenheit wegen des gemeinsam bestaunten Sonnenuntergangs das Heulen angefangen. Wunderbärchen.





31.12.2017

The Year I Tried To Live - 2017 im Rückspiegel




Schwupps - schon ist's wieder vorbei. Das verstörendste Merkmal des Älterwerdens ist, nahezu jegliches Zeitgefühl zu verlieren, dass also das Hirn seine eigene eh schon diffuse Suppe aus Erlebnissen und Momenten in einen großen Topf wirft und die ganze Brühe mit einer Flugzeugturbine mal schön durchrührt, bis am Ende ein sämiger Kladderadatsch vor einem liegt, der bis in die kleinsten und verzweifelt freigehaltenen Fugen des Lebens eindringt und sie ausfüllt, bis auch wirklich jede noch so kleine Erhebung ge- und verschluckt ist. Das beste Gegenmittel gegen den Schwund an Aufmerksamkeit und das Getöse um einen herum, ist das aktive Erleben, um Momente zu kreieren, die bleiben. Und selbst das erscheint mir bisweilen eine große Anstrengung zu sein, weil das ständig in Rekordgeschwindigkeit wachsende und das eigene Sein umringende Gekröse am besten mit einer Kettensäge im Zaun gehalten werden muss: im Hier und Jetzt sein. Den Moment genießen, ihn feiern.

Die Herzallerliebste und ich haben zur Jahresmitte, vermutlich an dem Punkt, an dem wir unisono ein "Fuck, schon wieder Juni - eben war doch noch Silvester?!" ausplärrten, sehr aktiv beschlossen, diese Momente zu erschaffen. Als vorläufiges Ergebnis besuchten wir im abgelaufenen Jahr so viele Konzerte wie vermutlich seit Jahren nicht mehr - und es waren großartige Erlebnisse dabei: wir sahen zum allerersten Mal die Afghan Whigs live auf der Bühne, der kleine Metal-Florian feierte die Konzertreise seiner alten Helden von Psychotic Waltz knieend in der ersten Reihe, der kleine Punk-Florian warf nach 25 Jahren den alten Herren von Bad Religion ein kurzes "Hallo!" zu, Propagandhis einzige Show in Deutschland wurde sogar mal wieder im Mosh-Pit verbracht, bis meine Hawaii-Stofflatschen in der getrockneten und dann ziemlich klebrigen Biersiffe vor der Bühne einfach am Boden festklebten und ich also in Socken wie eine Flipperkugel vom tanzenden Volk willenlos durch die Gegend geschoben wurde, die kalifornische Soulsensation Monophonics spielte erneut vor einer traurig geringen Anzahl von Menschen einen berauschenden Gig (in einer besseren Welt verkaufen sie achtzehn Mal hintereinander ein Fußballstadion aus), die künstlerisch wie kommerziell wiederbelebten Prog-Opas von Marillion rissen im Vorbeigehen in einer ausverkauften Batschkapp das beste, strahlendste, intensivste Konzert der letzten 10 Jahre ab und rührten uns mit dem überraschend auf die Setlist genagelten "Neverland" gar zu Tränen, die bekifften Slomo-Doomer von Windhand bratzen und fuzzten mich zurück in die Neunziger, der olle Nick Cave legte eine ergreifende Welt-Performance aufs Parkett der altehrwürdigen Jahrhunderthalle, wir sahen zum ersten Mal die bunten Groovemonster der Thievery Corporation live und Fates Warning waren so großartig, dass selbst ich ein Kind von Ray Alder bekommen möchte. Meinethalben kann das im Jahr 2018 gerne so weitergehen.




Außerdem beschlossen wir, Grönemeyers Credo aus den 80er Jahren wiederzubeleben und mögen Musik also nur, wenn sie laut ist : in einer Disko. Da standen wir also mit unserem Plan, die Frankfurter Clubszene zum ersten Mal seit 18 Jahren zu erkunden und erlebten eigentlich bei jedem Besuch Denkwürdiges, abgesehen davon, dass wir uns mit 40, respektive 45 Jahren in einer Horde zwanzigjähriger Studenten nicht immer so richtig wohl fühlten: der "Hip Hop Classics" Abend im Zoom bot alles, aber keine Hip Hop Classics - es sei denn, Hip Hop hat sich in den letzten 20 Jahren zu einer Kirmesmusik mit Ruckelbeats und schlecht programmierten Autotunes entwickelt. Dazu krakeelte ein offensichtlich unter einer Überdosis Butterkeks stehende  DJ-Eumel legendäre Einzeiler wie "I WANNA SEE YOUR HANDS FRANKFURT!" in die Songs hinein, als wären wir gerade am Kettenkarusell vom Oktoberfest und spielte außerdem die Songs nicht mehr vollständig aus - zugegeben: in dem ein oder anderen Fall waren wir deswegen nicht undankbar, aber srsly: what the fuck? Die Kiddos erschreckte all das zwischen zu knappen Oberteilen, zu engen Feinripps, Hüten und Handy-Scheißdreckgetippe auf der Tanzfläche natürlich zu keiner Sekunde. Strange times, man. Strange times. Persönliches Lowlight war hingegen der Besuch in der Frankfurter Batschkapp zur 80er, 90er und 00er Party: auch hier gab es einen Kirmes-Einheizer, der nicht nur ebenfalls die gespielten Songs mit allerhand überflüssigem Aufputschdünnpfiff kaputtbrüllte, sondern dann auch noch mit Sätzen wie "FRAAANKFUUUURT, WIR HABEN KNICKLICHTER FÜR EUCH!" und "FRAAAAANKFUUUURT, WIR HABEN LUFTGITARREN FÜR EUCH, HABT IHR SPASS?" zumindest bei uns feierlich in den Fremdschämtempel der Doofheit einzog - während der Rest der überwiegend blutjungen Bande zwischen zwei getippten Snapchats und einem Schluck Marshmallowbier den Irrsinn mit einem gequiekten "Whooaaaah, coooool" goutierte und um 3 Uhr nachts unironisch Wolle Petrys Minderbemittelten-Gassenhauer "HölleHölleHölle" abfeierte. Spätestens hier war klar: es ist Zeit zu gehen.

Aber auch positive Erlebnisse sollen nicht verschwiegen werden: die Ü-30 Party im Orange Peel im Frankfurt Bahnhofsviertel hatte einen charmant ausgelassenen und unprofessionellen Charakter: war der Durchgang zum Clubraum bei unserer Ankunft gegen 0 Uhr wie leergefegt und in seiner Kargheit besorgniserregend verstörend - "Ohgott, hier ist kein Arsch!" - flogen uns nach Öffnen der schweren und soundschluckenden Stahltür tanzende Gliedmaßen aus dem überraschend kleinen Raum entgegen. Dass ich mich von der "Eyeyey, guuuuden Lauuuuneeee" (Sven Väth) anstecken ließ und zwei Stunden später in einem Anfall mentaler Komplettverstrahlung und unter dem Einfluss von lediglich zwei Cola-Light gar zu Bohlens musikalischer Vertonung eines offenen Penisbruchs "You're My Heart, You're My Soul" tanzte, spricht Bände. Ihr seht uns wieder, Orange Peel.

Darüber hinaus mag meinen verbliebenen Lesern (es dürften nicht zuletzt wegen der in diesem Jahr einsetzenden Schreibblockade mittlerweile deutlich weniger als die üblichen dreikommavier sein) aufgefallen sein, dass a) der letztjährige Jahrescountdown der besten Alben des Jahres 2016 sich bis in den fucking Mai (!) zog, b) in diesem Jahr in Sachen Anzahl der Blogposts der absolute Tiefpunkt aller Zeiten erreicht wurde und c) der offensichtlichste Bruch ab Mitte Mai zu erkennen war und damit in Zusammenhang stehend, ich d) auch nunmehr 7 Monate nach dem Freitod von Chris Cornell am 18.Mai 2017 noch immer nicht in der Lage war, darüber zu schreiben. Wer diesem Blog nicht erst seit gestern folgt weiß, welchen Stellenwert Cornell für mich und Alina hat und hatte - er war nicht nur eine Gallionsfigur unserer damaligen musikalischen Grunge-Heimat in unserer Jugend und Adoleszenz, er lieferte auch unseren Soundtrack in der konfusen, beängstigenden und unsicheren Zeit, als wir uns gerade aufmachten, die Entscheidung für ein gemeinsames Leben zu treffen. Ich mag mich heute kaum mehr an diese Zeit erinnern, weil sie immer noch so intensiv und schmerzhaft erscheint - selbst wenn das Ergebnis, eine sich in diesem Jahr zum 15. Mal jährende und restlos wunderbare Ehe, ja durchaus ein Grund zum täglichen, gar minütlichen Feiern wäre. Die zweite Jahreshälfte von 1999 war hingegen die Hölle auf Erden und Cornell sang uns die Songs seines ersten Soloalbums in unsere Wohnungen in Nürnberg und Frankfurt und verband alleine damit unsere Leben und unsere Seelen. Die Nachricht von seinem Tod traf uns beide wie ein Schlag, und ich kann, will und darf hier nur von mir sprechen, aber ich kann nicht behaupten, dass ich ihn verarbeitet habe. Für ein halbes Jahr konnte ich keine einzige Platte hören, an der er beteiligt war. Erst vor kurzer Zeit traute ich mich zaghaft an das letzte Soundgarden-Album "King Animal" heran, das ich übrigens aufgrund meiner Reunionallergie bei Erscheinen bewusst ignorierte und erst wenige Tage vor seinem Tod dann doch aus dem Second Hand Shop entführte. Die Erinnerung an das gemeinsam besuchte Konzert im April 2016 in Hamburg und an einen scheinbar komplett aufgeräumten, humorvollen, unendlich talentierten, in sich ruhenden Cornell, der Gedanke, dass er, den ich an diesem Abend zum ersten Mal überhaupt live sah und der plötzlich so mir nichts, Dir nichts wenige Meter von mir entfernt stand und der mir alleine mit seiner Anwesenheit mein ganzes Leben aus den neunziger Jahren, meiner Kindheit, meiner Jugend, im Zeitraffer in Richtung Memory Lane schickte, durch solche Qualen gegangen sein muss, dass er sich in einem fucking einsamen Hotelzimmer das Leben nahm, zerreißt mich bis heute. Ich war bislang völlig unfähig darüber zu schreiben und auch hier mag es mir nur schwerlich gelingen. Aber wenn es einen Grund dafür gibt, warum auf diesem Blog seit Mitte Mai noch weniger zu lesen war als zuvor, dann ist es folgerichtig dieses Ereignis. Ich plumpste einfach in ein Loch. Und wo ich für den Alltag, sprich: die Lohnarbeit noch funktionierte, ging bei den Hobbys das Licht aus.


Ich bin nicht glücklich darüber. Ich hatte tatsächlich einige ganz neckische Ideen für den Blog, und war leider nicht in der Lage, sie umzusetzen. Ich arbeite weiter daran - eigentlich fangen wir jetzt schon mit einer an, auch wenn sie nicht wirklich neu ist: der neue Jahrescountdown ist da. Nach Durchsicht aller in Frage kommender Alben für die Top 20 war klar, dass ich erstmals die Tradition durchbrechen und also auf eine Top 30 aufstocken muss. Es wird bald hier zu lesen sein, dass einige große Namen im Hause Dreikommaviernull es dieses Mal nicht in die 20er Bestenliste geschafft hätten - und nicht etwa deshalb, weil ihre Alben so mittelmäßig gewesen wären. Ich habe schließlich nie damit ein Problem damit gehabt, enttäuschenden Kram auszusortieren, selbst wenn ich dank meiner Metal-Vergangenheit schon mit einer übergroßen Portion Loyalität ausgestattet bin und alten Helden einen Ausrutscher gönnerhaft verzeihen mag. Nein, das Gedränge war im Jahr 2017 so groß, dass es mir wirklich unfair erschien, mich nur auf 20 Alben zu beschränken. So gibt es also demnächst ganze 30 Scheiben zu besprechen, und weil der ein oder andere möglicherwiese nun das große Stöhnen beginnen mag, dass ich, bliebe ich bei meiner aktuellen Veröffentlichungsfrequenz, damit ja erst im September 2019 fertig sein würde, darf ich feierlich notieren: es wird alles ganz anders. Stay tuned.



Ich möchte mich zum Abschluss des Jahres sehr ernsthaft, aufrichtig und äußerst ranschmeißerisch bei Euch fürs Lesen bedanken. Ich weiß es zu schätzen.




05.12.2017

Bruce Dickinson - Tyranny Of Souls





Soll bloß niemand sagen, ich hätte es nicht versucht. 

"Tyranny Of Souls" war eine der größten musikalischen Enttäuschungen der nuller Jahre und stand ganz bestimmt nicht auf meiner Einkaufsliste, nachdem die Veröffentlichung des Dickinson'schen Backkatalogs angekündigt wurde. Andererseits: wenn ich schon das Portemonnaie für die gesammelten Werke seines Schaffens öffne, warum sollte ich nicht einen weiteren Versuch starten, mich dem bislang letzten Solowerk nochmal zu nähern? Schließlich bin ich heute ein anderer Mensch als noch 2005. Vielleicht ist die Zeit zwölf Jahre später gekommen, um seine vermeintliche Größe zu entdecken. Wäre immerhin nicht das erste Mal, dass eine Hörpause wahre Wunder bewirken kann. 

Um es abzukürzen: die Zeit war nicht gekommen.

Ich musste mich förmlich durch dieses Album kämpfen. Der Gang zum Plattenspieler, um die Scheibe auf die B-Seite umzudrehen, fühlte sich an, als hätte mir jemand Beton in meine schnieken Tommy Hilfiger Socken gefüllt und die Erdanziehung hätte sich flugs verzehnfacht. Das fällt nach einer blanken Frechheit wie "Navigate The Seas Of Cheese Of The Sun", die die A-Seite beschließt, gleich besonders schwer. Man sieht's mir bitt'schön nach, aber das sind einfach keine guten Songs. Schwerfällig, ideenlos, billig, unausgereift - das Team Roy Z und Bruce Dickinson, das für die Aufnahmen auf das bewährte Backing Band aus den "Accident Of Birth"-Liveshows und den "The Chemical Wedding" Sessions verzichtete, versagt mit Billo-Metal Riffs von der Stange ("Abduction", "Soul Intruders"), grausamen Refrains ("Kill Devil Hill", "Devil On A Hog"), Fliegengewicht-Trällereien ("Power Of The Sun"), einer flapsigen, sterilen und erschreckend phantasielosen Produktion nebst unausgereiften Gesangslinien auf fast ganzer Linie. Einzig "Believil" mit seinem an den Titeltrack von Maidens "Seventh Son Of A Seventh Son" erinnernden Mittelteil und das gute, aber mit einer Gitarrenwand aus feinstem Butterbrotpapier gezimmerte, jedoch wenigstens mit einer halbwegs brauchbaren Hookline ausgestattete "Tyranny Of Souls" lassen einen Hauch Atmosphäre aufkommen und erinnern entfernt an alte "The Chemical Wedding" Herrligkeit, wenngleich ersterer mit seinem Bontempi-Kinderorgelsounds selbst einem Geschmackselfmeter wie Steve Harris die Schamesröte ins Gesicht treiben würde.

"Tyranny Of Souls" ist ein leicht zu dechiffrierender, weil völlig oberflächlicher Schnellschuss, bei dem sich die beiden Protagonisten nicht mal die Mühe gemacht, potemkinsche Dörfer aufzubauen: keine richtige Band, keine gemeinsamen Aufnahmesessions, Drummer Dave Moreno (aka Angelo Sasso) "spielte" die Platte auf Basis von Roys Demoaufnahmen "ein", Roy wiederum jubilierte, dass er einfach seine Gitarrenaufnahmen von den verfluchten Demos übernehmen konnte und nichts mehr neu einspielen musste, Dickinson sang seine Takes innerhalb von drei Tagen und damit in Rekordzeit ein, bevor Pro-Tools den Rest besorgte - ich weiß auch im Jahr 2017 immer noch nicht, was das alles soll. 

Alles Käse. 

Zur Abschreckung:




Erschienen auf Sanctuary, 2005.


27.11.2017

Bruce Dickinson - The Chemical Wedding





Es ist schwer, für einen Meilenstein des Heavy Metal noch mehr Worte zu finden, als jene, die ich vor nunmehr sechs Jahren an anderer Stelle in diesem Blog bereits ins vielköpfig-virtuelle Nichts trompetete. Zumal das alles, vom traditionell etwas kruden Stil abgesehen, dann doch immerhin inhaltlich noch alles völlig richtig ist - inklusive meines hohen Euphorieniveaus. Andererseits ist es nach einem Jahrhundertreview wie jenes von Matthias Breusch so oder so vergebene Liebesmüh', noch was draufsetzen zu wollen:

"Einen wunderschönen guten Tag, liebe Testpersonen. Bitte begeben Sie sich ohne weitere Umstände direkt zum nächsten Plattenladen, schnappen Sie sich den Fuzzi hinterm Tresen (wen interessiert's, daß er gerade irgendeiner Truse die verstaubte Best-of von Kraxlsepp Hinterthaler eintüten will - piepschnurz!) und zwingen Sie ihn, SOFORT Song Nummer zehn (in Ziffern: 10!) vom neuen Dickinson-Album in ALLERHÖCHSTER Lautstärke über seine Berieselungsboxen zu jagen, bis die Schnäppchen-Angebote im Schnulli-Regal den Molotöw tanzen. 'The Alchemist' ist eine unübertroffene Mixtur aus alter Maiden-Herrlichkeit und Frischdienst-Vibes: Elefantöse Schiffssirenen-Trompeten, erdig schleifendes Riffing, eine am offenen Feuer geschmiedete Edelstahl-Hymne und ein Gitarrensolo, das sich vor Ritchie Blackmores Jahrhundertwerk 'Stargazer' verbeugt. Na? Geht das nicht amtlich auf die ZWÖLF? Jaha!(...)" (Matthias Breusch, Rock Hard Nr.137 - Link zum Review )

Nun ist "The Chemical Wedding" dieser Tage im Rahmen Dickinsons großer Solorevue "Soloworks"  tatsächlich erstmals auf Vinyl erschienen und ein hastig durchgeführter Soundvergleich mit der seit 19 Jahren im Regal stehenden CD ließen sowohl Herrn als auch Frau Dreikommaviernull mit heruntergelassenem Schlüpper ratlos und mit großen Augen auf die Lautsprecher starren: was zuvor schon bei vielen ähnlichen Vergleichen zwischen den ehemals hippen Silberdingern und dem schwarzen Gold auffiel, von Maiden über Nirvana und Monster Magnet bis zum bislang größten Abschuss mit einer alten Aufnahme von Alice Coltrane, nämlich eine, pardon: bodenlos scheiße klingende CD nämlich, verstärkte sich im direkten Vergleich mit der vermutlich mit sattem Vinylmastering ausgetatteten Vinylversion des 1998er Streichs dieser Megaband noch - und nachdem ich mich von meinem hysterischem Gequieke angesichts des klanglichen Unterschieds wieder ein wenig beruhigt hatte, durfte ziemlich ungeniert die Frage gestellt werden, wie es sich 19 Jahre mit diesem dumpfen, platten, verklebten, hyperkomprimierten und verwaschenen Scheißdreck (die Gitarren! DIE GITARREN!) aushalten ließ. Wer sich also trotz des schon vor fast 20 Jahren zusammengezimmerten Altars nochmal neu in dieses makellose, zu beiden Teilen klassische und moderne Heavy Metal Album verlieben mag, sollte hier unbedingt zuschlagen.

"The Chemical Wedding" gehört für mich zu den besten Metalalben der 1990er Jahre, vielleicht sogar darüber hinaus: in seiner beinahe intellektuellen Dunkelheit und Ernsthaftigkeit, in seiner Musikalität, seiner Deepness, dem elastischen und charakterstarken, weil eigenständigen und einzigartigen Sound, einer fast unwirklichen Ansammlung von echten, tief bewegenden Hymnen zwischen Melodie, Härte und großen Gefühlen von einer furios aufspielenden Band, die wahrlich die Funken fliegen lässt, und als Krönung einem sich die Seele aus dem Leib singenden Bruce Dickinson, bleibt "The Chemical Wedding" unerreicht. 




Erschienen auf Sanctuary Records, 1998.

20.11.2017

Bruce Dickinson - Accident Of Birth





"Accident Of Birth" läutet praktisch die Rückkehr Dickinsons zu Iron Maiden ein. Nach dem überschaubaren Erfolg von "Skunkworks" - logisch: die jungen Rockfans sahen in einer Zeit, in der Metal, der klassische zumal, ein Schimpfwort war, in Bruce einen alten, uncoolen Rock-Opa, der mal bei einer Band spielte, die lustige Monster auf der Bühne herumhampeln ließ, die alten Rockfans nahmen ihm den medial hochgejazzten Stilwechsel übel und bezichtigten ihn der Trendreiterei - tat er sich zuerst mit Roy Z, seinem Freund aus "Balls To Picasso"-Zeiten, und anschließend, nach der Sondierung von Roys Songideen, mit ex-Maiden Gitarrist Adrian Smith zusammen (dessen Karriere nach seinem A.S.A.P. Debut aus dem Jahr 1990 und einer durchwachsenen und weitgehend unbekannten Platte mit Psycho Motel auf dem sowohl künstlerischen als auch kommerziellen Trockendock lag) und entschied sich zur Aufnahme eines reinen Metal-Albums. Ob die gesponnene Mär, Roy Z hätte mit "einigen großartigen Metal-Riffs" (Roy Z) aus seiner Resteschublade erst einige Überzeugungsarbeit leisten müssen, bevor Bruce endlich einlenkte, nun tatsächlich stimmt, der Geldspeicher allmählich leerer und leerer wurde, oder gar die Plattenfirma/das Management die neuerliche Kurskorrektur zumindest mitbestimmte, werden wir vermutlich nie erfahren.

Viele Signale, die von "Accident Of Birth" ausgehen, lassen sich wenigstens aus der Ferne als ein Bewerbungsschreiben an die Adresse von Maiden-Boss Steve Harris interpretieren: die Rückkehr zum Heavy Metal, Adrian Smith als Sidekick, das Cover-Artwork vom langjährigen Chefdesigner von Iron Maiden (Derek Riggs) gestaltet - so bringt man sich wieder ins Spiel, wenn die eigene Karriere mehr oder minder lautlos den Bach runter geht. Iron Maiden selbst hatten sich derweil mit der Verpflichtung von Sänger Blaze Bayley verkalkuliert (Jannick Gers:"Kann er denn singen?" - 1993) und dem schwachen Dickinson-Outro "Fear Of The Dark" ein nun gänzlich erschreckendes "The X-Factor" folgen lassen und tingelten durch Hallen mit einer Kapazität von gerade einmal 2000 Menschen. Wer den Wink mit dem Zaunpfahl ins britische Essex bis dahin noch nicht verstanden hatte, dem pflantschten die drei von der Tankstelle die Semi-Ballade "Man Of Sorrows" ins Schallgesims, dessen Text zwar von Aleister Crowley handelte, von vielen Zeitgenossen, inklusive Steve Harris, jedoch als Entschuldigungsschreiben an Iron Maiden gewertet wurde - Hybris, anyone?

"Accident Of Birth" ist stilistisch vielleicht nicht unbedingt Universen, aber doch wenigstens Kontinente vom Sound Maidens entfernt, ist härter, moderner, eine Spur offener und vor allem motivierter: Highlights sind der grandios schiebende Opener "Freak", das mit einem enormen Refrain ausgestattete "Welcome To The Pit" und die leicht episch angehauchten "Omega" und "Darkside Of Aquarius" - letzteres ein ultrafies zu singendes Monstrum, gegen das Dickinson live hör- und sichtbar kämpfen muss, es auf dem unten angezeigten Video aber in beeindruckender Manier niederringt. Überhaupt: Dickinson's stimmliche Leistungen ab Mitte der neunziger bis in die frühen Nuller Jahre hinein überflügeln spielend seine erfolgreiche Zeit mit Maiden in den 1980ern. In damaligen Interviews berichtete er von bodenlosem Montoringsound auf der Bühne und davon, immer Steve Harris' Bassmix den Vorzug geben zu müssen, sodass er, Bruce, sich praktisch nur an dem entlanghangeln konnte, was durch die PA nach draußen ins Publikum dringt - und als halbwegs erfahrener Sänger weiß ich: das ist nicht viel. Aber auch seine Arbeit im Studio zeigt sich nochmal klar verbessert, denn er sang ausdrucksstärker und kraftvoller denn je.

Trotzdem ist nicht alles Gold, was glänzt und so reiht sich "Accident Of Birth" in meiner Rangliste seiner Soloalben hinter "Skunkworks" erst auf dem vierten Platz ein. Zum einen leidet das Album unter einem etwas arg konventionellen Ansatz, der zu solch harmlosen Trällerliedchen wie "Road To Hell", "The Magician" oder auch dem oben erwähnten "Man Of Sorrows" führt und in Verbindung mit einem zwar aufs erste Hör fetten, aber auch dumpf und etwas verwaschenen Sound zum anderen die Frische von Dickinsons bisherigen Soloarbeiten vermissen lässt. "Accident Of Birth" kommt auf Albumlänge deswegen nur schwer in die Gänge - es wirkt noch wie eine Zweckehe, zu der sich der Protagonist mit schwerem Flügelschlag hat aufraffen müssen. In der Retrospektive eigentlich ein klassisches Übergangsalbum - und wenn dieser gefühlte Kraftakt notwendig war, um sich nur ein Jahr später zu dem aufzuschwingen, was wenigstens für Herrn Dreikommaviernull bis heute die Speerspitze des Heavy Metal in den 90er Jahren darstellt, dann darf man "Accident Of Birth" meinethalben gerne den Respekt entgegenbringen, den es in Teilen der Szene nicht erst seit gestern hat; einer Szene wohlgemerkt, die im Jahr 1997 nur wenig zu lachen hatte und es im Ergebnis bekanntermaßen sogar schaffte, die schwedische Abi-Ball Combo Hammerfall und ihr "Glory To The Brave"-Debut als musikgewordene Rückkehr des Yes-Törtchens zu feiern. Wenn die Sonne tief steht, werfen eben auch Zwerge lange Schatten.





Erschienen auf Raw Power, 1997.

15.11.2017

Bruce Dickinson - Skunkworks




Dickinsons drittes Soloalbum leidet in der Wahrnehmung vieler Rockfans bis heute unter durchwachsenen und inhaltlich völlig fehlgeleiteten Reviews der damaligen Zeit und ist kriminell unterbewertet. Als Produzent wurde Grunge-Ikone Jack Endino verpflichtet und alleine dessen Auswahl in Verbindung mit Dickinsons abgeschnittener Haarpracht brachte viele Musikkritiker dazu, dem Album den großen "Alternative Rock"-Stempel aufzudrücken - was bei vielen kopfbetonierten Rockern und Metallern dazu führte, die Platte erst gar nicht anzuhören und stattdessen die schöne Frischluft mit dem elendigen Gewürge von Verrat (am Metal, logisch) und Trendreiterei zu verpesten. Von Grunge oder Alternative Rock war auf "Skunkworks" damals wie heute nur wenig zu hören - und selbst wenn schon: wer im Jahr 2017 nochmal ein "Alternative Rock"-Album wie beispielsweise das Debut von Blind Melon auf den Plattenteller wirft, wird ob der Nähe zu sattem 70er Jahre Rock ungläubig mit den vermutlich am, Pardon: Arsch festgetackerten Ohren schlackern. Dickinson wollte nichtsdestotrotz mit der bereits beim Vorgänger "Balls To Picasso" eingeleiteten Entwicklung auch für "Skunkworks" den nächsten Schritt wagen und sich weiter emanzipieren - was mit Endino als Produzent, verändertem Aussehen und der nochmal weiter geöffneten stilistischen Ausprägung seiner Musik so radikal wie möglich ausfallen sollte. So gab er der Band, die ihn schon auf der Tour zu "Balls To Picasso" begleitete, den Namen Skunkworks und war so überzeugt von der Euphorie und der Motivation der blutjungen Musiker, dass er sogar seinen eigenen Namen vom Cover getilgt haben wollte. "Skunkworks" sollte also als Bandalbum, und nicht etwa als neues Soloalbum von Bruce Dickinson erscheinen, aber wie bereits in den vorangegangenen Jahren schob auch hier die Plattenfirma einen Riegel vor. Die Vermarktung des Produkts ist eben alles - und während ich das schreibe, schicken mir Maiden-Manager Rod Smallwood und -Bassist Steve Harris vermutlich gerade eine Postkarte von ihrem öchzig Trilliarden Kilometer langen Privatstrand in der Karibik, das Porto zahlt freilich der Empfänger.

Die Einlassung zur Vermarktung der Hülle stimmt selbst (magis: ganz besonders) dann, wenn der Inhalt dazu angetan sein dürfte, die vielen ehemals loyalen Stammfans zu verprellen. Über das Kreuz mit der Legion konservativer Rock- und Metalfans habe ich auf diesem Blog mehr als nur einmal geschrieben und unzählige Beispiele von Bands erwähnt, die nach erfolgter Umsetzung ihrer künstlerischen Freiheit von ihren Anhängern wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wurden, weil "You are free to do as we tell you." (Bill Hicks) - und bevor nun der nächste Kuttenheinz das große Wimmern anfängt, man kennt ja seine Pappenheimer: ich weiß, dass ich diesbezüglich nur zu gerne und wahrscheinlich übertrieben hart auf die armen kleinen Metaller einprügele und ich weiß auch, dass es in anderen Szenen nicht unbedingt besser aussieht. Wer will, kann ja mal Weezers Rivers Cuomo nach seiner künstlerlichen Entfaltung fragen; der freut sich ob seiner in Teilen gleichfalls schädellaminierten Anhänger, die immer wieder das gleiche Album von ihm hören wollen, bestimmt auch ein zweites Loch ins kalifornische Popöchen.

"Skunkworks" haftet dennoch bis heute dieser Alternative-Quatsch an und es geht sich partout nicht aus - vielleicht ergibt sich ja jetzt mit der Wiederveröffentlichchung die Möglichkeit, das Visier nach über 20 Jahren Quadratdoofheit doch nochmal neu zu justieren. "Skunkworks" ist das, was Matthias Breusch in seiner aktiven Zeit als Musikredakteur so gerne als "mit positiver Power aufgeladenes Kraftfutter" bezeichnet hätte: Frisch wie Morgentau, perlend wie Schampus, ein Punch wie ein vierfäustiger Mike Tyson, melodischer als Abba 1977. Perfekt von Endino als Frischzellenkur für einen alten Hasen inszeniert, ohne auch nur eine fucking Sekunde an der Peinlichkeitstür zu klopfen. Unterstützt von den jungen Wilden Alex Dickson (Gitarre), Chris Dale (Bass) und Alessandro Elena (Schlagzeug) trumpft Dickinson groß auf. Gerät der Einstieg mit "Space Race" noch etwas schaumgebremst, gibt es schon ab der folgenden Single "Back From The Edge" im Prinzip kein Halten mehr, dafür aber weitere Highlights wie "Inertia", "Solar Confinement", "Inside The Machine", "Meltdown" und "Octavia" - allesamt echte, großartig produzierte Hits. 

Wer das auch 20 Jahre später immer noch nicht hören will oder kann, darf sich meinethalben total gerne off-fucken gehen.




Erschienen auf Raw Power, 1996.


11.11.2017

Bruce Dickinson - Balls To Picasso




Das Leben nach Iron Maiden zeigt Bruce Dickinson auf seinem ersten Solowerk nach seinem Ausstieg bei den eisernen Jungfrauen als Freischwimmer. Das letzte gemeinsame Maiden-Album "Fear Of The Dark" und noch mehr die darauf folgende Tournee und den dabei aufgenommenen, grausamen Livealben "A Real Live One" und "A Real Dead One" zeigten, dass Dickinson nicht mehr glücklich war; auch die restliche Band präsentierte sich weitgehend orientierungslos und wusste nicht mehr, ob sie nun Fisch oder Fleisch spielen wollte. "Balls To Picasso" ist die logische Konsequenz aus den letzten Jahre mit Maiden. 

Das Projekt ging dabei durch mehrere Iterationen, allesamt mit dem Anspruch ausgestattet, den Musiker Bruce Dickinson komplett neu zu erfinden. Das Motto war: strikte Abgrenzung von Maiden, klare Abnabelung von seiner Vergangenheit und damit auch - in Teilen - von seinen Fans. Zunächst arbeitete Dickinson mit der britischen Hardrocktruppe Skin als Backing Band, anschließend folgte eine Session mit Mainstreamproduzent Keith Olsen - und beide Aufnahmen wanderten in den Giftschrank, nachdem die Plattenfirma kalte Füße bekam (die Tracks wurden erst 2005 im Rahmen der Neuauflage des Albums öffentlich gemacht). Schlussendlich wurde Shay Baby aus Los Angeles als Produzent ausgewählt, der Dickinson darüber hinaus mit der Latino Rockband Tribe Of Gypsies und deren Gitarristen Roy Z bekannt machte und besonders von letzterem sollten wir in den folgenden Jahren noch mehr zu hören bekommen.

"Balls To Picasso" experimentiert zwar mit einem deutlich luftigeren, offeneren Sound und einer Menge ungewöhnlicher Rhythmen, hält sich aber immer noch deutlich im Kosmos zeitgenössischer Rockmusik auf - nicht zuletzt wegen Dickinsons Stimme, deren Ursprung aus Downtown Rockröhrenhausen er auch mit den größten experimentellen Ambitionen einfach nicht verstecken kann, auch wenn er es beispielsweise im poppigen "Change Of Heart" (siehe das Video unter diesem Text) sehr offensichtlich versucht. Für mich ist "Balls To Picasso" dank herausragender Songs wie "Hell No", "Cyclops" und dem fantastisch gesungenen "Gods Of War" sein zweitbestes Soloalbum, ganz besonders wegen des neuen Sounds, des frischen Vibes und der Aufbruchstimmung - die im Grunde nur durch das sehr konventionelle und damit auch - logisch! - kommerziell erfolgreiche "Tears Of A Dragon" gestört wird, einem zwar guten, aber im Albumkontext leicht deplatziert wirkenden Song. 

Die immer wieder kolportierte Nähe zum damals angesagten Alternative Rock lässt sich allerhöchstens in Spurenelementen nachweisen, etwa bei dem mit fixem Sprechgesang versehenen "Sacred Cowboys" - darüber hinaus ist "Balls To Picasso" ein frisches, mit zahlreichen Hits gespicktes und in Teilen ungewöhnliches Rockalbum mit eigenem Sound und einer eigenen, ganz besonderen Stimmung. Auch wenn das Boot eigentlich in eine andere, weitaus experimentellere Richtung hätte fahren sollen, bevor das Label den Notanker auswarf, muss Dickinson hoch angerechnet werden, das Boot überhaupt betreten und den Kompass richtig eingestellt zu haben. 

Dass die Mär von "genau dem Album, das ich zu 100% machen wollte" für zehn Jahre Aufrecht erhalten wurde, bis Keith Olsen und Shay Baby den Einfluss und die Intervention des Labels, beziehungsweise des Managements öffentlich machten, spricht erneut Bände über das Musikbusiness einerseits und den gemeinen Rockfan andererseits - eine Symbiose, die jede Kreativität und jeden Fortschritt im Keim erstickt. Es lebe der Stillstand. 
  




Erschienen auf EMI, 1994.