18.12.2015

In die Tiefe





ORCAS - YEARLING


Vor drei Jahren schaffte es das unter dem Projektnamen Orcas veröffentlichte Debut von Thomas Meluch aka Benoît Pioulard und Rafael Anton Irrisari bis auf Platz 4 meiner Jahresbestenliste - ein verbritzelt-verträumter Ambient-Pop mit einer Stimme, die entfernt Erinnerungen an die Shoegaze, Pop und Postpunk Helden der 80er und frühen 90er Jahre ins Gedächtnis zauberte und musikalisch große Melodieentwürfe fast schon klaustrophobischen Intimitäten zur Seite stellte. 2014 erschien "Yearling", und unter normalen Umständen hätte ich mir die Platte ganz bestimmt bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung ins Regal genagelt - aber offenbar waren die Umstände nicht normal. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich glaube, "Yearling" machte mich nach den ersten Höreindrücken nicht sonderlich wuschig. Vielleicht ist mir aber auch nur wieder im Moment des Testhörens eine Laus über die Leber gelaufen. Oder ich hatte kurz zuvor einen Tweet von Erika Steinbach gelesen und der Tag war damit sowieso schon im Totalarsch. 

Durch den sehr ergiebigen Winter Sale beim Berliner Mailorder A Number Of Small Things, wurde ich wieder auf "Yearling" aufmerksam, riskierte zur Sicherheit nochmal ein Öhrchen - und war umgehend verzückt. Werde ich nun doch wirklich alt?

"Yearling" zeigt sich im Vergleich zum Debut leicht verändert. Das Duo holte sich zum einen partielle externe Unterstützung von Efterklang's Martyn Heyne (Gitarre und Piano) und Telekinesis' Michael Lerner (Schlagzeug), zum anderen haben die beiden Köpfe Meluch und Irrisari die Extreme breiter ausgerollt: Die Pop-Arrangements sind im Sinne "Spirit Of Eden"'scher Talk Talk klarer strukturiert, die Melodien eingängiger und selbstbewusster. Herausragend in dieser Hinsicht sind beispielsweise "Half Light" und "An Absolute", in deren Harmonien man sich bei aller Cheesiness bis zum Haaransatz eingraben möchte. Die turmhohen Ambient-Eisbrecher Irrisaris hingegen sind konzentrierter und wirken ernsthafter, relevanter als auf dem Debut. Alleine das fast neunminütige "Tell" setzt als offiziellen Abschluss ein dickes Ausrufezeichen hinter seine Arbeit auf "Yearling", und die beiden Bonustracks "Flutter" und "Point Sur" existieren nur, um mir damit Recht zu geben.

Ich weiß nicht, was letztes Jahr genau mit mir los war - oder, um es herumzudrehen: was jetzt mit mir los ist. Vielleicht ist's die vorweihnachtliche Besinnlichkeit und die damit verbundene Aussicht auf ein paar ruhige Tage mit angezogener Handbremse, um dem Stress, der so ein Jobwechsel mit sich bringt, zu entkommen. Ich weiß jetzt schon, dass "Yearling" sich in dieser Zeit oft auf dem Plattenteller drehen wird. 

Homeoffice kann kommen.







Erschienen auf Morr Music, 2014. 

15.12.2015

Tropfsteinhöhle. Part II




Ich darf einen sehr schönen Nachschlag in Sachen Colleen präsentieren.

Die Website She Does Podacst, betrieben von den beiden Dokumentarfilmerinnen Elaine Sheldon und Sarah Ginsburg, kümmert sich in den produzierten Podcasts um kreative Köpfe aus der Medienwelt: Musikerinnen, Schauspielerinnen, Autorinnen, Künstlerinnen.

Each episode centers around an intimate conversation yet digs deeper into each woman's background, philosophy and process through artful audio documentaries soundtracked by music made by women.

In der aktuellen Ausgabe haben die beiden einen interessanten und einfach großartigen Bericht über Colleen, ihre Arbeit, ihre derzeitige Heimatstadt, und ihre Musik zur Verfügung gestellt.

Enjoy.



13.12.2015

Tropfsteinhöhle




COLLEEN - CAPTAIN OF NONE


Ob es "Captain Of None" in meine Jahresbestenliste schafft, ist noch nicht entschieden - was auch gleichzeitiger Hinweis auf die mich jedes Jahr aufs Neue komplett überfordernde Herausforderung ist, dieses Bündel toller Musik am Ende des Jahres zu sortieren und zu bewerten. Und an dieser Herausforderung werde ich auch 2015, und damit wie in den vorausgegangenen Jahren bis spät in den Dezember hinein, kläglich scheitern. Aber immerhin habe ich damit eine Aufgabe, "etwas Eigenes" (Loriot) und bin "von der Straße weg" (Mutti). 

Colleen ist das Pseudonym von Cecile Schott, einer aktuell im spanischen San Sebastian lebenden französischen Multiinstrumentalistin, die mit ihrer Viola da gamba und ihrer Stimme ein mystisches und fremdartig wirkendes Album zusammengebastelt hat, das sich stilistisch weit in Richtung Einzigartigkeit lehnt. Irgendwo zwischen Avantgarde und Popmusik, mal offensichtlich durchkomponiert, mal vogelfrei experimentierend, im Grunde nicht zu dechiffrierende Spurenelemente von Dub, mediterraner Kultur und sogar Krautrock aufgreifend. Schotts Stimme würde der Engländer ohne mit dem Guinnessfass zu zucken als "haunting" beschreiben, und er läge damit ausnahmsweise goldrichtig. 

Ich habe "Captain Of None" gerade in den vergangenen Tagen ein ums andere Mal auf den Plattenteller gelegt. Zum sonntäglichen und mehrere Stunden dauernden Frühstück bei grauem Novemberschleier vor der Tür war es eine bemerkenswert stimmige Erfahrung und ein passender Soundtrack. Hat sicherlich ein paar Plätze aufgeholt. 

Eine merkwürdig ungreifbare, aber dafür hochinteressante Musik. Ist leider selten geworden auf Thrill Jockey. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2015.

12.12.2015

Eierlikör unterm Weihnachtsbaum




SKALLANDER - SKALLANDER


Wer mich länger als dreikommaviernull Tage kennt, wird wissen, dass der feine Herr Blogger in so mancher Hinsicht einen an der Ratsche hat, und ich möchte sogleich beruhigen: wir gehen nicht alle Punkte einzeln durch, denn dafür reicht die Zeit (dieses Planeten) nicht aus - ein Blick in meinen Badezimmerschrank genügt, um sich verstört die Murmel zu kneten. Ich liebe Parfum und alles, was damit zu tun hat, weil das total "punk" (M.Cyrus) ist und meinen kritischen und subversiven Spirit optimal widerspiegelt. Und weil es natürlich ein dekadenter Quadratscheiß ist. It's a satanic scent thing you wouldn't understand. Period!!!einself 

Ich habe natürlich, um die Angriffsfläche noch weiter zu vergrößern und weil's eh schon scheißegal ist, eine Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterkollektion: spritzig-grünes für den Frühling, ein bisschen mehr Tiefe mit Zitrus im Sommer, gräulich vor sich hin moderndes für den Herbst und süße, opulente Gewürzbomben für die Temperaturen unter 5°C und Schneefall. Nun ist's aber so: natürlich könnte ich ein frisch-feines Frühlingsnichts auch im Dezember verwenden. Oder ein tonnenschweres Nebelhorn aus Vanille, Patchouli und Leder (huch: nicht vegan!) bei 38°C im Schatten. Aber ich bin ja nicht bescheuert, beziehungsweise eben doch: es geht sich halt partout nicht aus. Ich fühle mich damit einfach nicht wohl; es ist, als würde man morgens nonchalant zur Bushaltestelle laufen und hätte vergessen, sich eine Hose anzuziehen. Oder man trägt eine Unterhose aus kratzender Wolle - was man auch und ganz besonders aus hygienischen Gründen viel öfter machen sollte. Und warum geht's hier die ganze Zeit um Hosen? Und um Parfum? Geht's denn immer nur ums Bumsen? Klare Antwort: log'n!

Bei Musik geht es mir ganz ähnlich, allerdings ist hier die emotionale Verbindung zum von der Novemberdepression geplagten Stammhirn eine transparentere, wenn nicht logischere: Zartbesaiteter und weichsemmeliger Indiepop mit Fistelstimme kommt mir in den hellen Zeiten des Sommers, in denen ich das Leben noch ein bisschen mehr liebe als sowieso schon, ganz bestimmt nur sehr selten auf den Plattenteller. Wenn es draußen aber schon um halb fünf dunkel ist, und der durch die engen Gassen Sossenheims gepeitschte Nieselregen zärtlich am Gehsteig festfriert, und die Kanne Jasmintee allem Schlechten und Verdorbenen dieser Welt als Schwert der Empathie und des verbrannten Gaumens entgegengehalten wird, während die Heizung ("WAS? DU MACHST DIE HEIZUNG SCHON AN? IM NOVEMBER? BONZENSPIESSER! PUNKROCK ALAAF!") verzweifelt versucht, die über der Wäscheleine hängende Katze zu trocknen ("WAS? DU TROCKNEST DEINE KATZE AUF DER WÄSCHELEINE? HAST DU KEINE MIKROWELLE, DU REAKTIONÄRER SPASTI?"), dann passt sich der ausgewählte Soundtrack nach einem intellektuell erfüllenden Arbeitstag dem pathosgebleichten, melancholischen Blick auf die Netflix-Auswahl an. Und dann kann man auch mal zartbesaiteten, weichsemmeligen Indiepop mit Fistelstimme hören. Und lieben.

Skallander kommen aus Neuseeland, bestehen aus Matthew Mitchell und Bevan Smith und ihr drittes Album erschien überraschenderweise auf Type Records - einem Label, das sich für gewöhnlich dem experimentellen Spektrum von Noise-Avantgardisten widmet. Skallanders Musik flutscht dagegen aus einem anderen Universum auf den Plattenteller: eine superweiche Samtflauschmusik aus akustischem Indiepop mit spätsommerlichen, in den Herbst hineinrutschenden Farbtönen - melancholisch und nachdenklich, dabei aber nicht dunkel, sondern tatsächlich eher sonnengereift. Ich könnt's im Juli nicht hören, aber vielleicht ist es die Erinnerung an laue Sommerabende mit Mojito, Mücken und Mumus, die mich im November zu einem sabbernden, willenlose Stück Kräutertofu macht. Manchmal, wie in "Time Is Only A Revolution" linsen aufgrund der Gesangsharmonien sogar die verfluchten Beatles durch milchig-angelaufene Fenster, was kein Problem ist, wenn du die Beatles nicht magst: selbst ich kann darüber hinweg sehen und sogar die Vorzüge goutieren.

Ich habe das Album übrigens blind gekauft, denn bei diesem wunderbaren Artwork musste ich einfach zugreifen. Und ich wusste: schlecht kann das nicht sein. 

Hatte übrigens recht. 




Und weil's gerade so schön passt, mein Parfumtip zu dieser Platte: Parfumerie Generale - Cozé 
Unter Eingeweihten auch "Kotze" ausgesprochen:
"Nach was riechst Du denn so gut?"
"Kotze."

Erschienen auf Type Records, 2007.

06.12.2015

6.Dezember 1999




CHRIS CORNELL - EUPHORIA MOURNING


Im September 1999 begann ich eine Ausbildung zum Verlagskaufmann bei der Frankfurter Rundschau. Ich hatte fast arschlange Haare, die mal rot, blau oder grün waren, trug ausschließlich Shirts meiner Lieblingsbands mit halboffenen Karohemden und hielt Schröders SPD und Fischers Grüne tatsächlich für die politische Zukunft Deutschlands, wofür man mir heute "nach strengen Maßstäben" (Schäuble) noch eine reinhauen müsste, aber ich war jung, doof und hatte offenbar als logische Konsequenz eine rot-grüne Hirnwasserabsenkung. Jedenfalls: im selben Monat veröffentlichte der Frontmann der zwischenzeitlich aufgelösten Grungepioniere Soundgarden sein Solodebut. Ich kaufte es, weil ich am 3.6.1999 eine Frau kennenlernte, die Chris Cornell den Reißverschluss seiner superenganliegenden Jeans mit den Zähnen hätte aufmachen können, hätte man sie in seine Nähe gelassen. Vermutlich wäre Cornell auch einfach nur die Hose weggeflogen, hätten ihre Blicke ihn getroffen, und weil ich erstens so ein kleines bisschen spätpubertär eifersüchtig war und zweitens in ihre Jubelarien einstimmen wollte - weniger wegen seiner der Inhalt seiner Jeans, als wegen seiner, man sieht's mir nach: Musik - studierte ich "Euphoria Mourning" in den kommenden Wochen sehr eingehend. 

Diese Frau, der trainierte Leser ahnt es, ist auf den heutigen Tag genau für sage und schreibe 13 Jahre mit dem Autor dieses Blogs verheiratet, und selbst wenn sie Cornell tatsächlich heute immer noch den Reißverschluss mit ihren Zähnen aufmachen wollen würde, und davon ist bei Gott oder sonstwem ziemlich sicher auszugehen, liebe ich sie noch immer. Und immer mehr. 

Dass diese Platte eine ganz besondere Bedeutung für uns hat, ergibt sich aus der langen Odyssee, die wir hinter uns bringen mussten, bis wir uns am 6.12.1999 erstmals am Nürnberger Hauptbahnhof hochoffiziell in den Armen lagen; eine Odyssee, deren Verlauf schmerzhaft war und vor allem von großer Unsicherheit geprägt wurde, und die wir mit "Euphoria Mourning" als heilenden Soundtrack begingen. Unvergessen die trüb-verschwommenen Tage in den Büros der Rundschau, in deren Bürofluren ich tatsächlich zum ersten Mal mit IHR telefonierte, die Nervenzusammenbrüche, weil um mich herum alles zusammenbrach, die schlaflosen Nächte, die Zigaretten, der Alkohol, das Chaos in meinem Kopf. Ebenso unvergessen sind die durchgechatteten, durchgemailten und durchtelefonierten Nächte voller Liebe und Verzweiflung, in denen zwischen totaler Agonie und funkensprühender Euphorie jede Emotion ihren Platz fand. Und der herzzerreißend gesungene Titelsong im Hintergrund, der einerseits die schwache Hoffnung auf einen in ferner Zukunft auftauchenden Funken Licht versprach, andererseits natürlich auch bestens dazu geeignet war, sich in seinem Leid zu suhlen. 

Seltsamerweise haben wir beide das Album schon länger nicht mehr gehört und erst kürzlich, als es erstmals auf Schallplatte erschien, kam es wieder, zeitlich durchaus angemessen, ins Bewusstsein zurück. Es ist auch 16 Jahre später noch eine beeindruckende Sammlung von intensiven und dabei sehr ungewöhnlich komponierten Songs. 

Untrennbar mit der Vergangenheit verbunden. Untrennbar mit dem Leben verbunden. Untrennbar mit der Liebe verbunden.




Erschienen auf Interscope, 1999. 


05.12.2015

Scott Weiland (1967 - 2015)





The laughter's all gone 

but the memories are mine


Die Stone Temple Pilots hatten besonders zu Beginn ihrer Karriere keinen leichten Stand. Peal Jam, Nirvana, Soundgarden und Alice In Chains hatten das große Mainstreamfeld des Grunge bestellt, auf dem sich goldene Schallplatten im saloppen Vorbeigehen pflücken ließen, und als das Quartett aus San Diego 1992 mit ihrem Debut "Core" praktisch umgehenden großen Erfolg hatte, war die Angriffsfläche der Journaille riesig: eine Imitation des Grunge, Epigonen, Trittbrettfahrer, substanzlose Kopisten. Die Fans ließen sich davon nicht abhalten, die Kapelle bis an die Spitze zu spülen - "Core" ist alleine in den USA über 8 Millionen Mal verkauft worden, der Nachfolger "Purple" schaffte es bis auf die Nummer 1 der US-amerikanischen Billboardcharts, die Singles "Plush" und "Creep" sind in jeder Lebensdiskografie der damaligen Generation einbetoniert. Insgesamt stehen über vierzig Millionen verkaufte Tonträger auf dem Deckel - und Erfolg begünstigt eben Neid. Vor allem in Deutschland waren viele Schreiber, gerade aus der traditionell bestens unsortierten metallischen Ecke, besonders schlau und attackierten die Band wo sie nur konnten. Was die Truppe natürlich gerechtermaßen einen feuchten Dreck interessierte, zumal in Amerika die größten Konzerthallen ausverkauft waren und die Kassen über mehrere Jahre hinweg sehr konstant und in süßesten Tönen klingelten. Ebenfalls gerechtermaßen.

Mich hat die Kritik gleichfalls nie interessiert - es war MEINE Zeit und die Stone Temple Piots begleiteten mich durch die erste Liebe, durch die daraus entstehenden großen Enttäuschungen, durch die Pubertät, in der das Chaos im Schädel regiert, durch die vermeintliche Rebellion. Durch durchgequatschte Nächte mit Freunden, die einem wichtig waren, die Discoabende in der Frankfurter Batschkapp, den ersten Rauchrausch. Die Besetzung des elterlichen Wohnzimmers, das Verschütten eines eigenhändig zusammen gemischten schwarzen Cocktails auf dem cremefarbenen Perserteppich von Mutti, der anschließende Lachkrampf von 12 Freunden. Die Stone Temple Pilots gehörten zu meinem Leben in den neunziger Jahren, in denen im Rückblick alles noch einfacher, unverbrauchter, naiver und unbeschwerter war. Wie eben praktisch alles im Rückblick immer einfacher, unverbrauchter, naiver und unbeschwerter erscheint - nur dass die gelebte und damit vergangene Realität immer eine andere war: gar nicht so hell und fröhlich, nur manchmal bis sogar überaus selten unbeschwert.

Dass es Musik über 20 Jahre nach dieser so bemerkenswerten und prägenden Zeit gelingt, mir das Gefühl einer Unbeschwertheit zurück in die 90qm Businesskasperhausen zurückzuballern, bekommt heute Abend einen bitteren Beigeschmack.

Scott Weiland, Sänger der Stone Temple Pilots und später der Frontmann von Velvet Revolver, ist am vergangenen Donnerstag gestorben. Und wie es schon bei den Heimgängen von Kurt und Layne war, geht damit auch ein Teil meiner Erinnerungen.

Die Helden sterben aus.




29.11.2015

Bvdub - Safety In A Number



no label, no distro, no one in-between us.
these will never be re-pressed or re-issued.
there are no sound samples and no previews.
i ask you to trust me, as i trust you.
i hope we can return to music being a true and new experience.
the most involved, complete, and intense album i have ever made - over a two-year span, on two continents, this is, for me, the zenith of my ambient sound, and voice, to date. 
(Brock van Wey)

Man mag das als betuliches, überambitioniertes, exklusivitätserigiertes Künstlergewäsch halten. Man kann andererseits die Aufrichtigkeit eines sensiblen und emotionalen Menschen bewundern.

Es ist wie bei Lee Reed: die Guten sind die Verrückten. Dabei sind die Verrückten die Guten.

"Safety In A Number" läuft seit einer Woche auf Endlosschleife.






23.11.2015

Und die Moral von der Geschicht'....

Ich bin heute weitaus weniger versessen auf politisches Kabarett als noch vor ein paar Jahren - einerseits fiel der Umgang mit der nahtlos einsetzenden Ohnmacht nicht immer zum Vorteil meiner Mentalhygiene aus, andererseits überschnitten sich oft nicht nur die Themen, sondern auch die Arten des Vortrags - und beides entwickelte sich mit der Zeit und kerzengerade folgerichtig nicht gerade zu einem Thriller, dem man nicht mehr entkommen kann. Zusätzlich bekam der Vorwurf, politisches Kabarett hole in seiner ihm innewohnenden Selbstgerechtigkeit sowieso nur das aus systemisch felsenfest verankerten Wohlstandsschranzen bestehende Publikum ab, und arbeitet somit weiter in der Kostümierung als "Useful Idiot" fleißig an der Zementierung der Verhältnisse, dass also "oben" auch weiterhin oben und "unten" um Himmels Willen nicht nach da "oben" kommen soll, in dieser Zeit auch immer mehr Gewicht. Ich mag natürlich noch einige Protagonisten wie zum Beispiel Hagen Rether, dessen Auftritt im April 2014 im Wiesbadener Kurhaus mir noch in guter Erinnerung ist, weil ich mir nicht nur für fast vier Stunden (netto!) und in aller Seelenruhe verbal die - Pardon! - Fresse polieren ließ und dafür auch noch Geld bezahlte, sondern weil der Abend in seiner aufreizend ruhig vorgetragenen Gnadenlosigkeit etwas in mir veränderte und meine Sicht auf den ganzen Irrsinn da draußen verschob. Der Auftritt geriet beinahe zu einem Vertigo der Sinne; es gab praktisch niemanden der gut 1000 Besucher, der nach diesen vier Stunden und der gleich mehrfach ausgelösten Sprinkleranlage im Hirn noch klar bei Verstand gewesen wäre - mir erging es da nicht anders. Wir hatten alle nur noch Pudding im Hirn, so mancher möglicherweise schon bevor das Saallicht um 20 Uhr zum ersten Mal gedimmt wurde. Auf der Heimfahrt versuchten Al und ich zu ergründen, was das gerade war und wie es uns damit ging und vor allem: was künftig auf gar keinen Fall mehr gehen sollte. Wenn dieser Abend einen Fokus neu ausrichtete, dann den auf das eigene Sein, Denken und Handeln - und ganz besonders auf das Handeln. Es war uns klar, dass wir uns nicht mehr 4 Stunden lang im weichen Polstersessel die eigene Unzulänglichkeit diktieren lassen wollten, um am Ende auch noch herzhaft darüber zu lachen.

"Toller Abend, und die Schnittchen waren auch super. Und wie weich das Toilettenpapier war. Stößchen!"

Man kennt das alles, man weiß das alles und wenn man es nicht weiß, ist es mit zwei Klicks zu Hause - jetzt muss man auch endlich was tun. Sich entscheiden, zum Beispiel. Ich kann nicht sagen, dass ich immer und überall durchhalte - aus dem schlauen Gedanken in die schlaue Aktion zu kommen ist weder das Einfachste der Welt noch ganz grundsätzlich für Jedermann gedacht, während es komischerweise aus dem dummen Gedanken in die dumme Aktion immer und überall wie ein eingeöltes Zäpfchen auf die große Reise geht. Eine Reise, die selten gut endet - es sei denn, das Zäpfchen stillt Schmerzen und lässt Dich rosa Elefanten sehen.

Jedenfalls: Ich tat etwas, und das war die Glotze und das Internet immer öfter auszulassen. Mehr Musik, mehr Einkehr, mehr Reflektion, mehr Aktion. Klappt mal mehr, mal weniger - aber der Ausgangspunkt, und sei es nur der argumentative oder noch trivialer: der Abend im April 2014, der war immer im Kopf.


Nichtsdestotrotz habe die neue Inkarnation der Anstalt, angeführt von Claus von Wagner und Max Uthoff, bereits im Sommer 2014 lobend erwähnt, nachdem sie im Rahmen einer ihrer Sendungen auf den Korruptionssumpf der FIFA in Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft im Fußball 2014 aufmerksam machten, und das mitten im teutonischen Jubeltaumel. Weil "so gehen die Deutschen", und das tun sie am liebsten immer noch über Leichenberge, die sie in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten an- und also aufgehäuft haben.

Ab und an bekomme ich noch eine Ausgabe der Anstalt mit und immer, wenn ich sie sehe, bin ich beeindruckt von ihrem Bestreben, die Wut und die Ohnmacht, zwei der gefürchtesten Endgegner des real existierenden Chaos' in neue Bahnen zu lenken - vor allem in emotionale. Die Sendungen gleichen mehr und mehr künstlerischen Theateraufführungen mit sorgfältig inszenierter Dramatik, die den roten Faden bis zum emotionalen Höhepunkt zum Schluss begleitet. Weniger Klamauk als mit Urban Priol, weniger vom rasenden Zorn eines Georg Schramm, weniger vom lokalkolorierten Weichzeichner eines Frank-Markus Barwasser, dafür mehr dediziert und beharrlich vorgetragene Angriffslust, in der Ansprache etwas ruhiger als ihre Vorgänger, aber mit größerer inhaltlicher Wucht. Moralisch? Ganz bestimmt.

Ich schreibe diesen Text heute sehr spontan, weil ich die letzte Ausgabe vom 17.11.2015 anschaute und die letzten 5 Minuten praktisch durchheulte. Schon wieder. Ich finde, es ist sehr lohnenswert, diese Sendung zu sehen. Ich bin weder besonders wütend noch ohnmächtig als viel mehr im Herzen getroffen - und aus dieser Motivation heraus erscheint es für den Moment durchaus leichter zu sein, einen neuen Weg, eine neue Tür zu entdecken, als mit Schaum vorm Mund und mit 300 Puls "wie vernagelt" (Polt) zu sein. Ich bin nicht weniger empört, aber die Lust auf eine Veränderung, auf eine Entscheidung - die ist größer. Und apropos Empörung: in der Konkret erschien kürzlich ein sehr lesenswertes und inspirierendes Interview mit Anstaltsleiter Max Uthoff.







21.11.2015

Hanni und Nanni




DITZNER LÖMSCH DUO II


Ein Album, in das man sich wie in heißen Wüstensand eingraben möchte. Wenn nicht gar muss. Und woher jetzt ausgerechnet diese Assoziation kommt, weiß natürlich wieder kein Mensch. Also fast keiner. 

Humor, Intimität und Grenzenlosigkeit lassen sich nicht gerade mit links in Zusammenhang bringen, wenn die Geschwindigkeit unserer Welt nur Zeit lässt, um die schnelle Laugenbrezel und eine Art von Spülwasser mit Kaffeearoma auf einer Autobahnraststätte runterzuwürgen. Oder wenn hinter jedem Klick auf den Streamingangeboten dieses verrückten Internetzes um das nächste Single-Hypesoufflé gebettelt wird, weil die Aufmerksamkeitsspanne für ein komplettes Album nicht mehr ausreicht. Immer alles ganz wichtig, immer alles ganz schnell, immer alles on the edge, denn wer nicht auf der "Edge" (Steven Tyler) ist, der ist verloren und indifferent, der hat's halt nicht geschafft. Entschleunigung tut gut, in den meisten Fällen jedenfalls, und die Beschäftigung mit ebenjener, die Reflektion des eigenen Irrsinns zusammen mit dem im besten Fall eintretenden frischen Windzug im Dachgeschoss, erscheint immer öfter als lohnenswert. 

Das Stoßlüften hilft auch dabei, so manche Vorurteile mit der Kettensäge zu zerkleinern, um sie hernach in einen schönen Kamin zu feuern: Europäischer Jazz, deutscher zumal, steht für gewöhnlich nicht besonders hoch im Kurs im Hause Dreikommaviernull. Die biedere Aura von stocksteifen Musikkonservatoriumsstrebern und die strenge Disziplin von sich selbst viel zu ernst nehmenden Weltmeistern im Baumstammsitzen lässt mich für gewöhnlich nach wenigen Sekunden die Schublade mit den weniger gut gemeinten Worten öffnen, und wenn's nicht so ärgerlich wäre, könnte ich die gepflegte Langeweile auf all den gelackten Produktionen glatt als Substitut für meine Blutdrucksenker verwenden. Unzulässige Verallgemeinerung, geschenkt. Die Auseinandersetzung mit dem dritten Album des Ditzner Lömsch Duos lässt die Systole dagegen ganz nonchalant im Normbereich herumpendeln, dank der auftretenden freudigen Erregung (Hossa!) gibt es sogar zaghafte Ausflüge in Richtung Herzflattern - und es flattert schon ganz besonders hübsch beim bloßen Betrachten der Schallplatte: das Artwork, das aufklappbare Cover und die großartigen Bilder glänzen sowohl durch den geschmackvollen Zusammenhalt des Konzepts, als auch mit beeindruckenden Kontrapunkten zur Musik des Duos. 

Die ist, wie bereits angedeutet, in der Ausrichtung durchaus heterogen. Intim, verschachtelt, zurückgezogen und konzentriert wie in der Eigenkomposition "Isor" von Saxofonist Lömsch Lehmann, plötzlich humorvoll und frech wie beispielsweise in der Interpretation von Charlie Parkers "Chi-Chi", die Parkers sprühende Lebendigkeit in einen gefühlten Computerspielbeat (Atari!) einerseits und in kristallklare, an Ulrich Lasks "Polar Circles" Experiment erinnernde Saxofonlinien andererseits aufdividiert. In "Kupuri" geht ein anerkennendes (es ist doch anerkennend?!) Kopfnicken des Duos außerdem in die Richtung von Mittneunziger New Age/World Beat-Sounds von John Wilson und seines Tulku-Projekts, das später auf einigen Ausgaben des erfolgreichen Buddha-Bar Samplers zu finden war. 

Dabei ist es gar nicht so einfach, diese eingangs erwähnte Diskrepanz zwischen der Intimität und der Weite in ihrer Musik zu beschreiben, und wenn ich jetzt auch "Diskrepanz" geschrieben habe, dann ist's im Grunde schon wieder Quatsch, denn so eine "Widersprüchlichkeit", so eine "Uneinigkeit" - die gibt's doch gar nicht. Das ist alles Eins. 

Totaler Fokus - und Träumerei. Hochverdichtet - und schräg zerfasert. Aufmerksame Disziplin - und die Lust am Spiel. Spirituell - und antiautoritär. 

Erwin Ditzner (Drums, Percussion und elektrische Zither) und Lömsch Lehmann (Saxofon, Klarinette und Bontempi) bleiben in ihren musikalischen Abenteuern stets sehr eng miteinander verbunden; beinahe kammermusikalisch ihr Zusammenspiel, experimentell und intellektuell. Das ist nicht immer mit der eigenen Lebensrealität vereinbar, und es gab Momente, in denen es völlig undenkbar schien, nun ausgerechnet dieses Album aufzulegen; was dieser Platte indes auf wenngleich sehr subtile, aber dafür nachhallende Weise gelingt, ist die unterschiedlichen Fixpunkte ihres natürlichen musikalischen Lebensraums miteinander zu verbinden, ohne gleichzeitig die Erdung und die Kontrolle zu verlieren. Ein durchaus bemerkenswert abgedecktes Spektrum, das die Musik des Duos in seiner Ausprägung nicht zerreißt, sondern im Gegenteil: vereint. 

Für Fortgeschrittene.




(Ein Video aus dem Jahr 2010 - inklusive Headbangeinlage von Herrn Lehmann)


Erschienen auf Fixcel Records, 2015.


15.11.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 9)




SKYCLAD - FOLKÉMON


Without trepidation I sing in laudation
Vocal salute to all travelling tinkers
Vagabond nation joined in congregation
United free-thinkers cry from the bryony;
"Any old irony?!"



"Oh mein Gott, die haben ja wirklich eine ihrer Platten "Folkémon" genannt!"

Das letzte Album der klassischen und erfolgreichen Besetzung mit Sänger Martin Walkyier erschien im Jahr 2000 zum Höhepunkt der weltweiten Pokemon-Hysterie und wird trotz der bevorstehenden Ereignisse in der Gesamtbetrachtung der Band seltsamerweise gerne mal übersehen - was glatt als grober Unfug durchgeht. Auf der Härteskala hat man im Vergleich zu "Vintage Whine" wieder ein paar Handbremsen angezogen, klanglich agiert man dafür straffer und schärfer als zuletzt. Erneut lässt sich das Songmaterial auf "Folkémon" indes ein paar extragroße Originalitätspokale schnitzen, denn diese Band suchte auch im Jahr 2000 immer noch nach einem adäquaten Sparingspartner, der diesem einzigartigen Sound auch nur im Ansatz ebenbürtig ist.

Auch "Folkémon" ist ein brilliantes und eigenständiges Metal-Album, erneut herausragend komponiert und vor allem arrangiert ("The Disenchanted Forest"). Auffällig ist der noch größere Fokus auf eingängige Refrains und Melodien ("Crux Of The Message"), die vor allem in Verbindung mit der durchaus rasanten Geschwindigkeit und dem Drive ("Polkageist", "Any Old Irony?") ihre euphorisierende Wirkung nicht verfehlen. Einziges Ärgernis auf einer ansonsten fehlerfreien Platte ist der abschließende Bonustrack "Swords Of A Thousand Men", eine Coverversion eines Titels von der britischen Punkband Tenpole Tudor - ein Track, der bestenfalls als billiges Sauflied durchgeht, fatalerweise auch noch als Single ausgekoppelt wurde und auf einer Platte mit derart schlauen Texten völlig deplatziert ist. Als ob man den Besoffskis aus Metalhausen noch irgendwas zum Biertrinken hinschmeißen wollte, weil sie mit dem nachdenklichen Inhalt der übrigens zehn Songs eh überfordert sein werden.

Was sie ja dann auch - Überraschung - tatsächlich waren.

Und die Moral von der Geschicht? Jede Szene bekommt die Bands, die sie verdient. Dann mal weiter viel Spaß mit Sabaton, Leute. And then go fuck yourself.





Das war der letzte Teil der Skyclad-History. Ihr habt's geschafft. Und ich auch.


Erschienen auf Massacre Records, 2000.

08.11.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 8)




SKYCLAD - VINTAGE WHINE


To show compassion makes you weak
so don't dare turn the other cheek
Try hard to hide the fear you feel
with a heart of stone and nerves of steel
A naked-ape in the human zoo
you amaze me with the things you do 
I watch your pride before the falland realise I don t belong at all.

Skyclad hatten immer ein Faible für klanglich - sagen wir mal: originell ausstaffierte Alben und "Vintage Whine" beweist genau das: Zum einen war es nach zwei, drei ruhigeren und überwiegend akustischen Jahren die Rückkehr der Band zu brachialer Härte, zum anderen klang und klingt das achte Studioalbum so ungewöhnlich, dass ich selbst bis heute nicht sagen kann, woran das eigentlich genau liegt. "Vintage Whine" ist sehr räumlich inszeniert, dafür aber vor allem im Rhythmusbereich verwaschen, mit Gitarren, die fast schon zu arg im Vordergrund stehen und demnach alles überrollen, was sich ihnen in den Weg stellt - was auch ein Statement sein kann, wenn man den Schlüssel zu der Rumpelkammer wiedergefunden hat, in der die bratenden Verstärker und die Metalkutten seit einer halben Dekade vor sich hin schimmelten. Insgesamt werde ich das Gefühl nicht los, als wäre "Vintage Whine" überproduziert, obwohl sicherlich das genaue Gegenteil der Fall sein dürfte. Und hat hier eben gerade "Clipping" gesagt?

Tadellos hingegen das Zusammenspiel zwischen Produktion und Songwriting, denn ich wüsste nicht, wann der Fünfer jemals so rauh und wild in Szene gesetzt wurde - selbst in ihren frühen Tagen des Thrash Metals brodelte es nicht so irrsinnig wie auf "Vintage Whine", besonders gut nachzuhören auf rasanten Abfahrten wie "On With Their Heads!" oder "Something To Cling To". Stilistisch hat man sich darüber hinaus auf Albumlänge ein interessantes Plätzchen gesucht, denn auch wenn die bratenden E-Gitarren, der kräftige Punch am Schlagzeug und die rauhe Stimme von Frontzwerg Walkyier zurückkehrten, lassen sich die Songs von "Vintage Whine" mit keiner Bandphase direkt vergleichen. Es ist viel mehr das, was jeder Musikjournalist so gerne herbeischreiben möchte und womit er am Ende glorreich an der Realität scheitert: Skyclad haben tatsächlich alle unterschiedlichen stilistischen Ausprägungen ihrer damals neunjährigen Geschichte zusammengeführt, alle charismatischen Merkmale ihres einzigartigen Sounds zu einem großen Bündel gepackt und dazu einige große Songs mit fantastischen Hooklines geschrieben. "Bury Me", "Cancer Of The Heart", das würmelnde "A Well Beside The River" und die Akustiknummer "No Strings Attached" stehen mittlerweile längst im Klassiker-Kanon.

Die Fans hingegen waren unschlüssig, was sie mit dem Brocken anfangen sollten und näherten sich "Vintage Whine" mit einiger Skepsis. In meiner persönlichen Einschätzung war rückblickend die Zeit für Skyclad strenggenommen schon vorbei, da die Erfolge derweil von anderen Kapellen gefeiert werden konnten: Subway To Sally und In Extremo bildeten die Speerspitze der neuen Folk-Rock/Metal-Bewegung in Deutschland und Europa, während das Original aus Newcastle rechts überholt wurde. Außerdem hatten viele Metalfans die Band nach den beiden fast vollständigen Akustikalben schon abgeschrieben, und die Szene kann bekanntermaßen traditionell sehr unerbittlich sein, verlässt eine Band die "reine Lehre". Skyclads Rückkehr zu ihrer ursprünglichen Version von Heavy Metal wurde schlimmstenfalls mit dem zwar angesichts der (un)kommerziellen Realität völlig absurden, aber sich dennoch hartnäckig in den Frontlappen stockkonservativer Metaller eingenisteten Gedanken quittiert, die Band habe mit ihrem Folksound eben keinen Erfolg mehr gehabt und kehre nun, für immer als "Wendehälse" gebrandmarkt, reu- und demütig in den metallischen Heimathafen zurück, damit der neue Geldspeicher eben doch noch gebaut werden kann.

Damit ist die Glaubwürdigkeit einer Band am sprichwörtlichen Arsch aufgehängt, und wenn es mal soweit ist: werde Bäcker. 





Erschienen auf Massacre Records, 1999. 


Anmerkung: Formatierungsoptionen  von Blogger schlimmer als Hitler. 300 Puls. 

07.11.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 7)




SKYCLAD - THE ANSWER MACHINE?


Rich and poor divide the classes, instigate two types of law
Making nineteen nineties Heaven feel like 1984
Your finger on the trigger of a 12-bore in the dark
When justice knocks upon your door
Send for the Eirenarch, send for the Eirenarch


Die mit "Irrational Anthems" begonnene und auf dem reinen Akustikalbum "Oui Avant-Garde À Chance" (Wortspiel revisited: "We haven't got a chance") fortgesetzte Entwicklung, den Metal mehr und mehr gegen Elemente des Folk auszutauschen, wird auf dem siebten Studioalbum abgeschlossen und gleichzeitig perfektioniert. "The Answer Machine?" ist ein Meisterwerk der neunziger Jahre mit der ungeschlagenen Atmosphäre eines Waldspaziergang in der Herbstdämmerung nach drei Tagen Regenwetter: es duftet nach nassem, modrigem Waldboden, das Laub raschelt unter den Füßen, es ist leicht grau-neblig, unberührt, ruhig und ein Zwergendorf weiter spielt die Band der Hobbits auf Banjos, Mandolinen, Flöten und Akkordeons. 

Skyclad haben hier einige ihrer beeindruckendsten Momente mit unsterblichen Melodien versehen und Songs für die Ewigkeit geschrieben. Ganz besonders muss mein Lieblingslied "Single Phial" heraus gehoben werden: ein ruhiges, melancholisches und inspirierendes Stück voller Wärme und Sehnsucht. 

"The Answer Machine?" wurde vor einigen Jahren sogar von intellektuellen Schriftstellerinnen aus Augsburg goutiert und als tolle Herbstmusik gefeiert. Der Beweis dafür wird mittlerweile aus den Weiten des Internets entfernt worden sein, und lesen wird sie das hier aller Voraussicht nach ebenso wenig - falls aber doch: ich bin bereit für die Unterlassungserklärung. 

"The Answer Machine?" ist das ungewöhnlichste, aber in meinem Buch auch das beste Album der Band. Seit 1997 unantastbar. 





Erschienen auf Massacre Records, 1997.


01.11.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 6)




SKYCLAD - IRRATIONAL ANTHEMS

I'm a founding member of the Pessimist Society, 
I talk to my reflection 'cause I trust it not to lie to me.

Nachdem der Fünfer kurzfristig Black Sabbath auf deren "Forbidden"-Tour in England als Support begleitete, erschien Skyclads erfolgreichstes Album "Irrational Anthems" im Mai 1996 und schlug plötzlich ein wie die vielzitierte Bombe. Vor allem deutsche Metalmagazine überschlugen sich mit Lobeshymnen, weshalb als Folge erstmals ein größerer Teil der hiesigen Metalszene auf das Quintett aufmerksam wurde. Auch in Griechenland wurde mit "Irrational Anthems" ordentlich abgeräumt. Der mit einem frischen Führerschein ausgestattete Herr Dreikommaviernull war der Band spätestens hier hoffnungslos verfallen und  fuhr verbotenerweise nach den abendlichen Kneipenabenden mit Freunden noch ziellos, dafür mit heruntergelassenen Hosen Fenstern im schreiend orange lackierten Opel Corsa (aka "Das Spaßmobil") für Stunden durch Frankfurt, um diese neuen Hymnen in voller Lautstärke zu genießen. 

Der Metal-Anteil wurde im Vergleich mit den Vorgängern durchaus signifikant zurückgefahren, was sich in erster Linie am transparenteren Klang zeigte, der die Gitarren bei Weitem nicht mehr so präsent, und dafür das Schlagzeug tatsächlich folkiger und luftiger darstellte. Das Songwriting ließ derweil erste Schlüsse auf die künftige Entwicklung der Band zu: "Penny Dreadful" ist ein reinrassiger und eingängig arrangierter Folk-Song mit einprägsamer Melodie und angriffslustigem Text über das Musikgeschäft:

Forgive me if I'm out of order
This new music has no soul
It may be good for making money
Sadly that is not my goal

Integrity and honesty
Are words that you don't understand
But you're the best
It says so in the Penny Dreadful in your hand

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong

"Oh, if we'd played this riff more punk
Than may be we'd have had a million-seller"
But this piper's tune is not for sale
I'm glad to say I'm not that kind of fella

DJ's, VJ's, pimps and trollops
Never mind music, this is bollocks

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong

Turn on! Tune up!
Cash in! Sell out!

Stand your ground behind the times
And refuse to follow fashion
Write your poetry with anger
And then sing it with a passion

Painted faces in a circus
Images that spring to mind,
When I read my Penny Dreadful
Filled with pictures of your kind

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong

Commercial suicide's appealing
After 10 years on this losing streak
'cause I'd rather be called sour and bitter
Than be deemed the flavour of the week

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong

Extra, extra, read all about it!

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong




Hinzu kamen mit "The Spiral Staircase" ein ruhiges Geigen-Intermezzo und mit "No Deposit, No Return" ein relaxt swingendes Folkstück, bei dem Sänger Walkyier seine oftmals gepresst und unwirsch klingende Metalstimme gegen einen Klargesang eintauschte. Nicht zu vergessen das mittlerweile zur Tradition gewordene, ruhige, dafür sehr intensive Abschlussstück eines Skyclad-Albums: dieses Mal schnürt es einen bei "Quantity Time" die Kehle zu. 

"Irrational Anthems" ist bei Licht betrachtet ein fantastisches Album einer mit tollen Ideen vollgestopften Band auf ihrem kreativen Zenit und hat nach fast 20 Jahren eigentlich nur den Makel, dass es als einziges Skyclad-Album in meinem Buch nicht so irre gut gealtert ist. Ich kann den Finger nicht genau auf den Grund der Wunde legen - vielleicht habe ich es damals auch einfach nur zu oft und damit überhört, oder aber es steht in meinem Kopf sehr abgegrenzt für einen ganz bestimmten Abschnitt meines Lebens, der gleichfalls von meinem Restleben sehr stark abgegrenzt ist und der "Irrational Anthems" in dieser Hinsicht schlicht mitschleift. 

Ich lege das Album heutzutage praktisch nicht mehr auf. Wenn ich es aber tue, so wie für diesen Text, finde ich praktisch keine Schwachstelle. 

Erschienen auf Massacre Records, 1996.