JASON COLLETT - HEAD FULL OF WONDER
"You've got to kick at the darkness until it bleeds daylight" (Bruce Cockburn)
Zur besseren Einordnung reisen wir fix ins Jahr 2002 zurück, fucking hell: zweiundzwanzig Jahre! Florian öffnet die Metalrübe, holt tief Luft und taucht ins indierockige Kanada ein. "You Forgot It In People" des Kollektivs Broken Social Scene aus Toronto überrollt mich emotional und entzündet ein Freudenfeuer in meiner linken Herzkammer; ich bin hin und weg. Drei Jahre später erscheint der selbstbetitelte Nachfolger und löst den finalen Flächenbrand aus. Hier gehört Sänger und Gitarrist Jason Collett erstmals zum 17-köpfigen Ensemble. Das Konzert im Frankfurter Mousonturm ist ein verdrogter, psychedelischer Triumphzug, nach dessen Erleben ich mit ins Haar gedrehten Gänseblümchen auf die Straßen meiner Stadt stolpere. Einige Monate später, ich schreibe mittlerweile für das Hamburger Webzine Tinnitus erstmals öffentlich über Musik, kommt Post von Chefredakteur Haiko. Mit dabei im Promostapel: "Idols Of Exile" von Jason Collett. In meiner Rezension schreibe ich:
"Zwischen sprödem Folk und Americana, erfreulich beschwingtem Singer/Songwriter Einfluss und kanadischem Pop pendeln seine Lieder, die Autofahrten auf kerzengeraden Straßen durch die weite, unberührte Natur vertonen. Sonnenuntergang, glühend-roter Horizont. Ein versunkenes Lächeln auf dem Gesicht. Fast schwerelos gleiten "We All Lose One Another" oder "I'll Bring The Sun" durch unsere Körper. Was gäbe man dafür, diese Sternstunden mal im nationalen Dudelfunk zu hören? Zwischen all dem Plastik, all dem Müll, der uns immer noch als der heiße Scheiß "aus den Achtzigern, den Neunzigern und dem größten Rotz von Heute" verkauft wird. Passen würde das ja, so oder so. Warum nicht mal ausnahmsweise einen guten Sommerhit für das Jahr 2006?"
Haiko hat daraufhin Lunte gerochen und schummelt mir einen Interviewtermin mit Jason in den Terminkalender. Es läuft trotz meiner totalen Unerfahrenheit und der deshalb vollen Hose gut. Nach einer Stunde verabschiedet sich Jason mit den Worten "When we're on tour in Germany, come say Hi! I want to meet you!". Im Mai 2006 steht er dann tatsächlich auf der Bühne der Frankfurt Brotfabrik, die Herzallerliebste und ich stehen im Publikum. Ein wunderbares Konzert - und ich habe anschließend Bammel davor, Jason zu nerven und sage natürlich nicht "Hi!". Tragische Doofheit, in einen 1,89m großen Körper gegossen, es ist zum Heulen.
Jedenfalls: in den nächsten Jahren kaufe ich alle seine Platten, und zwar umgehend. Und ich liebe sie alle. Auf diesem Blog zeugt davon immerhin ein Beitrag über "Here's To Being Here" aus dem Jahr 2008. Sein letztes Soloalbum "Song And Dance Man" erschien 2016 und seitdem herrschte komplette Funkstille. Mir glaubt das vermutlich niemand, aber es ist ausnahmsweise mal keine Übertreibung, weil's für die Dramatik so schön passt: ich habe vermutlich bei keinem anderen Musiker so oft versucht herauszufinden, was er/sie treibt, wie bei Jason Collett. Hat er die Musik an den Nagel gehängt? Lebt er mit seiner Familie zurückgezogen auf dem Land? Oder ganz urban, in der Großstadt? A...arbeitet der denn jetzt 9 to 5? In einem Büro? Hoffentlich ist er gesund und es geht ihm gut. Es ist beinahe ausschließlich meinen exzellenten Stalking-Fähigkeiten zu verdanken, dass ich im vergangenen Frühjahr endlich ein paar Antworten erhalte - denn "Head Full Of Wonder" ist aus heiterem Himmel gelandet! Indes: die Platte ist in Deutschland und Europa nicht zu bekommen. Keine Chance, zero. Und dann tat ich das, was ich für gewöhnlich nur bei meinen absoluten Kings mache (und selbst da schmerzt das Bäuchlein), ich bestellte das Album direkt bei Arts & Crafts in Kanada. Versandkosten und Zollgebühren my ass! Da pfeif' ich drauf.
Nach dieser endlos langen Einlaufkurve erlaube ich mir noch ein paar Worte zu "Head Full Of Wonder", denn ich liebe diese Platte. Stilistisch halten sich Jason und seine Mitstreiter Marcus Paquin (Produzent), Schlagzeuger Liam O'Neill (SUUNS), Gitarrist Joe Grass und Bassist Mike O'Brien (Zeus) im weitgehend bekannten Rahmen auf: (Alternative) Folk, Singer/Songwriter und Indiepop, melodisch zu gleichen Teilen in den 1970er Jahren wie im neuen Jahrtausend verwurzelt, dicke Weichzeichner und Schalala-Vibes, Handclaps, Sonne, Wärme, Saxofon, durftendes frisch gemähtes Heu, Kaffee auf der Veranda. Totale fucking Seelenbestrahlung. So ehrlich und aufrichtig wie es albern und naiv ist, lyrisch befreit von jedem Zynismus. Er hätte doch noch das Geschirr abspülen müssen - aber die Sonne hat gescheint und darum hat er lieber diesen Song geschrieben:
Milk and Honey, Honey, Milk And Honey, Honey, Milk And Honey, Honeeeyyyyyy...
"In absorbing the tumult of the times, there's a lot of shit to write through, and the challenge is to get to the other side with something positive to contribute. I let go of some swagger and embraced intimacy and joy and wonder. I hear this in the record and it makes me very happy to have made it.” (Jason Collett)
Und mich erst.
Erschienen auf Arts & Crafts. 2023.
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