ALANIS MORISSETTE - JAGGED LITTLE PILL
"Heute ist nicht die Kriegsgegnerschaft, sondern die Kriegsbefürwortung tonangebend. Wer für den Frieden ist, kann nicht mehr für den Westen und für die Freiheit und was auch immer sein. In nahezu allen politischen Fragen heute gibt es im Großen und Ganzen nur Zustimmung. Und die geht bis zu dem Flügel der Linken oder der Regierung, der alles mitmacht, aber immer mit Bauchschmerzen. Abschiebung und Aufrüstung mit Bauchschmerzen." (Jakob Hayner)
Wenn von einer Platte über 33 Millionen Kopien verkauft werden, darf ruhigen Gewissens von Mainstream geredet werden. Und dem Mainstream gegenüber sollte man stets zumindest skeptisch sein. Der Mainstream ist immer gefährlich, zu groß, zu breit, zu laut, zu überall. Mainstream ist auch immer Propaganda. Immerhin erlaubt es die angewandte Skepsis, auch noch mit zeitlichem Versatz darauf reinfallen zu dürfen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Manchmal ist man vom beliebten Schauspiel-Duo "Dumm und Dümmer" eben der Zweitgenannte und gibt einfach langsam nach, beziehungsweise auf. Schmeißt das Handtuch, umarmt den Drachen.
Denn das ist die Sache: mindestens (!) acht Songs auf "Jagged Little Pill" sind herausragende Hits und gehören in den Kanon der neunziger Jahre wie Parker Lewis, Calvin Kleins "cK One" Werbestrecke und Quarzen im Flugzeug. Und jetzt frage ich Sie: soll die Redaktion von Dreikommaviernull aus Gründen der CrEdIbIlItY etwa darauf verzichten, ein solch wegweisendes Album in die Bestenliste der 1990er Jahre aufzunehmen, weil ein Großteil der 33 Millionen Käufer*innen es zum gemütlichen Sonntagsbrunch mit der auf Sylt kennengelernten Deppenfamilie (Einfamilienhaus, Mercedes SUV, beiger Pullover über die Schultern gelegt) als sanft säuselnde Hintergrundmusik aufgelegt hat?! Oder weil Alanis im Allgemeinen und (der Erfolg von) "Jagged Little Pill" im Besonderen vielleicht dafür verantwortlich gemacht werden könnte, wenn nicht müsste, Sängerinnen wie Katy Perry oder die unvermeidbare Taylor Swift erst möglich gemacht zu haben?! Bevor mir die Fanpost mit den lieblichen Gewaltfantasien ins Haus bombt - ich würde den Teufel tun und letzteres als tatsächliches Argument ins Feld führen: gegen Ende der neunziger Jahre kamen ein paar echte Sackgesichter auf die Idee, ausgerechnet einer Band wie Mudhoney unter die Nasen zu reiben, sie seien Schuld an Creed und Nickelback. Und da fragt man sich, warum Mark Arm immer so schlechte Laune hat.
Jedenfalls: "Jagged Little Pill" bewegt sich in dieser seltsamen Twilight Zone zwischen Pop und Alternative Rock und es braucht nicht viel, um die Vermutung anzustellen, es sei das richtige Album zur richtigen Zeit gewesen. Der in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren gelegte Grundstein für die kulturelle und gesellschaftliche Öffnung, das neue Selbstverständnis der Generation X, so oder so eine Bewegung, die sich mit den Ambivalenzen zwischen Einsamkeit und Autarkie bestens auskannte, und der 1995 beinahe abgeschlossenen Demontage der ersten Grunge-Welle öffnete einer Platte Tür und Tor, die einerseits glatt genug war, um in den Mainstream einzubrechen, andererseits aber sowohl im lyrischen Vortrag über Selbstfindung, weibliche Sexualität und Zorn als auch in der Inszenierung Morissettes als kratzbürstiges Enfant Terrible gerade so viel Edginess versprühte, um die junge Generation anzuzünden. Die Entstehungsgeschichte von "Jagged Little Pill" nimmt exakt diesen Erzählfaden auf und schreibt ihn weiter: Alanis befand sich mit ihrem 1991 veröffentlichten Debutalbum in ihrem Heimatland Kanada schon auf dem Weg zum Star, wurde dann jedoch nach dem sich deutlich schlechter verkaufenden zweiten Album von ihrem Label MCA vor die Tür gesetzt. Nicht zuletzt kamen den Labelbossen Morissettes Ideen zur künstlerischen Selbstbestimmung in die Quere - und die derart von einem gerade mal siebzehnjährigen Mädchen herausgeforderte Männerwelt reagierte so, wie man es von einer von einem gerade mal siebzehnjährigen Mädchen herausgeforderten Männerwelt eben erwartet: "Mädchen, da ist die Tür!"
Über Umwege machte Morissette 1994 Bekanntschaft mit den Produzenten Glen Ballard, mit dem sie die Songs von "Jagged Little Pill" in Rekordzeit entwickelte. Die Regeln: einen Song pro Tag schreiben und aufnehmen, dazu eine strenge "Maximal 2 Takes Only"-Politik. "Ironic", neben des bebenden "You Oughta Know" der größte Hit der Platte, wurde in gerade mal 20 Minuten zusammengepuzzelt. Und noch ein Eckchen wahnsinniger: selbst als die ersten Aufnahmen später im Studio nochmal etwas verfeinert wurden - unter anderem wurden Dave Navarro und Flea eingeladen, um der Leadsingle "You Oughta Know" mehr Alternative-Flair und -Glaubwürdigkeit zu verpassen - entschied sich das Team Morissette/Ballard dazu, die vormals gemachten Demoaufnahmen der Vocals für die Platte zu verwenden. Nicht, dass es im Jahr 2025 wirklich noch auch nur die klitzekleinste Bestätigung für Morissettes außergewöhnliches Gesangstalent benötigen würde, aber ich möchte dennoch einen Blick in das hier verlinkte "Songs That Changed Music" - Video empfehlen, in dessen Verlauf ihre von der Musik isolierte Stimme zu hören ist. Es ist schlicht atemberaubend. Diese Spontanität und Lebendigkeit, aber auch die dadurch entstehende Unvollkommenheit waren, und sind es bis heute, die Schlüssel für den Erfolg von "Jagged Little Pill". Das - und freilich zwölf Songs, die alle als Single funktionieren könnten. Kritiker wie Anthony Fantano äußern sich zwar bisweilen zurückhaltender, weil die Songs abseits der großen Hits das Album nicht tragen könnten, aber ich stimme derlei Einschätzungen nicht zu. Ganz im Gegenteil möchte ich speziell auf "Forgiven" verweisen, den für mich besten Song dieser Platte, mit fünf Minuten Spielzeit vielleicht alleine deshalb nicht unbedingt singletauglich, aber sowohl musikalisch als auch textlich - Katholizismus und die damit vor allem für Frauen verbundenen Schuldgefühle - ein herausragendes Beispiel für einfach brillantes und zeitloses Songwriting. Es ist fast unmöglich, sich der Anziehungskraft von "Jagged Little Pill" zu entziehen, Mainstream hin oder her.
Vinyl und so: der durchschlagende Erfolg des Albums macht es möglich, "Jagged Little Pill" selbst im Jahr 2025 zum kleinen Preis von manchmal sogar unter 20 Euro auf Vinyl erleben zu können. No-Brainer.
Entgegen der gängigen Praxis, an dieser Stelle das ganze Album einzubetten, zeige ich euch dieses Mal lieber das Fernsehdebut von Alanis Morissette in der Late Night Show von David Letterman (übrigens mit Taylor Hawkins am Schlagzeug) aus dem August 1995 mit der Hitsingle "You Oughta Know". Aus Gründen des Wirbelwinds.
Erschienen auf Maverick, 1995.

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