17.04.2018

Neunziger (8)



WHIPLASH - CULT OF ONE


Whiplash standen trotz einiger im Thrash Metal-Untergrund der 1980er Jahre anerkannten Kultalben immer im Schatten von Bands wie Overkill, Nuclear Assault, Forbidden oder Exodus - von den "Big 4" (Metallica, Anthrax, Megadeth und Slayer) mal ganz zu schweigen. Allerdings waren vor allem die ersten beiden Werke "Power And Pain" und "Ticket To Mayhem" auch bedeutend chaotischer und rauher als die Musik der erwähnten Konkurrenz und daher ganz bestimmt nichts für ungeübte Ohren. Ich würde die Kapelle aus New Jersey womöglich im hinteren Teil der dritten Reihe der Thrashbands einsortieren, nicht zuletzt auch vom leichten Stilwechsel für ihr drittes Album "Insult To Injury" beeinflusst; einer Platte, auf der sich Whiplash in erster Linie wegen des Sängerwechsels (Glenn Hansen nahm Tony Portaro das Mikro, nicht aber die Gitarre ab) etwas kontrollierter zeigten, aber auch auf die Veränderungen im Thrash Metal zur damaligen Zeit reagierten, das Tempo drosselten und die zuvor gepflegten Ecken und Kanten von einer professionelleren Produktion abschleifen ließen. Nicht alle früheren Fans folgten der Band auf ihrem Weg, und so erging es Whiplash wie so vielen anderen der damaligen Zeit: zunächst überollte die kreative Müdigkeit und später die Grunge- und Alternative-Welle die allermeisten Speed und Thrash Metal Bands, die Anfang der 90er Jahre weder wussten, wer sie eigentlich waren, noch wer sie sein sollten und wollten. Diese Entwicklung wurde nicht zuletzt von der Entscheidung des ehemaligen Szene-Zugpferds Metallica in Gang gesetzt, dem Thrash mit ihrem schwarzen Album endgültig Adieu zu sagen. Keine andere Band aus dem Underground hatte die Kapazitäten und Ressourcen, dieses kreative Vakuum zu füllen. Whiplash konnten es ebenfalls nicht - und lösten sich auf. 

Es brauchte schon den Erfolg von Bands wie Pantera ("Vulgar Display Of Power", 1992) Biohazard ("Urban Discipline", 1992), Sepultura ("Chaos A.D.", 1993) und Machine Head ("Burn My Eyes", 1994), um harter Musik wieder eine Richtung zu geben. Mit klassischem Thrash Metal hatte all das freilich alles nichts mehr zu tun, stattdessen wurde der Einfluss des Hardcore stetig größer und trieb so maßgeblich die sehr populäre Crossover-Bewegung voran. Zu einem Zwischenwesen entwickelte sich ab etwa 1993 das Untergenre "Groove Metal" mit seinem im Vergleich zur Thrash-Ursuppe modernen und monotonen Gitarrenspiel, der Betonung auf eingängigen Grooves als Ersatz für Geschwindigkeit und Sängern die sich zwischen unmelodischem Shouting  und tatsächlichem Gesang nie so recht entscheiden konnten - als Beispiele seien die damals durchaus erfolgreichen Grip Inc. (mit ex-Slayer-Drummer Dave Lombardo und ex-Despair Gitarrist Waldemar Sorychta), Prong oder auch die dem Death Metal entkommenen Massacra mit dem 1994er Album "Sick", Morgoth ("Odium", 1993) und Fear Factory genannt. Auch Forbiddens "Distortion" und Flotsam & Jetsams "Drift" ließen Parallelen zum Groove Metal erkennen, hier allerdings und in erster Linie wegen der grandiosen Vocals von Russ Anderson und Erik AK mit stärkerer Verwurzelung im klassischen Sound. Die Belgier von Channel Zero, ehemals als klassische Thrashband gestartet, schwenkten ab 1993/1994 ebenfalls um und motteten den auf dem Debut in beeindruckender Manier dargebotenen Speed/Thrash Metal für die kommenden Alben ab "Stigmatized For Life" (1993) und "Unsafe" (1994) ein. Nachzügler der Groove Metal-Bewegung waren beispielsweise die Briten von Dearly Beheaded ("Temptation", 1996).

An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, näher auf "Cult Of One" einzugehen. Whiplash fanden sich Mitte der neunziger Jahre mit verändertem Line-Up wieder zusammen und veröffentlichten 1996 ihr neues Album auf dem deutschen Label Massacre Records, die damals mit den Spudmonsters, Skyclad, Atrocity und den damals wie heute durch und durch unerträglichen Crematory zumindest kommerziell ein paar ziemlich heiße Eisen im Feuer hatten und darüber hinaus das oben erwähnte "Distortion" in Amerika veröffentlichten. Die sich anschließende Europatournee im Vorprogramm von den in Deutschland gerade leicht durchstartenden Folk Metallern von Skyclad war meine erste zumindest livehaftige Begegnung mit den New Yorkern - und offensichtlich hinterließ die Truppe einen so guten Eindruck bei mir, dass ich mir "Cult Of One" zu Hause ins Regal stellte. Die CD ist im Zuge meines 2009 durchgeführten Ausverkaufs natürlich längst nicht mehr im Casa Dreikommaviernull zu finden, aber wozu sonst gibt es Youtube? Mir fiel auf, dass ich von Zeit zu Zeit, aber immerhin regelmäßig über die letzten Monate, immer wieder zu "Cult Of One" zurückkehrte, und während ich mich noch fragte, ob die vermaledeite Nostalgie mich jetzt sogar schon in die qualitativ hinteren Reihen schickt, sah ich mich schon die Blog-Recherche am Computer starten. Es ist ja nicht so, als hätte ich 1996 vor Begeisterung über "Cult Of One" meinen Verstand verloren. 

"Cult Of One" ist ein heute längst vergessenes Album und das hat mehrere Gründe. Whiplash stammten wie beschrieben aus dem Thrash-Pleistozän mit entsprechendem Image und waren wegen der zwischenzeitlichen Auflösung zwischen 1990 und 1996 unsichtbar. Spätestens als "Heavy Metal" ab dem Alternative/Crossover-Boom zum Schimpfwort mutierte, hatte die ohnehin schon früher nicht gerade als cool geltende Band bei den neuen, jungen Fans keine Chance mehr. Die verbliebenen alten Fans hingegen fragten sich angesichts des neuerlich veränderten und also modernisierten Sounds auf "Cult Of One" nicht nur, was das denn nun schon wieder soll, sie vermuteten außerdem Trendreiterei und Opportunismus - in der Metalszene der neunziger Jahre praktisch der Todesstoß für jede Band, die sich durch die Veränderung nicht in den Mainstream retten konnte. Das kennt man heute gar nicht mehr, aber ist's wirklich überraschend, wenn zeitgenössische Bands jede Form der Veränderung meiden wie AFD-Wähler ihr Kleinhirn und aus Angst vor wirtschaftlichem Totalschaden gar nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr riskieren wollen und können? "Cult Of One" ist heute musica non grata in Whiplashs Diskografie - ein Malheur, das die Band erst mit dem programmatisch betitelten "Thrashback" aus dem Jahr 1998 und mit der Rückkehr zum klassischen Trio-Line-Up wieder beheben konnte. Daher kommt es vermutlich auch, dass "Cult Of One" längst aus den Presswerken verbannt und aus den Katalogen gestrichen wurde. Ein Rerelease, vielleicht sogar auf Vinyl, ist trotz eines eigentlich dafür prädestinierten Labels wie Night of The Vinyl Dead derzeit leider nicht ins Sicht. Dass der hier präsentierte Sound im Jahr 2018 natürlich so mausetot ist wie kaum ein anderes Genre aus den letzten 20 Jahren, sollte an dieser Stelle nicht vergessen werden; damit lockt man wohl wirklich allerhöchstens noch ein paar nostalgische Ü40-Metaller wie meinereiner hinter dem Ofen hervor, die trotz entsprechender Sozialisation in den neunziger Jahren weder auf Trendreiterei noch auf Image irgendeinen Fick geben. 

So lassen sich auf "Cult Of One" für meinen Geschmack einige ganz großartige Songs und Riffs finden und es macht mir trotz des überaus düsteren Untertons und der zwischen Wut und Melancholie hin und her pendelden Atmosphäre großen Spaß, diese Platte zu hören. Neu-Sänger Rob Gonzo hat sowohl Phil Anselmo als auch James Hetfield im Skill-Köcher und macht es mit der Mischung aus Monotonie und Melodie selbst in meinen, was Sängerqualitäten betrifft, überkritischen Ohren ganz gut. Musikalisch wirken die Ideen der nunmehr zum Quintett angewachsenen Truppe folgerichtig wie ein Zwitter aus den groovigen Momenten von Metallica zu Zeiten des schwarzen Albums und locker eischneegebremsten Pantera aus der "Cowboys From Hell"/"Vulgar Display Of Power"-Ära ohne jemals deren Energielevel zu erreichen. Vielleicht war hier mehr Weed im Spiel. Die Kompositionen bewegen sich meist im etwas gehobenen Midtempo, weisen wie im coolen, achteinhalb Minuten dauernden Titelsong oder im abschließenden "Apostle Of Truth" gar progressive Arrangements auf, und spielen auch wegen den eingesetzten Akustikgitarren und Keyboards nebst den clever eingehäkelten doomigen Riffs wie in "1000 Times" mit unterschiedlichen Stimmungen und Gefühlslagen. 

Herausragend: Der Opener "Such Is The Will", der Monstergroover "No One's Idol" und die epischen "Cult Of One" und "Heavenaut". Im Grunde gibt es mit dem Instrumental "Lost World" nur einen wirklich Totalausfall. Ob das mit einer zentimeterdicken Patina überzogene Werk heute wirklich noch einen meiner Leser zu überzeugen vermag, darf mit Recht bezweifelt werden. Andererseits bleibt die Aussicht, ein wie ich finde aus den falschen Gründen ignoriertes und daher unterbewertetes, heute vergessenes Werk zu entdecken. Man kann es mit Mittneunziger-Metal nun wirklich bedeutend schlechter treffen. 




Erschienen auf Massacra Records, 1996.

08.04.2018

Best Of 2017 ° Platz 1: Lav & Purl - A State Of Becoming



Platz 1: LAV & PURL - A STATE OF BECOMING


“When we bring our full attention to the act of listening, new worlds emerge that we wouldn’t even notice if we were just passing by, distracted by thoughts”
— Lav & Purl


Ich bin ab der ersten Sekunde gefangen. Hier ist etwas, was mich dazu zwingt, alle Betätigungen des normalen Lebens, die zur Erhaltung desselben mal ausgenommen, umgehend einzustellen und zuzuhören. Ich höre seit Monaten zu, jedes Mal aufs Neue - und jedes Mal, als wäre es auch das erste Mal.

Nicht zum ersten Mal schreibe ich indes über jene Momente, die auch für einen passionierten Musikhörer und umtriebigen -sammler selten sind, die dann andererseits den Grund dafür liefern, warum ich mich jeden Monat stundenlang in virtuellen Plattenläden aufhalte; klickend, hörend, suchend, sortierend, fast schon manisch. Weil es da etwas geben muss, was auch heute noch jene Freude und jene lebensverändernde Begeisterung in mir auslöst, wie es meine großen musikalischen Meilensteine in den letzten 30 Jahren taten. Ich wollte nie zu denen gehören, die Bereicherung ausschließlich im Gewesenen finden. Wo sich mein heutiges Leben in erster Linie in sicheren Bahnen zwischen Familie, Lohnarbeit, Volkswagen und Rewe City abspielt und aufgrund charakterlicher Unzulänglichkeiten doch auch bitte genau dort abspielen muss, ist mir dieses Konzept bei Musik fremd. Da gibt es auf den ersten Blick außer ein paar Euros auch nichts zu verlieren - vielleicht noch den Glauben, aber den habe ich, von offizieller Seite bestätigt, bereits vor 15 Jahren an der Gaderobe abgegeben und seitdem nicht wieder abgeholt. Auf den zweiten Blick jedoch würde ich nichts weniger als mein Leben verlieren, und damit immerhin eines, das ich mir vor ebenfalls 15 Jahren mit harter Arbeit wieder zurückerkämpfen musste. Denn das habe ich mir verdient: das Privileg, die Neugier, die Inspiration und die Spannung immer wieder mit neuer, niemals zuvor dagewesener Musik füttern zu dürfen. Im Grunde ist das jedes Mal das Feiern des Lebens.

"A State Of Becoming" ist die Belohnung für all das - auf jeder Ebene. Die Musik der beiden schwedischen Produzenten Christopher Landin (Lav) und Ludvig Cebrelius (Purl), eine betörende Mischung aus Lavs in Griechenland aufgenommenen Fieldrecordings - Vogelgezwitscher, fließendem Wasser, Bienensummen, durch Bäume rauschender Wind - und Purls Pianoimprovisationen, tiefem, dubbigen Bass und weichen Ambientflächen ist das eine tolle, großartige, lebensbereichernde. Ihre Musik strahlt sowohl die Energie eines neuen Tages mit seinem sanften, euphorischen Hauch des Glücks aus, als auch die besänftigende Ruhe der Dämmerung, der Nachhall eines warmen Sommertages in der Natur - zu gleichen Teilen Beruhigung und Einkehr wie auch Fokussierung und Antrieb.





Das andere tolle, großartige, lebensbereichernde, ist das umwerfende Artwork von Noah MacDonald. MacDonald hat den Spirit dieser Musik, eine tiefgehende, spirituelle Verbindung zur Natur nebst beinahe überschäumender Lebensfreude, eingefangen und seine Kunst nicht nur auf dem Albumcover platziert, sondern auch über die Innenseite des Gatefoldcovers ausgebreitet und sie damit dem Fluss der Musik angepasst. Zusammen mit den in altrosa gehaltenen Schallplatten, ist "A State Of Becoming" in der gesamten Komposition ein einmaliges Kunstwerk und vielleicht das beeindruckendste Stück meiner Sammlung. Jedes noch so kleines Teilchen dieser Produktion ist durchdacht, jedes bildformende Mosaik ist wichtig, jeder Ton scheint wie selbstverständlich mit der eigenen Umwelt zu verschmelzen.




In der hier demonstrierten stilistischen Kohärenz ist das mehr als nur eine Schallplatte. "A State Of Becoming" ist das schönste Innehalten, die schönste Reflektion, die schönste Inspiration, das schönste Leben.





Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2017.

02.04.2018

Best of 2017 ° Platz 2: The Afghan Whigs - In Spades




Platz 2: THE AFGHAN WHIGS - IN SPADES


Die Überraschung des Jahres - und das ist fast noch eine Untertreibung. Hätte man mir vor zwölf Monaten erzählt, die neue Platte der Afghan Whigs würde in meiner Jahresbestenliste auf dem zweiten Platz landen, hätte ich vermutlich den Notzarzt gerufen und die ersten Anzeichen für Schlaganfallsymptome (blaues Auge, gebrochene Rippe) abgefragt. Tatsächlich habe ich vor einem Jahr nicht mal daran gedacht, "In Spades" überhaupt nur zu hören. Nach kurzem Check des Comebackalbums "Do To The Beast" aus dem Jahr 2014 gab ich keinen Pfifferling mehr auf die Truppe, die mit "Congregation", "Gentlemen" und "1965" immerhin drei echte Klassiker der neunziger Jahre veröffentlichte und mit ihrem souligen (Alternative) Rock zwischen Sex, Hedonismus und emotionaler Agonie zu einer echten Ausnahmeband heranreifte. Die Leidenschaft in ihrer Musik war verschwunden, die Whigs klangen alt und müde. Ein Konzert im Juni 2017 veränderte dahingehend aber ziemlich viel - wenn nicht gar alles. 

Es sollte unser erstes livehaftiges Aufeinandertreffen sein, und weil ich es ja schon mal an anderer Stelle erwähnt habe: ich bin ein loyaler Fan. Davon hat die Band, zumindest in Deutschland, offenbar nicht mehr so viele, denn die Batschkapp war mit maximal 300 Leuten nicht mal zu einem Viertel gefüllt. Ich erinnere mich heute nicht nur an einen wunderbar angenehmen Abend zurück, sondern habe darüber hinaus den vielleicht eindrücklichsten Konzertmoment der letzten 15 Jahre für immer auf meiner Festplatte gespeichert: Whigs-Gitarrist Dave Rosser kämpfte zum Zeitpunkt des Konzerts bereits seit einigen Monaten gegen Darmkrebs und konnte daher nicht an der Tour teilnehmen. Dazu gab es von Sänger Greg Dulli bereits während der Show eine Ansage, jeder Musiker auf der Bühne spiele heute Abend für den im Sterben liegenden Freund - und wenn einem das schon einen Kloß in den Hals zauberte, passierte bei der Bandvorstellung jener Gänsehautmoment, der mich bis heute bei jeder Erinnerung wie ein Blitz durchfährt: die Band spielt "Faded" vom "Black Love" Album, und Dulli nennt gegen Ende des Songs die Namen seiner Mitmusiker. Als Dulli den Namen Dave Rosser mit allem, was seine Lunge, seine Seele und sein Herz noch hergeben, geradezu herausschreit, lässt die Band das ohnehin wild um sich schlagende und seit Minuten auftürmende Crescendo zu einem einzigen Donnerhall werden, zu einem ohrenbetäubenden Schlag. Es war, als würde sich Energiestrahl aus dem Hallendach auf den langen Weg nach New Orleans zu Rossers Krankenbett aufmachen. Ein umwerfender Moment, der mich bis heute beschäftigt. Dave Rosser starb nur wenige Tage nach dem Frankfurt Konzert an seiner Krankheit.

"In Spades" ist ein Juwel des Indie- und Alternativerocks und auch wenn mittlerweile der Sex in ihrer Musik tatsächlich weitgehend fehlt, hat Dulli noch immer alle Fäden zu Deinen Nervenenden in den Händen - und er spielt damit Schnick Schnack Schnuck: In etwas mehr als dreißig Minuten sagt die Band ohne einen fucking einzigen überflüssigen Ton alles, was es für die Generation X im Jahr 2017 zu sagen gibt und deckt dabei jede Schattierung zwischen lebens- bis gefühlsecht ab. Im überragenden Abschlusssong "Into The Floor" schmettern sie im Prinzip alles gegen die Wand, was seit 10 Jahren eine Gitarre in der Hand gehalten hat. 

Die Afghan Whigs sind das, was gemeinhin unter der Bezeichnung "a national treasure" läuft und auch wenn ich nach dem Comeback einige Jahre gebraucht habe, um (wieder) in ihre Arme zu fallen: "In Spades" macht es einem klarer als jemals zuvor. Ich brauche die Whigs. Du brauchst die Whigs. Verfickt noch eins - die ganze verfluchte Welt braucht die Afghan Whigs.




Erschienen auf Sub Pop, 2017.

30.03.2018

Best of 2017 ° Platz 3: Jordan Rakei - Wallflower




Platz 3: JORDAN RAKEI - WALLFLOWER


Im Oktober des letzten Jahres schrub ich an anderer Stelle über "Wallflower", das zweite Album des gebürtigen Australiers Jordan Rakei werde in der Jahresendabrechnung ganz sicher unter den ersten 5 zu finden sein. Nun ist es tatsächlich die Bronzemedaille geworden - und das ist, wie ich mir just in diesem Augenblick nochmal via Endlosschleife auf dem Plattenteller versichern lasse, nicht nur verdient, sondern sogar das untere vorstellbare Limit. Das ist eine sensationell gute Platte. 

Aufmerksam geworden bin ich auf den mittlerweile in London lebenden Multiinstrumentalisten bereits 2016. Das Coverartwork seines "Cloak" Debuts (erschienen auf Soul Has No Tempo), ein kunterbuntes und geheimnisvolles Gemälde von der kuwaitischen Künstlerin Zaina Al Hizami versprach wenigstens Interessantes - und ich sollte nicht enttäuscht werden. "Cloak" ist ein beeindruckendes Debut und zeigt bereits Rakeis Fähigkeit, aus rhytmisch raffinierten Kompositionen eingängige Refrains zu entwickeln. Fatalerweise war und ist die Vinylpressung von "Cloak" eine der furchtbarsten aller Zeiten, und so gab ich nach drei Versuchen (jeweils bei unterschiedlichen Mailorders bestellt) entnervt auf: die erste Lieferung hatte zwei Mal die A/B-Seite in der Hülle stecken, aber keine C/D-Seite - trotz Laminierung! Was zum Fick? Der zweite und dritte Anlauf sollte die negativen Kommentare auf Discogs bestätigen: ein einziges Kratzen, Schleifen und Springen. Ich habe wirklich noch niemals eine derartig miese Pressung gehört, aber das hält natürlich niemanden davon ab, "Cloak" immer noch zum Verkauf anzubieten. Ganz im Gegenteil, denn mittlerweile ist das Vinyl ziemlich rar geworden und kostet eine ordentliche Stange Geld. Augen auf beim Plattenkauf: so toll die Musik auf der Platte auch ist, ist hier ganz sicher ein anderes Format vorzuziehen. 



Die Vinylpressung von "Wallflower" hingegen ist fehlerlos und damit ganz so, wie man es von Ninja Tune erwarten konnte. Rakei ist mittlerweile zum britischen Spezialistenlabel für modernen Eklektizismus gewechselt und das macht Sinn: seine Musik zeigt Einflüsse aus Jazz, Rhythm & Blues, Hip Hop, Electronica, Soul und Reggae, die er hier noch mehr als auf "Cloak" zu einer homogenen, äußerst stimmungsvoll in Szene gesetzten Melange zusammenfügt. "Wallflower" ist nicht nur ernster und dunkler als der Vorgänger, es zeigt auch einen lyrisch deutlich intimere Seite des Musikers, der unglaublicherweise erst 25 Jahre alt ist: Rakei reflektiert in seinen Texten sein Leben als "Outsider" in sozialen, zwischenmenschlichen Situationen, zeigt sich auf "Wallflower" sehr persönlich und und wollte das auch im Coverartwork widerspiegeln: das Bild des kleinen Jungen mit dem überspannten Regenschirm ist der junge Jordan im australischen Brisbane:

"It's an image that's very personal to my family and me. It's a picture of me that used to sit in our house when we were growing up. Visitors would always comment on it. Because the album is so personal, I wanted to make sure I didn't overcomplicate the artwork. I was focused on portraying as much vulnerability as possible, and this photo definitely represents that."

Das fällt bei der Wohngemeinschaft Dreikommaviernull mit seinen ehemaligen Kindern des Grunge natürlich auf offene Herzen und geradewegs in sanft pulsierende Hosen: wir waren beide derart angetan von dem über Wochen auf heavy rotation laufenden "Wallflower", dass wir uns an einem kalten Novemberabend und nach einem wie gemalt maximal abgefuckten Arbeitstag ins 80 Kilometer entfernte Mannheim bewegten, um gemeinsam mit einer überraschend hohen Anzahl Besucher Rakei nebst seiner Liveband auf der Bühne zu bewundern. Wir würden es jederzeit wieder tun. In a heartbeat. 

Ich habe weiter oben von Rakei's "rhythmisch raffinierten Kompositionen" geschrieben und als Paradebeispiel kann, wenn nicht gar: muss "Sorceress" genannt werden; hier in einer leider nicht optimal aufgenommenen Liveversion aus New York. Es ist jedes Mal aufs Neue verwunderlich, wie prima das alles ineinanderfließt - und wie die Band es schafft, dabei nicht komplett auseinanderzufallen:




Und weil die Performance von "Talk To Me" beim letztjährigen North Sea Jazz Festival so umwerfend ist, gibt es das Video noch als extra Zugabe - auch wenn der Song vom Vorgängeralbum "Cloak" stammt. Was für ein Monsterdrummer das ist.



Erschienen auf Ninja Tune, 2017.


25.03.2018

Best of 2017 ° Platz 4: bvdub - Heartless



Platz 4: bvdub - Heartless



Der geneigte Leser weiß, dass ich über keinen anderen Künstler und keine andere Band so häufig geschrieben habe wie über den mittlerweile in Polen lebenden Brock van Wey. Das liegt nicht zwangsläufig nur an der Quantität seines Werks - "Heartless" ist das sage und schreibe 29.Album innerhalb von zehn Jahren - sondern an dem überwältigenden Einfluss seiner Musik auf mein Leben. Neulich, als die Vinylfreaks des Bildchen-Portals Instagram die neun Alben ins rechte Licht setzten, die ihr aller Leben veränderten, und Herr Dreikommaviernull also natürlich mitmachen musste, weil: why not?, da war es selbst für einen, der sich für solche Entscheidungen unter normalen Umständen erst mal ein halbes Jahr mit seiner Excel-Datenbank in einen unterirdisch gelegenen Höllenbunker ohne ausreichende Sauerstoffversorgung quetschen muss, überraschend schnell und streifenfrei klar, dass meine erste Berührung mit seinem Werk, dem 2010 erschienenen "The Art Of Dying Alone" als vorerst letzte musikalische Revolution in die Riege der schlechterdings sogenannten "Gamechanger" aufgenommen werden muss - obwohl dieser zu monumentalen Klanggebirgen aufgeschichtete Ambientsound zur damaligen Zeit zunächst undurchdringbar erschien. Zu sehr versuchte die Ratio zu verstehen, was hier passiert; zu schwer fiel es, sich von diesem Klumpen final wegkegeln zu lassen. Kontrollverlust. Beziehungsweise: die Angst davor. Erst im Laufe der der letzten sieben Jahre ging mir mehr und mehr das Licht auf - ich habe es mehr als nur einmal geschrieben und auch wenn's kitschig und abgehoben und naiv klingt: es ist Liebe. Es ist die reinste, aufrichtigste, ehrlichste, reichste Liebe. Der Kopf hat hier nichts verloren - es ist nur das Herz, das springt, trauert, leidet - und eben liebt. Brock van Wey, der von sich selbst sagt, dass er eigentlich nächtelang ausschließlich Videospiele spielt, wenn er mal gerade keine Musik macht, vertont Liebe. "Heartless", die erste Albumveröffentlichung Brocks auf Vinyl unter seinem bvdub Alias, steht in einer Reihe mit seinen großen Klassikern "Home", "The Art Of Dying Alone" und "Safety In A Number". Ein einziger Rausch.





Erschienen auf n5MD, 2017.

17.03.2018

Best of 2017 ° Platz 5: Tara Jane O'Neil - Tara Jane O'Neil



Platz 5 - TARA JANE O'NEIL - TARA JANE O'NEIL


Im Dezember 2016 schrieb ich über das zwei Jahre zuvor erschienene Album der US-amerikanischen Multinstrumentalistin Tara Jane O'Neil, "Where Shine New Lights" sei "möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz." Auf ihrem aktuellen, selbstbetitelten Album hat O'Neil die offensichtlichsten Experimente im Gitarrenkoffer gelassen und dem Singer/Songwriter in ihr die Oberhand gewinnen lassen. Das Ergebnis ist von beinahe so blendender Schönheit wie die Sonnenreflektion auf dem wunderbaren Coverartwork; eine betörend warmherzige Musik, der es trotz der im Vergleich zu früheren Arbeiten deutlich abgerundeten Ecken und Kanten erstaunlicherweise nicht an Tiefgang fehlt. Das liegt zum einen an den subtil im Sound versteckten Details, die Dank der durchaus großformatig inszenierten Produktion durchgängig wahrnehmbar sind, ein tiefes, sonores Brummen als Mutterboden für ihre sowohl perlenden als auch dürren Haarliniengitarren, das Zischeln der Becken, ihre zu Liedtexten transformierten Gedichte und die im Vordergrund stehende, glasklare Stimme. Das Schnarren der Gitarrensaiten - man meint manchmal gar, die Innenseite der akustischen Gitarre spüren, sehen, hören zu können. Zum anderen ist O'Neils Ansatz, und darauf legt die Künstlerin wert, nicht besonders konventionell zu nennen. Ihr Ziel ist es nicht, everybody's darling zu sein, ihre Akkordfolgen und Arrangements sind ungewöhnlich und bisweilen spröde - und trotzdem spielt diese Musik nicht in der Liga von Lo-Fi-Schlafzimmerproduktionen. Es ist ein Album des Reichtums der kalifornischen Sonne und des dazu passenden Lebensgefühls, heruntergekocht auf die erste Tasse Kaffee des Tages an einem friedlichen Frühlingsmorgen.  




Erschienen auf Gnomonsong, 2017.

10.03.2018

Best Of 2017 ° Platz 6: Slowdive - Slowdive



Platz 6: SLOWDIVE - SLOWDIVE


Ich hatte es an anderer Stelle bereits erwähnt: meine Beziehung zu Slowdives Comebackalbum sollte sehr persönlich und besonders werden. Denn als im Mai des vergangenen Jahres Chris Cornell starb, und sowohl ich als auch die Herzallerliebste über Wochen und gar Monate hinweg praktisch am Boden zerstört waren, lieferte "Slowdive" den Soundtrack zum Trauern - und zwar so ausgeprägt und nachhaltig, dass es für gleich ein paar Wochen nicht in Frage kam, diese Platte vom Plattenteller zu lösen. Sie schien wie festgeschweißt. Ich hätte keine andere Musik ertragen können. Mir ist darüber hinaus sowieso nichts bekannt, was diese spezielle Mischung ihres einzigartigen Sounds - eine sowohl melodisch als auch atmosphärisch kitschfreie Sicht auf Leben und Liebe mit zahlreich eingeflochtenen Extra-, Meta-, Superduper-, Obendrunter-Ebenen der prachtvollsten und reichsten Melancholie, die die Welt seit Marsilio Ficino jemals vertont gehört hat - selbst in einer weniger anspruchsvollen Vollendung kopieren könnte. Das ist alles lebensechte schwarze Galle mit darin schwimmenden Regenbogenschleifchenbooten. Vor allem erscheint es aber so plastisch und einfach zu verstehen: Das Licht und der Schatten. Die Umarmung und das Abwenden. Die Struktur und das Chaos. Das Leben und der Tod. Und da ist sie wieder, die niemals alt werdende Idee: die Suche zum Mittelpunkt des Lebens, des Guten, des Schönen. Im vorliegenden Fall gemeinsam mit dem Eindruck, den Weg zum Ziel wieder ein Stückchen abkürzen zu können. "Slowdive" hat mich tatsächlich getröstet. Nicht mit Thoughts and Prayers, nicht mit einem Lolli, nicht mit Schnaps. 

"Slowdive" hat mir einen Teil des Lebens erklärt. 

Pathos Olé!




Erschienen auf Dead Oceans, 2017.

04.03.2018

Best of 2017 ° Platz 7: Shuta Yasukochi - Short Stories




Platz 7: SHUTA YASUKOCHI - SHORT STORIES


Der Titel "Spätzünder des Jahres" geht an "Short Stories" des japanischen Künstlers Shuta Yasukochi - und da soll mir nochmal jemand sagen, das ganze Ambient-"Gschwerrl" (Polt) sei beliebig untereinander austauschbar. Für gut zwei Monate war mir außer einem gut gemeinten Achselzucken nicht viel zu entlocken, bis sich ganz allmählich der Wind drehte und die Zeit plötzlich stillzustehen schien. Verantwortlich dafür sind in erster Linie zwei Tracks, die sanft-schimmernde Klangflächen mit der bildhaften Idylle eines neu anbrechenden Tages voller Hoffnung meisterhaft miteinander verbinden und mit ihrem Fluss im Albumkontext das Kernstück von "Short Stories" bilden: "Izukohe" und vor allem "Daylight" knipsen das Licht auch in der der trübsten Birne an. Und plötzlich glimmte auch mein Glühwürmchen (Euphemismus!): seit Juli 2017 befindet sich diese Platte in meinem CD-Wechsler und versüßte mir und der Herzallerliebsten somit den ein oder anderen Morgen zur ersten Tasse Kaffee des Tages. Sie ist bis heute der Rückzugsort der Stille und des Friedens, interessanterweise wahrnehmbar selbst in einer Lautstärke, die nur wenig mehr als Hintergrundrauschen ist. Lautlose Präsenz. Subtile Einkehr. Ein beeindruckendes und kerzengerade in das sowohl qualitative als auch stilistische Raster von Archives passendes Debut. 




Erschienen auf Archives, 2017.

28.02.2018

Best of 2017 ° Platz 8: Broken Social Scene - Hug Of Thunder



BROKEN SOCIAL SCENE - HUG OF THUNDER


Es folgt: Jammerlappenprosa. 

Eine jener Platten, für die man traurig darüber ist, nicht mehr in seinen Zwanzigern zu sein. Als ich im herbstigen Teil des Jahres 2004 zum ersten Mal "You Forgot It In People" hörte, hatte es signifikanten Einfluss auf mein Lebensgefühl, dort in der urbanen Stadtmitte Wiesbadens und in den Wochenendparties im Club. Als alles Wattemusik, Streifenlabbershirt und ja auch nach all den enttäuschenden Jahren in Blut, Tod und Teufel irgendwie Aufbruch war, mit England und Kanada sowieso. Da gingen Broken Social Scene offensichtlich tiefer, als ich es damals hätte glauben können. Aus der Entfernung von 14 Jahren erscheint das beinahe unwirklich, weil seitdem so viel passiert ist. Manchmal erkenne ich schließlich mein vor drei Monaten gelebtes Leben kaum mehr wieder - und was da gerade nach Koketterie klingt, ist leider viel näher an der Wahrheit, als es mir selbst lieb ist, es zuzugeben. 

Aber ist denn wirklich immer alles nur Romantik? Immer alles nur öde Nostalgie? Die man bei genauerem Hinsehen dann meistens doch als ziemlich traurige Realität eines weniger guten, dafür aber früheren Daseins enttarnen muss? "Hug Of Thunder" ist ein waschechtes Comebackalbum nach sechs Jahren Pause und holt mir satte 14 Jahre Lebenserinnerung in die Gegenwart zurück. Es kribbelt. Fuck it, das ist nicht alles Romantik - das war doch echt! Was auch sonst, wie kann ein Leben nicht echt sein? Keine Traurigkeit, weil man keine 20 mehr ist. Viel mehr Freude darüber, selbst mit den mittlerweile 40 Jahren auf dem rostigen Buckel und darüber hinaus zwischen gefräßiger Lohnarbeit, Leasingfahrzeug und Low-Carb-Diät und im Strudel des Irrsinns liebevoll um sich schlagend, von Musik immer noch derart berührt zu werden. Das sind diese strahlenden Momente, in denen mir klar wird: Zyniker haben so ganz allmählich keine Freude mehr mit mir.




Erschienen auf City Slang, 2017.

23.02.2018

Best Of 2017 ° Platz 9: Richard Edwards - Lemon Cotton Candy Sunset



Platz 9 - RICHARD EDWARDS - LEMON COTTON CANDY SUNSET


Und dann fühlte ich mich schlecht. Weil da einer über sein am seidenen Faden hängendes Leben singt, darüber wie alles zusammen zu brechen schien: die Ehefrau weg, das gemeinsame Haus weg, das gemeinsame Kind weg. Über eine rätselhafte Krankheit, die ihm in praktisch nullkommanix 25 Kilo Körpergewicht raubte. Darüber, dass er Schmerzmittel futtert wie andere Leute Pommes. Und trotzdem auf Tour geht, wegen der Schmerzen 23 Stunden in Embryonalstellung verbringt und sich für die eine Stunde auf der Bühne mit allem, was er hat, zusammenreißt. Und der germanische  Sesselpupser, der auf "Lemon Cotton Candy Sunset" zunächst und in erster Linie wegen des ikonischen Covers und wegen der beiden unterschiedlich eingefärbten Schallplatten auf dieses Doppelalbum aufmerksam wird, hört eine romantische, melancholische, eingängige und mit bittersüßen Melodien verzierte Musik, die einen kalifornischen oder eben Sossenheimer Sonnenuntergang begleiten kann - wenn nicht muss. Dabei ist das hier die vertonte Agonie. Hoffnungslosigkeit. Das Ende ist nah. Die Krankheit wird nach Monaten als die gefährliche Darmerkrankung Clostridium difficile diagnostiziert, zu einem Zeitpunkt, an dem Edwards' schon beinahe dem Tod geweiht ist. Und er entscheidet sich dazu, darüber zu singen. Eine berührende, persönliche Musik, die die Wiederauferstehung ihres Schöpfers, als auch, in der Essenz, das Leben feiert. 




Richard talking about the creation of this song:
"I wrote this song when I was really, really sick in the gut," says Edwards. "I had come to believe that being sick made me a bad person. I could feel relationships in my life suffering, but it was hard to do much about it when I was suffering to the extent that I was physically. I used to sit in my office and listen to 'Texas Girl at the Funeral of Her Father' over and over at night and feel really hopeless. It was a hard time. But my little daughter kept treating me the same, not looking at me like I was sick, and she got me through it, I s'pose. She wanted to sing on the record and this song felt like the place. She howls all through the bridge. So that's, quite obviously, my favorite part."


Erschienen auf Joyful Noise, 2017.

11.02.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 12 bis 10



Platz 12 - THOMAS DYBDAHL - THE GREAT PLAINS


Monsieur Etten nannte den in seinem Heimatland Norwegen hart am Superstar-Status kratzenden Thomas Dybdahl mal im Rahmen seiner ersten beiden Alben "That Great October Sound" und "Stray Cats" den "Styler unter den Singer/Songwritern" und traf damit den Nagel auf den Kopf. Mittlerweile hat sich ländliche Idylle und eine Art von Kammermusik stärker als zuletzt in seine Songs eingewebt, allerdings nicht ohne eine bisweilen durchaus bemerkenswerte Portion Psychedelica-Pop einzubauen. Die von seiner Musik geschaffenen Bilder erscheinen dadurch oft verschwommen, träumerisch und apart. "The Great Plains" überrascht darüber hinaus mit einigen sehr offenen und luftigen Pop-Arrangements mit erstaunlichem Tiefgang, die nicht selten, wie im Falle von "No Turning Back", mit einem herzhaften Biss ins Fliegenpilzbaguette gebrochen werden. Zu gleichen Teilen einfühlsam und kraftvoll bewegen sich Dybdahl nebst seiner Begleitmusiker durch eine purpur schimmernde und intime Platte, die man am besten zu Kerzenschein in den Nachtstunden genießt. 




Erschienen auf V2, 2017.










Platz 11 - PROPAGANDHI - VICTORY LAP


Über den Stellenwert dieser legendären Band für meine Welt zu sprechen, hieße Nazis in die AFD zu tragen, und weil man es ja trotzdem nie oft genug betonen kann, hier nochmal in Kurzform: sie veränderten mein Leben. Erstmals mit der neuen Gitarristin Sulynn Hago an Bord, war ich sehr gespannt auf "Victory Lap" und wurde nicht enttäuscht. Beginnt das Album mit dem Titeltrack noch überraschend eingängig, gerät die Denkvorrichtung schon mit dem folgenden "Comply/Resist" (einem ihrer besten Songs aller Zeiten) ein bisschen außer Balance und baumelt spätestens im dritten Albumviertel mit seinem sperrigen Thrashpunkmetal am seidenen Faden. Wer hier vorgibt, schon nach den ersten drei Durchgängen alles gerafft zu haben, nimmt es mit der Wahrheit wohl auch sonst nicht so supergenau. Qualitativ bewegt man sich auf "Victory Lap" in etwa auf "Failed States"-Niveau, hat mit "Letter To A Young Anus" und "Failed Imagineer" Hits bekannter Güte (und Machart) im Köcher und lässt wie üblich mit dem Rausschmeißer "Adventures In Zoochosis" alle Sicherungen durchkokeln, dieses Mal ganz besonders wegen eines persönlichen und emotionalen  Textes, der mir die Augen jedes Mal aufs Neue unter Wasser setzt. "Potemkin City Limits" und vor allem "Supporting Caste" bleiben derweil unerreicht, weil mir an der ein oder anderen Stelle die alles zerberstende Durchschlagskraft etwas fehlt (was vermutlich den in Teilen heruntergestimmten Gitarren geschuldet ist), dass "Victory Lap" im herausragenden Post-2000 Oevre dieser einzigartigen Band seinen Platz finden wird, steht freilich nicht zur Debatte.




Erschienen auf Epitaph Records, 2017.







Platz 10 - CIGARETTES AFTER SEX - CIGARETTES AFTER SEX


Größtes Aha-Erlebnis des Jahres mit extraweiter Augenbrauenlüftung, nachdem sich die Nadel des Plattenspielers zum ersten Mal absenkte und ich die ersten 30 Sekunden des Openers "K" hörte. Schwer zu glauben, dass hier tatsächlich ein Geschlechtsgenosse singt, ein bärtiger zumal - daher habe ich mir auch für volle zwei Wochen eine Chanteuse am Mikrofon imaginiert, die ihre Selbstbeschreibung auf Twitter lediglich auf den alten Hot Shots-Spruch "In meinen Händen wird nichts zu Wachs" beschränkt hat. Mit anderen und weniger bedachten Worten: Angesichts des wie ein heißes Messer durch gefrorene Butter gleitenden Gesangs bin ich auf dem besten Weg, meine Heterosexualität nochmal neu zu bewerten. Auf dem Debutalbum der New Yorker stehen zehn Slomo-Slowdance-Blues-Smoothie-Hymnen, die Cigarettes After Sex im Handumdrehen zur Band der Stunde machten und die melancholisch zu nennen eine glatte Untertreibung ist. Sentimental, romantisch, erotisch, kurz: "ein tiefes Rot" (Dirk von Lowtzow). Wer diese Platte hört, befindet sich für knappe 50 Minuten im Paradies und blinzelt verträumt in einen meinetwegen auch herbei halluzinierten Sonnenuntergang im Hochsommer ohne Klimaanlage auf einer durchgelegenen und versifften Matratze in einem heruntergerockten 11qm Rattenloch mitten in New York, im Arm die Liebe des Lebens, in der Hand die Post-Vögel-Kippe. Wir starren an: die Decke. 




Erschienen auf Partisan Records, 2017.




03.02.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 15 bis 13



Platz 15 - TORNADO WALLACE - LONELY PLANET


Knappe 40 Minuten pure Schönheit, Eleganz und Lushness: "Lonely Planet" ist ein mystisch-vernebelter Soundtrack für die Entdeckungsreise auf einer unbewohnten und halb versunkenen Insel im Indischen Ozean. Ich kam im vergangenen Jahr zu keiner anderen Platte so oft zurück wie zu dieser und hörte sie regelmäßig über volle zehn Monate immer und immer wieder. Musikalisch ist das mit so unterschiedlichen Fluchtpunkten aus Synthiepop der 1980er Jahre, bekifften Mittelmeersounds und Einflüssen aus frühen Arbeiten von Grace Jones (mit Sly & Robbie) und sogar den verdammten Dire Straits ein starkes Stück (höre: "Voices"), das sich außer auf der aus 10.000 Fuß wahrnehmbaren Hanfplantage nebst aller erwünschten Nebenwirkungen auf nichts so wirklich festnageln lässt. Alles was zählt ist der filmische Fluss dieser Kompositionen nebst ihren Bildern und ihren Farben. Könnte bald zu einem kleinen Klassiker im Elektro-Underground werden. Ist es am End' ja eh schon. 




Erschienen auf Running Back, 2017.






Platz 14 - DEATH MACHINE - COCOON


Der Bandname ist völlig debil und hätte mich Freund Jens nicht auf "Cocoon" aufmerksam gemacht, wäre ich alleine deshalb nicht mal im Traum darauf gekommen, meine schrumpeligen Finger nach dieser Platte auszustrecken. Und sie mussten sich schon ziemlich arg strecken, um in den Besitz der Vinylversion zu kommen; das Heimatland der Death Machine, Dänemark, sollte es schließlich richten. Death Machine haben mir in den zurückliegenden Herbst - und Wintermonaten gerade noch gefehlt, und das meine ich ausnahmsweise völlig unironisch. Ihre im weitesten Sinne dem zurückgezogenen Indiepop zugeneigten Songs sind bittersüß-verstrubbelte Himmelsstürmer zwischen resignierender Verzweiflung und kurzen Blitzen aus Kraft und Stärke, verbinden sich mit anämischem Folk und einem Road Movie Soundtrack vom Wochenendausflug auf der Venus. Ein auf vielen Ebenen außergewöhnliches Werk. 




Erschienen auf Gateway Music, 2017.





Platz 13 - THE WAR ON DRUGS - A DEEPER UNDERSTANDING


Ich komme etwa drei Jahre zur spät zur Party, aber das liegt an meiner in Teilen bestens ausgeprägten Soziopathie, denn wo viele Menschen dasselbe Lied singen, springen bei mir für gewöhnlich alle Alarmglocken an. Bei The War On Drugs sangen (und singen) verdammt viele Menschen dasselbe Lied und es brauchte einige Überzeugungsarbeit aus dem Schwäbischen, um mir die Vorurteile zu nehmen. Belohnt wurde die "Arbeit an mir selbst" (Jürgen Fliege) mit einem Album, das mir bis heute einige Rätsel aufgibt: warum sitzt da schon wieder Angelo Sasso am Schlagzeug? Und warum spielt Angelo Sasso keine Becken? Warum hackt Angelo Sasso denn wirklich jeden Uptempo-Song ohne jedes Feeling durch wie ein frisch aus dem Hungerstreik gepellter Mähdrescher? Warum wühlt diese aus einem Haufen Schulterpolster der US-amerikanischen 1980er Jahre zusammengenähte Rockmusik mit dem Bruce Springsteen-Gedächtnisstirnband im schlimm müffelnden Zahnzwischenraum von Bob Dylan herum? Ein Wahnsinn, dass der "jungen Generation" (Peter Altmeier) hier nicht der 3-Liter Kanister Mountain Dew durch die Nase hochkommt. Und warum hat "A Deeper Understanding" trotzdem eine derart überwältigende Anziehungskraft auf mich? Ich weiß es bis heute nicht. Nur eines: hier versammeln sich einige der zweifellos besten und gefühlvollsten Momente des Jahres 2017. 




Erschienen auf Atlantic, 2017.

27.01.2018

Best Of 2017 ° Die Plätze 18 bis 16



Platz 18 - ZARA McFARLANE - ARISE


Eine interessante Entwicklung hat die britische Sängerin Zara McFarlane mit ihrem neuen Album "Arise" vollzogen, war doch der Vorgänger ein introvertiertes Werk aus nokturnem Jazz, zaghaftem Pop und modernem Soul. Auf "Arise" liegt der Jazz mindestens in der Nachmittagssonne, der Pop bekam mehr Groove und der moderne Soul bekam mehr Reggae in die Dreads gezwirbelt - das Schillern und die Lebhaftigkeit dieser Aufnahmen sind im Vergleich mit dem flackernden Kerzenschein von "If You Knew Her" eine willkommene Abwechslung und wirken wie eine Frischzellenkur für die Sängerin. Großartig produziert (höre: der Bass in "In Between Worlds"), mit mehr Verve als zuletzt, ist "Arise" in der Ausstrahlung zwar immer noch intim, aber heller, luftiger und in der Folge sogar markanter als das ohnehin schon fantastische "If You Knew Her". Zwei unterschiedliche, aber künftige Klassiker. 




Erschienen auf Brownswood, 2017.





Platz 17 - ODDISEE - THE ICEBERG


Auf Oddisee ist Verlass, der Mann veröffentlicht ausschließlich Qualitätsware. "The Iceberg" ist im Vergleich zum Vorgänger "The Good Fight" nochmal kompakter und eingängiger: mit der Single "Things" wagt er sich sogar erstmals zaghaft in Dancefloorbereiche vor, während ihm mit "Want To Be" gar ein sonniger Monster-Popper mit deutlicher Soul und Funk-Schlagseite gelungen ist. In meinen Ohren gibt es in der internationalen Hip Hop Szene niemanden, der ihm das Wasser reichen kann - dabei agiert er immer noch meilenweit unter dem großen Mainstreamradar und zieht stoisch sein eigenes Ding durch. Immer größeren Stellenwert bekommt seine Liveband Good Compny, mit der er nicht nur jährlich über 100 Konzerte spielt und nun sogar ein - ernsthaft!: fantastisches Livealbum mit kompletter Band veröffentlichte, sondern deren Talent und vielfältige Instrumentierung ihm ganz offensichtlich den eigenen Produktions- und Songwritinghorizont erweitert. 




Erschienen auf Mello Music Group, 2017.






Platz 16 - THE LIFE AND TIMES - THE LIFE AND TIMES


Normalerweise ist ein neues Album meiner liebsten noch aktiven Rockband ein Garant für die Top 3, dieses Mal reicht es immerhin noch für die 20 besten Alben des Jahres. der Grund (für beides): Das Trio hat etwas die Poliermaschine bemüht und die Arrangements gestrafft. Das Ergebnis sind kürzere, aufgeräumtere Songs mit weniger Wall-Of-Sound-Dramatik, dafür ein in der Ausstrahlung etwas breitbeiniger rockender Gesamteindruck. The Life And Times sind immer noch großartig, immer noch völlig einzigartig, immer noch Meilen von der gleichgemachten Soße zeitgenössischer Rockmusik entfernt - die komplette A-Seite der (im Vergleich mit der digitalen Fassung verspätet erschienenen) LP-Version ist ein einziges Erlebnis. Der Moment, der mir auf einer ansonsten fehlerlosen Platte Kopfzerbrechen bereitet, ist die offensichtliche Hommage an die ärgerlichste Rockband der letzten 20 Jahre Queens Of The Stone Age in "Out Through The Door", bei dessen Melodieführung mir glatt der vegane Rollbraten wieder hochkommt. Was soll sowas?




Erschienen auf SlimStyle Records, 2017.