WHIPLASH - CULT OF ONE
Whiplash standen trotz einiger im Thrash Metal-Untergrund der 1980er Jahre anerkannten Kultalben immer im Schatten von Bands wie Overkill, Nuclear Assault, Forbidden oder Exodus - von den "Big 4" (Metallica, Anthrax, Megadeth und Slayer) mal ganz zu schweigen. Allerdings waren vor allem die ersten beiden Werke "Power And Pain" und "Ticket To Mayhem" auch bedeutend chaotischer und rauher als die Musik der erwähnten Konkurrenz und daher ganz bestimmt nichts für ungeübte Ohren. Ich würde die Kapelle aus New Jersey womöglich im hinteren Teil der dritten Reihe der Thrashbands einsortieren, nicht zuletzt auch vom leichten Stilwechsel für ihr drittes Album "Insult To Injury" beeinflusst; einer Platte, auf der sich Whiplash in erster Linie wegen des Sängerwechsels (Glenn Hansen nahm Tony Portaro das Mikro, nicht aber die Gitarre ab) etwas kontrollierter zeigten, aber auch auf die Veränderungen im Thrash Metal zur damaligen Zeit reagierten, das Tempo drosselten und die zuvor gepflegten Ecken und Kanten von einer professionelleren Produktion abschleifen ließen. Nicht alle früheren Fans folgten der Band auf ihrem Weg, und so erging es Whiplash wie so vielen anderen der damaligen Zeit: zunächst überollte die kreative Müdigkeit und später die Grunge- und Alternative-Welle die allermeisten Speed und Thrash Metal Bands, die Anfang der 90er Jahre weder wussten, wer sie eigentlich waren, noch wer sie sein sollten und wollten. Diese Entwicklung wurde nicht zuletzt von der Entscheidung des ehemaligen Szene-Zugpferds Metallica in Gang gesetzt, dem Thrash mit ihrem schwarzen Album endgültig Adieu zu sagen. Keine andere Band aus dem Underground hatte die Kapazitäten und Ressourcen, dieses kreative Vakuum zu füllen. Whiplash konnten es ebenfalls nicht - und lösten sich auf.
Es brauchte schon den Erfolg von Bands wie Pantera ("Vulgar Display Of Power", 1992) Biohazard ("Urban Discipline", 1992), Sepultura ("Chaos A.D.", 1993) und Machine Head ("Burn My Eyes", 1994), um harter Musik wieder eine Richtung zu geben. Mit klassischem Thrash Metal hatte all das freilich alles nichts mehr zu tun, stattdessen wurde der Einfluss des Hardcore stetig größer und trieb so maßgeblich die sehr populäre Crossover-Bewegung voran. Zu einem Zwischenwesen entwickelte sich ab etwa 1993 das Untergenre "Groove Metal" mit seinem im Vergleich zur Thrash-Ursuppe modernen und monotonen Gitarrenspiel, der Betonung auf eingängigen Grooves als Ersatz für Geschwindigkeit und Sängern die sich zwischen unmelodischem Shouting und tatsächlichem Gesang nie so recht entscheiden konnten - als Beispiele seien die damals durchaus erfolgreichen Grip Inc. (mit ex-Slayer-Drummer Dave Lombardo und ex-Despair Gitarrist Waldemar Sorychta), Prong oder auch die dem Death Metal entkommenen Massacra mit dem 1994er Album "Sick", Morgoth ("Odium", 1993) und Fear Factory genannt. Auch Forbiddens "Distortion" und Flotsam & Jetsams "Drift" ließen Parallelen zum Groove Metal erkennen, hier allerdings und in erster Linie wegen der grandiosen Vocals von Russ Anderson und Erik AK mit stärkerer Verwurzelung im klassischen Sound. Die Belgier von Channel Zero, ehemals als klassische Thrashband gestartet, schwenkten ab 1993/1994 ebenfalls um und motteten den auf dem Debut in beeindruckender Manier dargebotenen Speed/Thrash Metal für die kommenden Alben ab "Stigmatized For Life" (1993) und "Unsafe" (1994) ein. Nachzügler der Groove Metal-Bewegung waren beispielsweise die Briten von Dearly Beheaded ("Temptation", 1996).
An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, näher auf "Cult Of One" einzugehen. Whiplash fanden sich Mitte der neunziger Jahre mit verändertem Line-Up wieder zusammen und veröffentlichten 1996 ihr neues Album auf dem deutschen Label Massacre Records, die damals mit den Spudmonsters, Skyclad, Atrocity und den damals wie heute durch und durch unerträglichen Crematory zumindest kommerziell ein paar ziemlich heiße Eisen im Feuer hatten und darüber hinaus das oben erwähnte "Distortion" in Amerika veröffentlichten. Die sich anschließende Europatournee im Vorprogramm von den in Deutschland gerade leicht durchstartenden Folk Metallern von Skyclad war meine erste zumindest livehaftige Begegnung mit den New Yorkern - und offensichtlich hinterließ die Truppe einen so guten Eindruck bei mir, dass ich mir "Cult Of One" zu Hause ins Regal stellte. Die CD ist im Zuge meines 2009 durchgeführten Ausverkaufs natürlich längst nicht mehr im Casa Dreikommaviernull zu finden, aber wozu sonst gibt es Youtube? Mir fiel auf, dass ich von Zeit zu Zeit, aber immerhin regelmäßig über die letzten Monate, immer wieder zu "Cult Of One" zurückkehrte, und während ich mich noch fragte, ob die vermaledeite Nostalgie mich jetzt sogar schon in die qualitativ hinteren Reihen schickt, sah ich mich schon die Blog-Recherche am Computer starten. Es ist ja nicht so, als hätte ich 1996 vor Begeisterung über "Cult Of One" meinen Verstand verloren.
"Cult Of One" ist ein heute längst vergessenes Album und das hat mehrere Gründe. Whiplash stammten wie beschrieben aus dem Thrash-Pleistozän mit entsprechendem Image und waren wegen der zwischenzeitlichen Auflösung zwischen 1990 und 1996 unsichtbar. Spätestens als "Heavy Metal" ab dem Alternative/Crossover-Boom zum Schimpfwort mutierte, hatte die ohnehin schon früher nicht gerade als cool geltende Band bei den neuen, jungen Fans keine Chance mehr. Die verbliebenen alten Fans hingegen fragten sich angesichts des neuerlich veränderten und also modernisierten Sounds auf "Cult Of One" nicht nur, was das denn nun schon wieder soll, sie vermuteten außerdem Trendreiterei und Opportunismus - in der Metalszene der neunziger Jahre praktisch der Todesstoß für jede Band, die sich durch die Veränderung nicht in den Mainstream retten konnte. Das kennt man heute gar nicht mehr, aber ist's wirklich überraschend, wenn zeitgenössische Bands jede Form der Veränderung meiden wie AFD-Wähler ihr Kleinhirn und aus Angst vor wirtschaftlichem Totalschaden gar nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr riskieren wollen und können? "Cult Of One" ist heute musica non grata in Whiplashs Diskografie - ein Malheur, das die Band erst mit dem programmatisch betitelten "Thrashback" aus dem Jahr 1998 und mit der Rückkehr zum klassischen Trio-Line-Up wieder beheben konnte. Daher kommt es vermutlich auch, dass "Cult Of One" längst aus den Presswerken verbannt und aus den Katalogen gestrichen wurde. Ein Rerelease, vielleicht sogar auf Vinyl, ist trotz eines eigentlich dafür prädestinierten Labels wie Night of The Vinyl Dead derzeit leider nicht ins Sicht. Dass der hier präsentierte Sound im Jahr 2018 natürlich so mausetot ist wie kaum ein anderes Genre aus den letzten 20 Jahren, sollte an dieser Stelle nicht vergessen werden; damit lockt man wohl wirklich allerhöchstens noch ein paar nostalgische Ü40-Metaller wie meinereiner hinter dem Ofen hervor, die trotz entsprechender Sozialisation in den neunziger Jahren weder auf Trendreiterei noch auf Image irgendeinen Fick geben.
So lassen sich auf "Cult Of One" für meinen Geschmack einige ganz großartige Songs und Riffs finden und es macht mir trotz des überaus düsteren Untertons und der zwischen Wut und Melancholie hin und her pendelden Atmosphäre großen Spaß, diese Platte zu hören. Neu-Sänger Rob Gonzo hat sowohl Phil Anselmo als auch James Hetfield im Skill-Köcher und macht es mit der Mischung aus Monotonie und Melodie selbst in meinen, was Sängerqualitäten betrifft, überkritischen Ohren ganz gut. Musikalisch wirken die Ideen der nunmehr zum Quintett angewachsenen Truppe folgerichtig wie ein Zwitter aus den groovigen Momenten von Metallica zu Zeiten des schwarzen Albums und locker eischneegebremsten Pantera aus der "Cowboys From Hell"/"Vulgar Display Of Power"-Ära ohne jemals deren Energielevel zu erreichen. Vielleicht war hier mehr Weed im Spiel. Die Kompositionen bewegen sich meist im etwas gehobenen Midtempo, weisen wie im coolen, achteinhalb Minuten dauernden Titelsong oder im abschließenden "Apostle Of Truth" gar progressive Arrangements auf, und spielen auch wegen den eingesetzten Akustikgitarren und Keyboards nebst den clever eingehäkelten doomigen Riffs wie in "1000 Times" mit unterschiedlichen Stimmungen und Gefühlslagen.
Herausragend: Der Opener "Such Is The Will", der Monstergroover "No One's Idol" und die epischen "Cult Of One" und "Heavenaut". Im Grunde gibt es mit dem Instrumental "Lost World" nur einen wirklich Totalausfall. Ob das mit einer zentimeterdicken Patina überzogene Werk heute wirklich noch einen meiner Leser zu überzeugen vermag, darf mit Recht bezweifelt werden. Andererseits bleibt die Aussicht, ein wie ich finde aus den falschen Gründen ignoriertes und daher unterbewertetes, heute vergessenes Werk zu entdecken. Man kann es mit Mittneunziger-Metal nun wirklich bedeutend schlechter treffen.
Erschienen auf Massacra Records, 1996.