Viel ist aus meiner aktiven Zeit als Textidiot Redakteur beim Hamburger Tinnitus-Magazin nicht übrig geblieben, wenigstens nicht in der virtuell erreichbaren Welt: Chef Haiko hatte den Laden irgendwann zu Beginn der zehner Jahre dichtgemacht und alle Inhalte ratzeputz und hottehü vom Netz genommen, bevor er sich von Rockmusik im weiteren Sinne verabschiedete und Techno-DJ wurde. Ich selbst habe im Rahmen von mehreren Laptopwechseln seit meinem Ausscheiden 2007 sicherlich den ein oder anderen Text ans Daten-Nirwana verloren, was mir normalerweise keine schlaflosen Nächte bereitet. Aber es ist ein bisschen vergleichbar mit meinen regelmäßigen CD- und Plattenverkäufen. Man vermisst eigentlich nichts - bis zu dem Moment, an dem man etwas vermisst. "Wo habe ich denn nur...?!"
In einigen Fällen finde ich es aber tatsächlich etwas schade, die Texte nicht mehr zur Verfügung zu haben. Das betrifft meistens jene, die ich im Rahmen von geführten Interviews zusammenstellte, was auch immer ein ganz besonderer Aufwand war - mal ganz davon abgesehen, dass ich mit Personen sprechen durfte, deren Musik mir außerordentlich viel bedeutete (und in vielen Fällen gilt das sogar bis heute).
Ich kam kürzlich mit einem weiteren Freund von The Sea And Cake ins virtuelle Gespräch, und nachdem ein Wort das andere ergab, war irgendwann offensichtlich, dass wir beide an diesem kühlen und regnerischen Juniabend des Jahres 2007 nicht nur dasselbe Konzert sahen und uns also beide in den Räumlichkeiten der Frankfurter Brotfabrik aufhielten, sondern auch noch beide ein Interview mit der Band führten: er mit Sänger/Gitarrist Sam Prekop, ich mit Gitarrist Archer Prewitt. Potztausend! Dass ich mich angesichts der journalistischen Qualität des Textes des Kollegen tatsächlich noch auf die Suche nach meinem eigenen holzigen Textgestümper machte, sagt einiges über die eigene Hybris aus, die ich immer so gerne ins Tal der Mythen schicken will, lol, ja, am Arsch; aber es gab "Hoffnung": eine fix durchgeführte Recherche auf den noch im Zugriff befindlichen Geräten ergab: et perdidisti. Die Datei ist weg, verschluckt, weggeflogen, vor Scham selbst in Flammen aufgegangen, was weiß ich.
Es war daher hocherfreulich schockierend, dass eine Suche auf den Seiten des Internet Archives nach dem Prinzip "Topfschlagen unter 13 Promille" tatsächlich einen Treffer ergab - unter den über 150 Milliarden gespeicherten Webseiten befindet sich doch wirklich diese eine aus dem Juni 2007, es ist geradezu verrückt. Und da kann man auch mal sehen, mit welchem Schrott hier wertvoller Cloudspace verrammelt wird, das ist ja absurd.
Nun ist es außerdem ja so: wen interessiert denn im Sommer 2021 wirklich noch ein vierzehn Jahre altes Interview mit Archer Prewitt?
Und Hurra, ich habe die Antwort: es ist mir scheißegal!
Hier ist es, enjoy!
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Von der Leichtigkeit des Black Metal
Es war ein denkwürdiger Tag. The Sea And Cake sind für mich sowas wie der ganz persönliche Trendsetter. Die erste Zusammenkunft mit ihrer Musik, mit dem 2001er Album "Oui" vor knapp drei Jahren, war das Überschreiten des point of no return, der neue Weg, nach dem ich schon lange gesucht habe. Ihr feingliedriges Songwriting, das so erfrischend ohne die große Pose auskommt, diese gänzlich machofreie Mischung aus Jazz, Pop und Indie: spätestens das war der der endgültige Anfang von Ende von über 15 Jahren Rock und Metal-Sozialisation. Man soll sowas ja nicht schreiben, weil es angeblich so unprofessionell klingt, aber ich tu es trotzdem.
Ja, ich bin Fan. Und an diesem sackkalten Juniabend trifft dieser Fan auf eine seiner Lieblingsbands. Genauer gesagt auf Gitarrist Archer Prewitt, der im Rahmen der Europatournee des Quartetts so freundlich war, mir meine Fragen zu beantworten. Mr.Prewitt ist ein ruhiger, schüchterner und sympatischer Mensch, bietet mir sofort Kaffee an und spurtet umgehend los, als mir gleich zu Beginn der Schreck in alle Glieder fährt: Das Aufnahmegerät will nicht mehr. Sind's die Batterien? Die sollten doch eigentlich noch funktionieren. Egal, Archer springt sofort auf und hält Ausschau nach dem Roadie der Frankfurter Brotfabrik und fragt nach neuen Stromlieferanten. Als die neuen Teile auf sich warten lassen, bedient er sich eines alten Hausmittels, nimmt meine leeren Batterien und reibt sie sich über die Hose.
"Let's try it the good old way..." grinst er. Und tatsächlich, es klappt. Jetzt steht einem entspannten Plausch nichts mehr im Wege.
"Das Publikum reagiert hervorragend auf die neuen Songs. Wir können uns nicht beklagen über die Tour. Bis jetzt läuft alles fantastisch. An manchen Abenden sind die Leute während der Show eher zurückhaltend und klatschen nur höflich nach den Songs. Und wenn wir dann das erste Mal von der Bühne gehen, flippen sie förmlich aus und wollen eine Zugabe nach der anderen. Wir sind dann immer sehr überrascht darüber, weil wir das während des Gigs eigentlich kaum mitbekommen, wie die Zuschauer drauf sind. Es ist sowieso immer sehr überraschend. Ich meine, die meisten Gigs liefen gut, aber es gibt Abende, die herausstechen. In Paris zum Beispiel drehten die Leute wirklich durch. Du weißt eben nie, wie ein Abend läuft."
"Everybody" ist der Anlass für die erste Rundreise seit knapp vier Jahren, passend zum ersten Album seit ebenso langer Zeit. Eine erneut zum Weinen großartige Scheibe, gespickt mit den vielleicht besten und straightesten Songs, die der Chicago-Vierer bis dato geschrieben hat. Obgleich "Everybody" rockiger erscheint als die Vorgänger, zieht ihr doch sicherlich kein typisches Rockpublikum an, oder?
"Errr, maybe not, haha. Oftmals gibt es zwischen den Songs sowas wie respektvolles Schweigen. Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber ich mag das eigentlich ganz gerne, weil es zeigt, dass die Leute wirklich zuhören."
Was ist eigentlich in der langen Zeit zwischen eurem letzten Album "One Bedroom" und dem aktuellen Werk passiert? Und warum hat es solange gedauert, bis man wieder etwas von euch gehört hat?
"Nun, jedes Mal, wenn du ein Album veröffentlichst, gehst du dafür natürlich auf Tour und wir taten dies für "One Bedroom" sehr ausgiebig. Dann nahm ich mein erstes Soloalbum "Wilderness" auf und ging dafür ebenfalls auf Tournee. Und fast zeitgleich brachte Sam (Prekop, Sea And Cake-Sänger - F.E.) seine zweite Soloplatte "Who's Your New Professor" heraus, auf der ich ebenfalls Gitarre spielte und später dann auch mit ihm auf Tour ging. Es war also eine ständige Zeit des Musikmachens, wenn auch nicht immer unter dem The Sea And Cake-Banner. Außerdem arbeitete auch John (McEntire, TSAC-Drummer - F.E.) in seinem Studio mit seiner Band Tortoise an neuem Material und unser Bassist Eric Claridge verkaufte hunderte seiner Bilder über seine Homepage www.ericclaridge.com. Wir haben also im Grunde niemals pausiert, wir hatten alle viel zu tun. Aber nach den Erfahrungen mit "Everybody" planen wir, Ende des Jahres gleich wieder ins Studio zu gehen, um das nächste Sea And Cake-Album aufzunehmen."
Aber es stand nie zur Debatte die Band aufzulösen, oder? Ich meine, vier Jahre sind eine lange Zeit, selbst wenn ihr alle in unterschiedlichen Projekten involviert wart...
Nein, die gab es nicht. Wir nehmen uns einfach diese Auszeiten. Wir haben das jetzt schon ein paar mal gemacht und ich muss zugeben, dass wir uns vorgenommen haben, etwas produktiver zu sein, weil wir das Gefühl haben, dass es dem Wohl der Band nicht besonders förderlich ist, wenn wir uns immer so lange Zeit lassen. Davon abgesehen ist es ja auch für die Fans nicht das Wahre.
Lass uns ein wenig auf das neue Album "Everybody" zu sprechen kommen. Sam Prekop sagt darüber, es sei ein Rock-Album und tatsächlich ist es das mit Sicherheit rockigste und auch straighteste Album, das ihr je aufgenommen habt. Denkst du, dass es etwas damit zu tun hat, dass ihr so lange nicht mehr miteinander Musik gemacht habt?
Ja, ich denke, dass man da durchaus einen Link setzen kann. Es war ein bisschen so wie unsere frühere Herangehensweise an Musik. Einfach einen Song heraus zu hauen, ihn aufzunehmen und fertig. "The Biz" (aus dem Jahr 1995 - F.E.) war diesbezüglich nicht unähnlich. Wir legten weniger Wert auf die Post-Production, sondern achteten auf das Songwriting und die Ausarbeitung eines Titels bevor wir ihn überhaupt aufnahmen. Es erschien uns sinnvoll, dass wir uns nach so langer Zeit in erster Linie unseren musikalischen Fähigkeiten vertrauen sollten, anstatt der Studiotechnik. Das wir mehr Wert auf das legen, was wir schreiben und produzieren können, noch bevor wir das Material dann tatsächlich aufnehmen. Ich denke, das war ein guter Ansatz für "Everybody". Wir arbeiteten sehr hart daran, vierzehn oder fünfzehn Songs zu haben, bevor wir uns an die Aufnahmen machten, und es zahlte sich auch hinsichtlich der Moral innerhalb der Band aus. Du liegst mit deiner Vermutung sicherlich richtig, dass diese Arbeitsweise und letztlich diese Platte aus der Tatsache geboren wurde, dass wir seit knapp vier Jahren zumindest die kollektive Studiosituation nicht mehr hatten.
Ich las einen Bericht über "Everybody", in dem ihr dahingehend zitiert wurdet, dass die Zeit im Studio sehr intensiv gewesen sei, und dass ihr alle hochkonzentriert an der Platte arbeiten konntet. Obgleich waren die Songs schon fertig, bevor ihr ins Studio gegangen seid. Wie entstanden die Titel denn? Wie muss man sich das vorstellen?
Meistens war es Sam, der mit einem Entwurf zu einem Song ankam. Dann schrieben wir die Gitarren- und Bassparts zusammen, trugen den Song in eine neue Richtung, legten Sachen wie Tempo oder Länge fest, schauten, wie die einzelnen Parts zusammen passen. Aber ursprünglich kommen die Ideen von Sam, bevor Eric und ich uns daran machen, den Ansatz weiter aus zu bauen. Bei "One Bedroom" haben wir John McEntire gleich zu Beginn in den Songwritingprozess miteinbezogen und ich hatte das Gefühl, dass es mich dazu brachte die Gitarre minimalistischer ein zu setzen. Das war ein interessanter Weg, weil da plötzlich soviel Information in einer Songskizze war, dass ich mich ganz automatisch mehr zurückhielt, was die Musik auf eine ganz spezielle Art öffnete. Aber grundsätzlich denke ich, dass der eigentliche Sea And Cake-Sound aus der Zusammenarbeit von Sam, Eric und mir entsteht und unsere Art die Akkorde ineinander zu verweben den Sound in erster Linie prägen. "Everybody" ist demzufolge eine Rückkehr zur alten Arbeitsweise, a return to form.
Es hat so oder so den Anschein, als wäre exakt diese Art Musik zu machen in euren Genen verankert. Ein blindes Verständnis darüber, wie The Sea And Cake zu klingen haben. Wenn man euch alle in einen Raum einsperren und euch die Augen verbinden würdet, käme wohl immer genau dieser ganz spezielle Sound dabei heraus.
Ja, ich weiß was du meinst. Ich glaube, dass liegt daran, dass Eric, Sam und ich alle Autodidakten sind und unser Sound das widerspiegelt, was wir seit Jahren tun, wie wir es tun und wie wir es uns gegenseitig beibrachten zu spielen. Wir haben über die vielen Jahre ein eigenes Vokabular erschaffen, das uns von der ersten Sekunde an, in der wir miteinander Musik machten, passend und angemessen erschien. Und glücklicherweise fanden wir damals in dem Studio in dem wir unsere erste Platte aufnahmen John McEntire. Ursprünglich hatten wir ja mit Brad Wood einen anderen Drummer, der auf unserem Debut spielte. Aber wir hatten bei ein paar Songs das Gefühl, dass die Drums etwas pampig klangen, obwohl sie eigentlich etwas abheben und luftiger klingen sollten, verstehst du? John fragte also, ob er es mal versuchen solle und als er loslegte machte es sofort *klick* und der spezielle Sea And Cake-Sound war geboren.
Ein Sound, der oft als der perfekte Sonntagmorgen-Frühstück-Sonne-Scheint-Durchs-Fenster-Sound bezeichnet wird. Fühlt ihr euch damit eigentlich wohl?
Also ich schon, haha. Ich finde, das passt schon ganz gut. Wir klingen ja auch sehr sonnig. Allerdings muss ich die Einschränkung machen, dass unser Klangbild ja nicht durchgängig leicht und breezy ist. Versteh' mich nicht falsch, ich will mich dagegen gar nicht verteidigen, aber ich denke es ist nicht angebracht, Sea And Cake auf ausschließlich diese Seite zu reduzieren. Es gibt leichtere und schwerere Songs und es gibt leichte Themen und schwerere Themen.
Vor einiger Zeit gab es in einem deutschen Musikmagazin en Interview mit Sam zu lesen, in dem er sagte, dass er der Meinung ist, dass sich unter der Oberfläche viele Zweifel und viel Melancholie verbergen. Um das zu erkennen müsse man aber sehr genau hinschauen. Wie macht ihr das, dass diese schwermütigeren Themen so subtil in euren Sound eingeflochten werden?
Ich denke, dass es einfach im Songwritingprozess so passiert und diese Seite von Sea And Cake genauso zu unserem Sound gehört. Bei dem Song "Transparent" auf "Everybody" waren wir zum einen alle sehr überrascht, dass er sich zu einer solch eher komplexen Struktur entwickelte, aber ich denke zum anderen, dass gerade dieser Song ein sehr gutes Beispiel dafür ist, dass wir zwei Seiten miteinander verbinden: die sonnige und die melancholisch-zweifelnde. Des Weiteren denke ich, dass Sams Texte die Musk unendlich bereichern, auch gerade hinsichtlich dieser zwei Emotionen. Ich weiß, dass viele sagen, unsere Texte seien nicht so wichtig oder gar zu gefällig, aber ich verwehre mich gegen den Standpunkt, dass sie nichts aussagen würden. Sie bedeuten etwas, und Sam wählt die Wörter sehr sorgfältig aus, die er singt. Ich war schon immer ein großer Fan seiner Texte und ich glaube, dass gerade sie es sind, die die dunkleren Nuancen wie Melancholie oder auch Frustration in unsere Musik bringen. Es gibt immer einen Gegenspieler, der das Gegenteil aufnimmt und ihm den Ball wieder zurückspielt.
Diskutiert ihr eigentlich die Texte mit Sam oder ist das ausschließlich sein Ding?
Oh, Eric und ich haben früher sogar selbst Texte geschrieben oder Sachen zu Sams Lyrics beigesteuert, als wir noch etwas produktiver waren. Aber mittlerweile sehen wir dazu keine Veranlassung mehr. Sam singt und greift dabei auch auf seinen Notizblock zurück, auf dem er immer wieder einzelne Phrasen und Worte notiert...er hat also genug davon, denke ich, haha. Es kommt vor, dass ich einige Stellen kommentiere, wenn alles vorbei ist. Im Sinne von "Oh, das ist aber ziemlich düster, oder?". Man kann eigentlich leicht die Bedeutung der Worte außen vor lassen und einfach nicht darauf achten, aber ich achte bei Sam immer darauf. So lassen sich viele interessante Aspekte erkennen.
Es wurde berichtet, dass ihr wenig Overdubs für "Everybody" verwendet habt, und dass außerdem John McEntire erstmals nicht so stark in die Produktionspflichten eingebunden wurde wie zuvor, sodass er sich mehr auf sein Schlagzeugspiel konzentrieren konnte. Wie lief das ab?
Es hatte jedenfalls nicht soviel damit zu tun, dass Brian Paulson die Platte produzierte, weil im Grunde es immer noch wir waren, die Hand anlegten. Und wir sind es auch immer noch die im letzten Schritt entscheiden, was der Song benötigt. Ob hier oder da noch Keyboards notwendig sind...solche Sachen. Aber wir versuchten uns ein wenig mit diesen Sachen zurück zu halten. Wenn wir einen Song geschrieben hatten, hatten wir meist das Gefühl, es sei bereits alles da, was er benötigt. Das war auch ein Vorteil, den Brian ins Spiel brachte. Er ist eher direkt in seiner Arbeitsweise und nimmt alles recht zielstrebig auf. Nichtsdestotrotz hat auch er seine Ideen eingebracht, die man auch auf dem Album hören kann. Er hatte auch großen Anteil an dieser Platte. Es war eine Gemeinschaftsarbeit. Eigentlich arbeiteten wir den Song bis an die Spitze aus. Bis zu dem Punkt, an dem wir dachten "Okay, das war's!" und DANN gingen wir erst dazu über zu überlegen, ob noch etwas fehlt. Das war sehr hilfreich, um den Blick frei zu bekommen. Du läufst irgendwann Gefahr, die Übersicht zu verlieren, wenn du einen Keyboardteppich über den anderen stapelst und dir davon einen besseren Song erhoffst. Und irgendwann schüttelst du nur noch mit dem Kopf und denkst "alles muss hier wieder weg". Da war unsere Taktik wesentlich besser.
Und ich gehe davon aus, dass du mit "Everybody" sehr glücklich bist?!
Ja, absolut. Sehr glücklich.
Das ist gut. Ich nämlich auch.
Hahaha. Es ist interessant, dass wir eigentlich alle sehr zufrieden sind. Ich meine, du wirst immer Situationen haben, gerade wenn du auf Tour bist und das Material jeden Abend spielst, dass du denkst, dass die ein oder andere Passage vielleicht schneller sein müsste. Wenn du auf der Bühne dann das Tempo anziehst und merkst, dass es besser klingt, dann wünschst du dir, dass du auf der Platte schon diesen Einfall gehabt hättest. Aber das ist das Übliche, damit ärgern sich noch ganz andere herum, wenn die Scheibe erstmal im Kasten ist.
Findest du es eigentlich auch so bemerkenswert, dass die Reviews zu jeder neuen Platte im Grunde immer wieder dasselbe sagen? Meistens heißt es doch "Es gibt hier nichts Neues zu hören, aber wahrscheinlich ist diese neue Sea And Cake-Platte die schönste, die sie bisher aufgenommen haben.", und dieser Gegensatz zwischen "Nichts Neues, aber schöner als der Rest." ist doch sehr interessant, gerade hinsichtlich der Rezeption eurer Musik. Wie siehst du das?
Es wird mehr und mehr frustrierend. Wir als Band sehen sehr wohl eine Entwicklung, wir sehen sehr wohl eine Form von Wachstum, von Verfeinerung. Und wir sehen auch die veränderten Entscheidungen, wie wir sie von Platte zu Platte einer neuen Form anpassen. Wenn ich "frustrierend" sage, meine ich das auch in Hinblick auf andere Bands, bei denen eine sogenannte fehlende Weiterentwicklung in der öffentlichen Meinung niemals eine Rolle spielt, obgleich sie einen viel stärkeren Drang nach einem gradlinigen Klang besitzen. Man beginnt daran zu glauben, dass viele Journalisten eher nach Information und Bestätigung suchen, weil sich dieser Vorwurf so oft wiederholt und weil er überall auftaucht. Wir denken dann immer "Okay everybody! We get it!". Aber wir gehen niemals mit diesen Gedanken im Kopf an die Arbeiten zu einem neuen Album. Unser Gefühl dazu ist eher in der Art von "Lasst uns ein Album machen, das wir gerne hören würden."
Zumal es gerade in Bezug auf "One Bedroom" sehr wohl eine nicht zu unterschätzende Entwicklung in eurem Sound gibt. "Everybody" ist detailreicher, zugleich fokussierter und die offensivste Sea And Cake-Veröffentlichung bis jetzt.
Da stimme ich dir zu. Bei jedem neuen Album werden die Anforderungen an die Band größer. Meine beiden Lieblingsplatten sind "Everything" und "Oui" (aus dem Jahr 2001 - F.E.). Ich bin sehr stolz auf diese beiden Platten und all die Zeit, die wir damit verbrachten sie fertig zu stellen war es wert. Ich höre mir unsere alten Scheiben eigentlich nie mehr an, wenn wir sie veröffentlicht haben, aber diese beiden liebe ich dennoch. Sie sind für mich wie Meilensteine, und wir arbeiteten sehr hart für diese Platten.
"All The Photos" von "Oui" ist einer meiner Lieblingssongs von Euch. Spielt ihr den auch live auf dieser Tour?
Ich muss dich leider enttäuschen, den spielen wir nicht, weil er so viele Keyboards benötigt. Weißt du, wir dachten uns für diese Tour, dass wir mit demselben Ansatz an sie herangehen sollten, wie wir auch dem neuen Album begegnet sind. Eben direkter. Und es fühlt sich ganz gut an, muss ich sagen. Es ist mehr Raum und Luft für die Songs da, es gibt mehr Freiräume und nicht diese ganzen Töne, die jedes Loch zumauern wollen. Das ist auch spannender für uns auf der Bühne. Wir sind eine eher introvertierte und bescheidene Band, die nicht um jeden Preis die Aufmerksamkeit auf sich ziehen muss, wirklich nicht. Es fühlte sich manchmal schon sehr merkwürdig an, wenn wir Gastmusiker auf der Bühne hatten, damit wir möglichst nah an den Klang der Platte auf CD kamen. Dieses Mal hatten wir alle das Gefühl, dass wir all das hinter uns lassen sollten. Ich wollte immer eine raffinierte Vertracktheit entwickeln, sodass deine Ohren immer nach einer neuen Information suchen und nicht vor Langeweile einschlafen. Ich möchte mich selbst herausfordern, den Song herausfordern...
Ist das der Ansatz, den du beim Schreiben der Gitarrenparts für "Everybody" im Sinn hattest? Du spielst auf der neuen Platte viel detaillierter, viel "tiefer"...
Ja, ganz bestimmt. Um nochmal auf die Entstehung von "One Bedroom" zurück zu kommen: gerade der Unterschied von dieser zur neuen Platte ist ziemlich auffallend, was die Gitarren betrifft. Meine Gitarre war auf "One Bedroom" sehr minimalistisch, deswegen finde ich sie vom Standpunkt eines Gitarristen jetzt auch nicht übermäßig interessant. Es ist richtig, wenn du sagst, dass ich auf "Everybody" wieder etwas präsenter und detaillierter vorgehe. Wobei es damals wie heute Situationen gibt, in denen ich einige Passagen lieber weglasse, vor allem dann, wenn wir nachdem Sam seinen Gesang beisteuerte merken, dass es besser passt, wenn die Gitarre wegfällt. Bei "One Bedroom" haben wir sie beispielsweise oft durch Keyboards ersetzt und bei "Exact To Me" auf dem neuen Album habe ich das Riff der Art von Sams Gesang angepasst. Und es klingt so viel interessanter als vorher.
In eurer Musik schlagen für meine Begriffe zwei Herzen: eines, das sich eher in einem urbanen Großstadtfeeling widerspiegelt, während das andere sich für die hippieske Selbstversorgerfarm entschieden hat. Ich finde auch diesen Gegensatz in eurem Sound sehr inspirierend und er steuert viel zu der Faszination von The Sea And Cake bei, wie ich finde. Wie siehst du das?
Ähnlich. Ich denke, The Sea And Cake sind einerseits sehr distanziert, andererseits aber auch sehr einnehmend mit einer Art von entwaffnender Intimität, die dich ganz nah heranzieht. Manche Leute sagen, es sei organisch. Ich finde, dass es ein ganz netter Ort ist, an dem man sich als Band aufhalten kann.
Das GQ-Magazin beschrieb euch mit den Worten "Musik, die ihren Kopf über den Wolken und ihre Füße auf dem Boden hat", was ein angemessenes Bild ist, wie ich meine.
Wir achten vor allem immer auf eine gute Melodie, weißt du?! Wenn du keine gute Melodie hast, fällt alles in sich zusammen...
Dann könntet ihr ja auch gleich Black Metal spielen...was eh keiner will, aber...
Haha, ja. Wir albern immer herum und sagen, dass wir endlich mal ein Black Metal-Album machen wollen um all den Kritikern das Maul zu stopfen, die immer wieder "alles wie immer" schreiben, hahaha.
Es gibt besonders hier in Deutschland seit einigen Jahren sogar unter den Intellektuellen den Drang dieser Musik ein Image des Anspruchsvollen, des Intelligenten und des Geistreichen zu verleihen, was ich niemals auch nur im Ansatz verstanden habe, und das trotz meiner Metal-Sozialisation. Ihr könntet also mit eurer Black Metal Platte voll durchstarten, haha.
Was ich davon gehört habe klingt sehr oberflächlich und lächerlich. Obwohl es wie eine Karikatur von Musik klingt, gibt es dort nicht einen Funken Humor, was mich wirklich immer wieder schockiert. Aber für viele Menschen ist das ein verführerischer Ort, diese Dunkelheit, der Hass, die Konfusion. Aber es ist gleichzeitig eben auch ein sehr einfacher Weg, den man damit geht, egal über welche Kunstform wir jetzt sprechen. Dunkelheit und Hass sind die einfachsten Emotionen, die man auswählen kann, eine billige Partie. Ich habe daran kein Interesse. Weißt du, ein gut ausgearbeiteter Song hat genau den Anteil Dunkelheit und Zweifel in sich, den er benötigt um ein guter Song zu sein. So machen zumindest wir unsere Musik.
Mr.Prewitt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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"Archipelago" hat aus mehreren Gründen eine Erwähnung verdient. Erstens: Das sechte Album des britischen Produzenten Ryan Bisset erschien im März 2020 und damit zur Hochzeit der allgemeinen Verunsicherung rund um das Coronavirus und war für die nächsten Wochen ein tröstender und umarmender Soundtrack. Sowas bleibt. Selbst beinahe eineinhalb Jahre später spüre ich eine besondere Verbindung zu dieser Musik.
Zweitens: auch ohne die Dramatik aus Zeiten der Pandemie wird vor allem die erzählerische Natur von "Archipelago" offensichtlich, sicherlich subjektiv gespeist aus den Gedanken, die sich um Fernweh und Sehnsucht den Weg in die eigene Realität bahnen. Halftribes Stil hat mich schon ab dem ersten Kontakt mit seiner Musik fasziniert, ich schrieb damals zu "Luxia", seinem Debut für das spanische Label Archives:
"(...) dieser Hauch von intellektueller Kühle und Klarheit in einer ansonsten sehr intimen und weichgezeichneten Umgebung. "Luxia" benötigt keine Rettung aus dem Kitsch, aber es ist gut, ein wenig angedeutete Schärfe zu spüren. Macht klar im Kopf. Befreit den Geist."
- und "Archipelago" führt diese Linie fort. Bissets Kompositionen und Sounds wirken immer etwas "crisp", sie bilden Kratzer ab, Ermüdung, Verschleiß. Das ist nicht nur charmant, das verschafft seiner Musik auch eine naturalistische Ebene; eine, die nicht nur abbildet, sondern auch kommentiert.
Und Drittens: die handnummerierte und auf 200 Stück limitierte CD ist ganz in der Tradition des Labels Sound In Silence so wunderbar gestaltet, dass ich mich frage: ist die CD in dieser Form und für diese Musik vielleicht nicht doch das bessere, schönere Format?
Ich hatte "Touching The Sublime" schon mal flüchtig in meinem Text zu "Still" von Night Sea erwähnt, immerhin meiner Nummer 1 des Jahres 2020, nur nochmal zur Erinnerung; und dieses flüchtige "auch ein sehr gutes Album" als Kommentar zu Tomas Jirkus erstem Album seit zehn Jahren war eindeutig ZU flüchtig. Es lohnt sich, etwas ausführlicher über dieses Album zu sprechen - und sei es nur deswegen, weil mir manchmal die Worte zu fehlen scheinen. Zum einen ist "Touching The Sublime" zumindest musikalisch kein typisches Silent Season-Album, und es hat den Anschein, als würde sich das Label grundsätzlich in eine etwas unberechenbarere Richtung entwickeln: weg vom naturalistischen Dubtechno, hin zu abstrakterem, herausforderndem Ambient. Auch die beiden in diesem Jahr auf Silent Season erschienenen Alben "Infinite Horizon" von Owl und Daars "Entire" verstärken diesen Eindruck.
Zum anderen ist es nicht einfach, sich in "Touching The Sublime" reinzufuchsen. Es wirkt kalt, schroff, dürr, distanziert, fast abweisend - und das bei einem Opener, der "A Warm Place" heißt. Die Sounds so klobig und gewaltig wie ein jahrtausendealtes Felsmassiv, ein bisweilen unbehaglich tiefes Dröhnen, das klingt, als würden sich zwei Lithosphärenplatten unsittlich aneinander reiben. Zudem ist Jirkus Musik in kontinuierlicher Bewegung. Sie ist rastlos, gräbt sich immer tiefer in seine einzelnen Schichten ein, selbst in die, die unter dem eigentlichen Ton liegen. Das ist der Grund warum fast jeder, der "Touching The Sublime" gehört hat, darauf besteht, es unter Kopfhörern zu erfahren, zu fühlen, zu entdecken. Ein sehr eindringliches, immersives Erlebnis.
Technisch ist "Dreams In Sepia" kein Kandidat für eine Bestenliste des Jahres 2020, eher einer für die "Beste Reissues"-Aufstellung: das japanische Label Blue Arts Music veröffentlichte das Solo-Albumdebut des Produzenten aus Chicago bereits im Jahr 2019 auf CD und in digitalen Formaten, bevor Ende 2020 das Mojiba-Tochterlabel a.r.tless aus Berlin mit einer Vinylversion nachzog. Ich schlief leider im übertragenen Sinn auf der colorierten Variante, die mit ihrer farblichen Abstimmung zum sowieso fantastischen Coverartwork von Kilian Eng so herzzerreißend wundervoll ausschaut und vermutlich aus genau jenem Grund schneller ausverkauft war als ich "Piep" piepsen konnte, und musste mich also mit der schwarzen Standardpressung begnügen. Aber alleine das Cover...also...DIESES COVER!
Sam McQueen ist ein Veteran der Technoszene Chicagos; u.a. war er im Duo mit John Beltran und als Co-Produzent an dem Klassiker "Indio" des gleichnamigen Projekts aus dem Jahr 1999 beteiligt, das übrigens im vergangenen Jahr vom spanischen Subwax Excursions Label ebenfalls erstmals auf Vinyl veröffentlicht wurde. Auf "Dreams In Sepia"...ich würde jetzt gerne weiter schlau daherreden, von den Anfängen des UK-Techno zu Beginn der 1990er Jahre, vom Berlin-Sound der Mittneunziger, Detroit Techno und früher Ambient-Produktionen, aber ich sag's jetzt einfach wie's ist: ich habe keine Ahnung, was hier passiert. Es ist kein Techno, es ist kein House, es ist kein IDM, kein Broken Beat, kein Ambient. Es ist all of the above.
"Dreams In Sepia" ist so beruhigend wie aufgeputscht, so pastell wie neon, so träumerisch und melancholisch wie dynamisch und funkelnd. Dazu höllisch komplex - wenn ich noch einmal höre, elektronische Musik sei monoton und flach, bekomme ich einen Schreikrampf: die mehrschichtigen Beat-Verdichtungen, die entgegen aller Vernunft wie blindlings eingeworfenen Basslines, die flächigen Sci-Fi-Ambientstreicher, die sich mit den scheinbar unendlich weit aufgezogenen Melodiewolken einen neuen Fluchtunkt nach dem anderen bauen. So entstehen Momente voller "Sonnenaufgang am Sandstrand"-Euphorie wie in "Fathoms", vom Leben berauschtes After Hour-Geflimmer in "Wicker Park Sunrise", das verspielt-verdaddelte Freigeist-Gezippel in "Then And Now" und das im Orionnebel herumschwebende "Awaken From A Dream". Und darüber hinaus Momente, die manchmal so unwirklich, so surreal, so weit in der Zukunft zu liegen scheinen, dass der Science Fiction-Film, der als Untermalung für diese Musik dienen soll, erst noch erdacht werden muss.
"Dreams In Sepia" ist beeindruckend - weniger im Sinne eines technischen Gefuchtels, als viel mehr in der Idee der Vereinigung, des kollektiven Bewusstseins in und durch Raum und Zeit.
Ich glaube, man wird über dieses Album noch viel nachzudenken haben.
Erschienen auf Blue Arts Music, 2019/a.r.t.less, 2020.
Die meisten Schmerzen bei den vorgenommenen Streichungen für die 2020er Bestenliste hatte ich möglicherweise bei "Dance Alone" von Sraunus. Das elfte Album des Produzenten aus Litauen steht in meinen (digitalen) Hörstatistiken bei last.fm tatsächlich in den Top 100 der meistgehörten Alben aller Zeiten (!) - und das ist bemerkenswert für eine Platte, die erst im Frühjahr 2020 erschienen ist.
Bemerkenswert (ein echter Delling!) sind auch die Ideen für die Ausgestaltung seiner Musik: Sraunus vermischt die dunkel schimmernden, manchmal klaustrophobisch wirkenden, ambrierten Merkmale des Dubtechno mit weitläufigen Ambientflächen und legt einen Schleier aus raffiniertem IDM-Elektrogefummel über die oberste Sphäre seiner Songs. "Dance Alone" ist introvertiert und selbstreflexiv, es zeigt sich in einem immer weiter ausbreitenden Geäst von Erfahrungen und den daraus entstandenen Brüchen, diesen Verschleißerscheinungen, die das Leben kälter werden lassen. Manchmal scheinen sich in erster Linie die Gefühle von Einsamkeit zu spiegeln, die nach innen gerichtete Version der Einsamkeit; die, die keinen Platz für Überwärmtes und andere Sentimentalitäten hat. Vielleicht war es insbesondere ebenjene Wahrnehmung in Zeiten der Corona-Isolation, die "Dance Alone" zu einem solch treuen Begleiter werden ließ. Hätte definitiv in meine Top 20 gehört. Aaaand I fucked this up. Again.
P.S.: Sraunus stellte vor einigen Jahren einen isolatedmix für das Ambientlabel A Strange Isolated Place zusammen. Mehr Informationen und den Mix zum Download gibt es hier:
Es wäre zu viel gesagt und gemeint, diese legendäre US Metal-Band zur "Banda non grata" im meinem Plattenschrank zu erklären, dafür sind mir ihre Alben nach dem 1991 erschienenen Klassiker "Symbol Of Salvation" alle zu sehr ans Herz gewachsen. Aber die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten hatte auch im Fall von Armored Saint ein paar für mich kaum zu ignorierende negative Folgen: Schlagzeuger Gonzo Sandoval outete sich als beinharter Anhänger des orangeheaded fuckweasels und sorgte mit eindeutigen Posts auf seinen Social Media Kanälen für einige Irritationen Kotzkrämpfe im Hause Dreikommaviernull. Also schaltete ich folgerichtig und hinsichtlich aller Neuigkeiten aus ihrem Camp auf sturen "Ignore"-Modus, selbst nachdem Bassist Joey Vera mir auf Instagram tatsächlich schrieb, Gonzo spreche damit AUF GAR KEINEN FALL für den Rest der Band. Bon.
Steht aber ein neues Album auf dem Plan, kann ich im Prinzip kaum widerstehen, zumindest mal ein Test-Öhrchen zu riskieren. Die erste Single "End Of The Attention Span" war zwar gefällig, ließ sich aber dank des peinlichem Boomer-Texts und -Videos über die Abgründe dieser neumodischen Kommunikation über dieses "Internet" (o.s.ä.) noch schmerzfrei wegdrücken, bei der zweiten Auskopplung "Standing On The Shoulders Of Giants" brach jedoch die so sorgfältig hochgezogene Mauer im Schädel zusammen: eine geradewegs geniale Hookline, kraftvoll-frisches Songwriting "vom Fass" (Matthias Breusch), ein immergrüner John Bush, dessen Stimme einfach nicht altern will - eine Blaupause klassischen Heavy Metals mit implantiertem Jungbrunnen-Gen für die Ewigkeit. Ein Wahnsinn! "Punching The Sky" musste also trotz einiger moralischer Bedenken zunächst ins Warenkörbchen und anschließend auf den Plattenteller.
Rein taktisch ist die Songreihenfolge ein cleverer Schachzug: die beiden erwähnten und mit Abstand stärksten Tracks des Albums brennen gleich zu Beginn ein wahres Endorphin-Feuerwerk ab, danach reicht's jedoch allenfalls noch für ein paar LED-Lichterketten aus dem Sommerkatalog von Tchibo. Der Band gehen ab dem dritten Song hörbar das gute Songmaterial und die traditionell herausragenden Hooklines aus. Ausnahme ist das gute "Fly In The Ointment", für das aber auch Steve Harris angerufen hat und seine Akkordfolge zurückhaben will, er hätte da ein Copyright oder Patent oder dicke Backen oder was weiß ich. Was die Platte insgesamt rettet ist das nach wie vor umwerfende Energieniveau einerseits und die taufrische Inszenierung desselben andererseits - beides nicht zuletzt unterstützt von einer sensationellen Produktion, die perfekt zwischen modern-kraftvoll und klassisch-leger balanciert. "Punching The Sky" wirkt befreit und befreiend, sogar bisweilen hedonistisch. Muss man mit Mitte 50 auch mal hinbekommen.
Für eine Truppe, die so lange im Geschäft ist und wirklich so gar niemandem mehr etwas beweisen muss, ist das eine ziemlich große Leistung. Vermutlich ist "Punching The Sky" aus diesem Blickwinkel betrachtet insgesamt mehr als die Summe seiner einzelnen Teile - und darf daher zurecht in dieser Liste auftauchen.
Das US-amerikanische Spezialistenlabel Past Inside The Present hatte 2020, und damit im vierten Jahr seines Bestehens, einen ganz außergewöhnlichen Lauf. Es liegt nahe, das vor allem an einer Platte festzumachen, die aus nicht ganz offensichtlichen Gründen die Ambient-Nische verließ und sich plötzlich selbst auf dem Radar derer aufhielt, die bislang keine Ahnung davon hatten, diese Musik in ihrem Leben zu benötigen: zaké & 36s "Stasis Sounds For Long-Distance Space Travel" übersprang im Juni dieses Jahres tatsächlich die Grenze von 2000 Käufern alleine auf Bandcamp, sicherlich auch von den mittlerweile zig Vinylversionen und -farben angeschoben, aber es ist klar, dass dieses Werk eine ganz besondere Saite bei den Menschen angeschlagen hat - und weiter anschlägt.
Von diesem so schönen wie überraschenden Erfolg bestärkt, folgte eine wahre, ich bin bin versucht das Wörtchen "unüberschaubare" in diesem Kontext einzuflechten, Flut von neuen Releases - und es ist vielleicht nicht allzu utopisch anzunehmen, dass damit auch größere Aufmerksamkeit auf Künstlerinnen wie Lucy Gooch gelenkt wurde, die mit der EP "Rushing" ihr Labeldebut gab. Ihre so hymnischen wie ätherischen Kompositionen tupfen das eigene Bewusstsein in einen transzendentalen und luziden Traum hinein: seidige Transparenz und surreal zerklüftete Landschaften lassen zwischenweltliche Räume entstehen, Orientierungslosigkeit und Kontrollverlust auf der einen, Geborgenheit und Vertrautheit auf der anderen Seite. Ihre wasserklare Stimme dient dabei gleichermaßen als Fixpunkt des Außerweltlichen und als Rückzugsort für eine Idee von Popmusik, die eher Laune an künstlerischer Dehnung, denn an kompatibler Komprimierung hat. Im Höhepunkt "Sun" klingt es, als hätten sich die drei Seelen von Lucy Gooch, Zola Jesus und Lisa Gerrard in einem unterirdischen Höhlenlabyrinth miteinander verschmolzen und ein hell blitzendes Energienetz über die Erde ausgerollt und es ist herzerwärmend, diesen Song zu erfahren.
Zerrissen zwischen Pop, vergeistigter Klassik und spiritualisiertem Folk, zwischen Einsamkeit und Empathie; im Prinzip der Sound einer ganzen verdammten Generation. Wir müssen einfach lernen, besser zuzuhören.
DEADBEAT & PAUL ST. HILAIRE - FOUR QUARTERS OF LOVE AND MODERN LASH
Vier (grob) viertelstündige Dubtechno-Elegien auf dem zweiten Teamwork-Album von Deadbeat und Paul St.Hilaire massieren das Basis-Chakra und blasen beruhigenden Kräuterduft aufs dritte Auge.
Bei 35°C im nicht ganz optimal gedämmten Hinterhaus, frischer Wassermelone und einer Elefantendosis Novalgin (der Rücken, das Alter, es ist nicht schön) bummst einem der nach einigen Minuten einsetzende Bass im Opener "War Games" glatt aus der glorreich-glühenden Unnerbüx - ein Hoch auf die echten Könner, die sich für dieses Album um das Vinylmastering kümmerten.
Dunkel, hypnotisch, manchmal gar wie entfesselt groovend - ich möchte das auf einer pechschwarzen Tanzfläche in einem pechschwarzen Club hören. Mit meinem Kopf im Basshorn und einer 8 Hektar großen Grasplantage in den Bronchien.
Ein magisches Album - das leider sehr unmagisch viel zu spät im Sossenheimer Kiez landete und für die Jahresliste 2020 nicht berücksichtigt werden konnte. "Everything Is New" hätte die Top Ten andernfalls im Sturm genommen.
Es beginnt beim umwerfenden Artwork der ukrainischen Künstlerin Anna Liberté, geht über das Berliner Qualitätslabel La Luna, über eine fantastisch reich und voll klingende sowie absolut fehlerfreie Pressung und endet bei der Musik von Simon Huxtable (u.a. auch als Aural Imbalance und Kloor unterwegs), dem Soundtrack eines märchenhaften Traums.
Die Vibes auf "Everything Is New" sind subtil. Vibrierende Synthiefäden flimmern über den Horizont, die wie schwerelos in der leichten Brise schwingenden Beats sind gleichermaßen lush wie crisp, die melancholischen Melodien bauen die Gehirnchemie um und stellen den Schalter im Dachgeschoss wie von Zauberhand auf "Das Leben Ist Schön". Und unter all dem hat Huxtable den eigentlichen Nährboden ausgerollt: sein Storytelling reicht von mystisch und entrückt bis hin zu dramatisch und expressiv, von isolierter Introvertiertheit bis zur Sehnsucht nach Verbindung und Gemeinschaft - und skizziert damit die Kulisse dieses Albums: Aufbruch, Mut, Zweifel - und das vielleicht Wichtigste: Vertrauen.
Aufgefüllt und zu Leben erweckt werden jene Skizzen mit einer gelassenen "Keine Termine und leicht einen sitzen"-Atmosphäre im dämmernden Licht eines Sonnenuntergangs am abgelegensten und einsamsten Sandstrand des Universums, ketamingeschwängertem Downtempo-Swing, reichaltigem Ambient-Farbauftrag und sich durch das gesamte Album ziehende Texturen; feine Variationen, die immer weiter am Überbau von "Everything Is New" arbeiten, während sie selbst wie Farbtropfen im Wasser stets neue Gestalten annehmen - und sich zum Schluss verbinden und Eins werden.
"Everything Is New" wird bleiben. An solche Alben erinnert man sich ein Leben lang, und ich weiß jetzt schon, dass ich sie in ein paar Jahren in die Hand nehmen werde und mich etwas sagen höre, das klingt wie "Das ist eine ganz, ganz tolle Platte."
Meine leider etwas holzig formulierte Lobeshymne auf eine der interessantesten, mutigsten, vielseitigsten, technisch versiertesten und scheißrein, ich sag's jetzt: besten Bands der 1990er Jahre ist schockierenderweise beinahe volle 12 Jahre alt, und es ist einer jener Texte, bei denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie etwas später geschrieben. Es zeigt sich wiederholt, dass zwischen "gut gemeint" und "gut gemacht" zwei bis drei Enden der Welt liegen können; zumindestens gilt das für die frühen Texte des "Flohihaan" (Monaco Franze) - und manchmal sogar immer noch für das aktuell Erbrochene. Sad.
Inhaltlich gibt es indes nur wenig zu mäkeln, auch wenn meine Ergebenheit gegenüber ihrer Musik im Jahr 2021 sicherlich noch größer ist und im Falle eines heute geschriebenen Textes eine nochmal bedeutend euphorischere Wortwahl verwendet werden müsste. thOught industry stehen in meiner Realität in jener Reihe großer Bands, denen der "OK, Boomer!"-Sticker mit der Aufschrift "Solche Bands werden heute nicht mehr gebaut" bestens zu Gesicht stehen würden. Und verfickt nochmal, ich sag's jetzt nochmal, und zwar laut:
SOLCHE BANDS WERDEN HEUTE NICHT MEHR GEBAUT!!!1111eins1
Ich habe mich über die Jahre sehr oft gefragt, was die ehemaligen Mitglieder wohl heute so treiben mögen und auch wenn ich darauf immer noch keine Antwort habe, kam ich dem Mysterium dieser Irren kürzlich ein bisschen mehr auf die Schliche: Der Youtube-Kanal STAUNCH T.V. hat tatsächlich den früheren Gitarristen Christopher Lee Simmonds ausfindig gemacht und ihn eine knappe dreiviertel Stunde über die Geschichte der Band erzählen lassen. Es bieten sich so faszinierende wie abstoßende Einblicke in die Welt der thOught industry. Die wichtigsten Erkenntnisse, erstens: man muss nicht miteinander befreundet sein, um großartige Musik zu machen. Zweitens: Metal Blade waren (?) offenbar mal ein totaler Saftladen. Drittens: Suff und Drogen killen jede große Band, es ist schlicht erschütternd.
Wer die Band bislang nicht auf dem Radar hatte und nun Lust auf ihre Musik bekommen haben sollte: es ist egal, welches ihrer Alben man anwählt - sie sind alle (!) großartig. Kein Witz. Isso.
Das Debutalbum von Wardown war einen Tick zu spät dran, um noch in die Liste zu rutschen. Ende 2020 auf dem gleichnamigen Label der Drum & Bass-Institution Blu Mar Ten veröffentlicht, hatte ich das Gefühl, ich müsse zunächst noch mehr Zeit mit dieser Platte verbringen. Und ganz ehrlich gesagt: alles, was mir bei der Auswahl für die Top 20 mit einer halbwegs guten Entschuldigung keine schlaflosen Nächte bereitet, ist immer gern genommen. Dabei war es schon im November des letzten Jahres nach wenigen auf Bandcamp gehörten Songs entschieden, dass die Platte zumindest den Status eines neuen Mitbewohners erhalten wird. Fast ein halbes Jahr später ist ebenso klar, ein paar Worte über dieses bemerkenswerte Album verlieren zu müssen.
Wardown ist das Projekt von Pete Rogers, einem Teil des Drum & Bass-Duos Technimatic, und auch wenn meine Lebensrealität noch nie eine erwähnenswerte Schnittmenge mit Drum & Bass aufwies, ich also ausnahmsweise nicht über Gebühr mit Sentimentalitäten zu kämpfen habe, traf "Wardown" schon nach wenigen Sekunden einen Nerv - denn mit den übrigen Sentimentalitäten, die Rogers auf dieser Platte aufwühlt und verarbeitet, kenne ich mich aus: "Wardown" ist ein Tagebuch verwischter Erinnerungen an seinen Heimatort Lutons, in dem er aufwuchs. "An account of physical, temporal, familial, musical and sentimental dislocation." - und da werden meine regelmäßigen Leser über meine just an dieser Stelle gespitzten Ohren eher unterrascht sein, denn: this hits home, wie Peter Griffin sagt. Hier schreibt immerhin der Fachmann für derlei Nostalgie.
Rogers hat "Wardown" aus Aufnahmen alter Mixtapes aus seiner Kindheit zusammengeschnippelt und mit Sprachaufzeichnungen mittlerweile verstorbener Familienmitglieder und Field Recordings aus dem Zentrum der Nahe London liegenden Stadt garniert und dabei das deutsche Wort im Fokus gehabt, für das es im Englischen nur unzureichende Übersetzungen, allenfalls eine Kombination aus ähnlichen Begriffen gibt: Sehnsucht, "an inconsolable longing in the heart for we know not what". Die Produktion passt sich dieser delikaten, sensitiven und überaus persönlichen Ausrichtung an: wo vor allem frühe Drum and Bass Sounds oft krude und schroff erschienen, ein stilistisches Relikt aus alten UK Jungle-Zeiten, wirkt "Wardown" sanft und fließend, ohne dabei den Weichzeichner zu bemühen: die Konturen sind klar und crisp, und wenn im Opener "Culverhouse" nach ein paar Minuten die erste D'n'B-Abfahrt beginnt, fegt mich der Druck der Basslines fast aus dem Sessel - was nicht zuletzt auch an der tollen Pressung liegt. Der über diesem Album liegende Schleier von Traurigkeit, in diesem Zusammenhang sei auf den perfekten Blend aus elegischem Ambient und D'n'B-Beats im großartigen "Susurration" verwiesen, entwickelt sich in erster Linie aus dem Vibe des Verpassten, des Vergessenen, des Vergänglichen, den Rogers herausgearbeitet hat.
Ein bemerkenswert persönliches und emotionales Wunderwerk elektronischer Musik.
Die Redaktion von 3,40qm freut sich ganz besonders, Ihnen heute eine Leseprobe des mittlerweile aus den Katalogen gestrichenen Zukunftsromans "2021 - Gedanken im Nachttopf" des Gelsenkirchener Autors Schlötz Kügelründ aus dem Jahr 1994 vorstellen zu dürfen. Das 116 Seiten starke Manifest ist das zentrale Werk im Schaffen des streitbaren Toast Hawaii-Liebhabers und frivolen Felgenbürsters und gilt unter Fachleuten als Klassiker im immer noch unterschätzen Genre der WC-Literatur. Weitere Bestseller des Kügelründ sind "Trendkacke. Braucht kein Schwein", eine einfühlsame Erzählung über Körperhygiene, Elektrizität und Brennessel-Knoblauch-Smoothies im urbanen Brennpunkt Olpe und "Hexenpisse", eine Biografie über die westdeutsche Ulknudelkapelle Rave Zigger mit einem Vorwort von Flips Bolzenkahl-Kahlenbolz. Und nun wünschen wir viel Spaß mit der folgenden Leseprobe aus dem Roman "2021 - Gedanken im Nachttopf".
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"Achtung, "Real-Talk": Es gibt keine schlechtere Musik als schlechten Heavy Metal. Schlechter Metal ist die furchtbarste, peinlichste, absurdeste, verschissenste Musik auf diesem Erdball. Ich würde mir lieber freiwillig eine Platte von Bob Marley anhören oder den Eurodance-Remix von "Ob-La-Di, Ob-La-Da" von den verdammten Beatles in Endlosschleife, als eine Minute schlechten Metal. Schlechter Metal ist unecht. Gespielt, aufgesetzt, künstlich, kommerziell endverwertet, aufgeblasen, over-confident, muskelbepackt. Er trieft vor Testosteron, riecht nach Reihenhausküche, er spricht "Mutti ist die Beste" und denkt "Frauen an den Herd", er fährt einen SUV von Volkswagen, in dem es jeden August auf "Wackööön" geht, abfeiern und danach wählt man die CDU. Eine Linie. Eine fucking Linie.
Der US-amerikanische Produzent Mick Realo, der im Jahr 2021 als "You Tube Influencer" Bekanntheit erlangte, einer sich zur Mitte der 2010er Jahre entwickelnden und auf den Leichenbergen der postdekadenten Generation Z tanzenden Lebensform, stellte kürzlich die Top Ten der meistgestreamtengespielten Metal-Songs auf Shitify vor, und wenn es danach geht, muss man sich um den Herrn Heavy Metal wirklich so rein gar keine Sorgen mehr machen; der liegt nämlich schon mausetot in der Kiste - und wenn man diesen überproduzierten Kitschkackhaufen, diesen substanzlosen Einheitsbrei, diese leidenschaftslose und bis zum blanken Kotzen glattpolierte Fickpisse hören muss, kann man nur sagen: Glück gehabt! Aber es sind nicht nur die jungen Bausparer, die sich so schamlos an der Idee der einst so rebellischen Subkultur vergehen - die ließen sich in einem Paralleluniversum schließlich noch mit der unvermeidbaren Degenerierung im Zeichen von Weiterentwicklung und der damit verbundenen turbokapitalistischen Komplettverwertung von Kultur durchwinken und also wegfloskeln. Bedeutend schwerer fallen jene ins Gewicht, die sich aus der schwermetallischen Ursuppe der späten 1970er und 1980er Jahre emporwürmelten, die mit unbekümmerter Naivität, echter Lebensfreude und authentischem Krach zu Vorreitern und Fixpunkten einer ganzen Generation junger Heavy Metal-Fans wurden - und sich 30 Jahre später von neureichen Businesskaspern als gut getarnte Zirkuskapelle am mittlerweile rostigen Nasenring durch die Manege schleifen lassen und ihre wie Gebirgsmassive zerklüfteten Hackfressen in Hochglanzvideos zeigen müssen, in denen sie ihre auf 340 Gigapascal hochgepeitschte leere Hülle einer ehemaligen Ahnung von Heavy Metal im Vollplayback vortanzen. Solche mausetot klingenden und bis zur Unkenntlichkeit durchgestylten Alben von Bands wie Onslaught oder, Gott steh' mir bei: den ehemaligen Alleskönnern von Heathen, die mittlerweile wohl nicht nur ihre Musikproduktionen, sondern gleich die ganze Bandbesetzung am vielzitierten Reißbrett entwerfen lassen, sind das eigentliche Ende des Heavy Metal, wie wir ihn mal kannten. Eine tieftraurige und gleichzeitig quietschfidel inszenierte Vollverarsche "von Behämmerten für Behämmerte" (Holger Stratmann) - das ist schon kein potemkinsches Dorf mehr, das ist ein ganzer verschissener potemkinscher Planet.
Es braucht ein Gegengift. Ein starkes Gegengift. Ein stark rumpelndes Gegengift."
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Wir beamen uns zurück in die Gegenwart.
Wenn sich eine Band nach einem alten Song der Science Fiction-Metallegende Voivod benennt, ist das schonmal ein guter Anfang für eine möglicherweise sehr tiefe Freundschaft mit meinem Herzen, und wenn ihr hysterisch hackender Black/Thrash Metal dann auch noch so klingt, als würden Venom seit 30 Jahren die längste Treppe der Welt herunterfallen und dabei ununterbrochen von einer manischen Sabina Classen angebrüllt werden, dann ist das wenigstens charmant - und manchmal sogar ein bisschen mehr als das. Das katalanische Quartett kann modernen Metal genauso wenig ab wie unser eben zitierter Schlötz Kügelründ und spielt sehr kompromisslos nur das, auf was es Bock hat, als Hobby. Dahinter steckt kein großes Label, ehrlicherweise nicht mal ein mittelgroßes, dahinter steckt auch kein ausgeklügelter Marketingplan, der mit den Extremen protzen muss - Korgüll nehmen einfach seit 2008 stoisch ihre Musik auf, die fürs sanftgebettete Mainstream-Pack völlig unzugänglich, kaputt und derb klingen muss: "Sharpen The Spikes" steht auf Bandcamp bei nur 85 Menschen in der Sammlung, auf dem Plattensammlersupergiganerdportal Discogs sind's gerade mal 25 Besitzer. Aber man ahnt auch ohne ausgefeiltes Studium dieser Platte, dass ihr räudiger Mix aus 1980er Patronengurtgeballer und 1990er Black Metal-Mystik entweder etwas für den fortgeschrittenen Kenner oder aber für den zurückgebliebenen Kartoffelficker ist. Die "Meddal-Midde" (Birne) hält sich die Ohren zu.
"Sharpen The Spikes" ist ein durch und durch echtes, rebellisches, in Teilen kakophonisches, irre (IRRE!) treibendes Lets-Fetz-Gehacke aus dem Bilderbuch, schwer behängt mit Nietenarmbändern und mariniert in billigem Bier, hinsichtlich der Intensität eventuell mit einer zugekoksten Version der Mitt/Endneunziger Blackthrash-Urgesteine von Defleshed vergleichbar, nur lässiger, wilder und noch roher. Das geht logischerweise nicht immer klar in meiner Realität, und die Herzallerliebste lässt nach dem ersten, auf selbstredend infernalischer Lautstärke abgespieltem Urschrei von Sängerin Lilith Infernal Punisher nur ein trocken-bedrohliches "Is' klar!" in den Raum gleiten, aber in manchen Momenten kalibriert mir dieser primitive Chaoshäcksler die hohle Denkmurmel so aufs Vortrefflichste wieder auf NormalNull, dass ich mich diesem Zauber des wahren, echten, reinen, unverfälschten und unkaputtbaren katalanischen Superstahls einfach nicht entziehen kann.
Da waren Psychotic Waltz für sage und schreibe 23 Jahre weg vom Fenster und veröffentlichen ihr erstes Album seit 1997 nach jahrelangem und schier endlosem Warten ausgerechnet im Februar 2020, und damit kurz bevor Covid-19 die Welt zunächst stoppen und dann vermutlich langfristig verändern sollte - hier von "schlechtem Timing" zu schreiben, wäre eine geradewegs unanständige Untertreibung. "The God-Shaped Void" wäre ähnlich wie "Long Day Good Night" von Fates Warning unter normalen Umständen ein sicherer Kandidat für meine Top 20 des Jahres gewesen und wie es die geneigte Leserin, der geneigte Leser (nicht) lesen konnte: es kam schon wieder anders.
Ich weiß schon: es herrschen nicht erst seit gestern schlechte Zeiten für Mut und Experimentierfreudigkeit im Heavy Metal, ganz besonders gilt das für Bands älteren Semesters, deren Wiederbelebung klassischerweise auf die paar Handvoll Fans zugeschnitten ist, die von früher übrig geblieben sind. Als Psychotic Waltz im Sommer 2017 eine kleine Europatournee aufzogen, fanden sich im Frankfurt Club "Das Bett" optimistisch geschätzte 150 Leute ein, die unter Garantie allesamt bereits 1997 in der Offenbacher Hafenbahn zur Tour des damals aktuellen "Bleeding" Albums anwesend waren, das verrieten die gleichermaßen ausgeblichenen und verkrumpelten Bandshirts und Gesichter. Dass jene Gruppe in aller Regel nicht (mehr) zu den Draufgängern zählt, den musikalischen zumal - im Alter wird man erstens komisch und zweitens erschütternd oft konservativ - ist wenig überraschend. Hinzu kommt im Falle der Anhänger von Psychotic Waltz sicherlich auch der Umstand, in einem von großen musikalischen Verwerfungen gezeichneten und damit stark polarisierten Jahrzehnt wie den neunziger Jahren aufgewachsen zu sein; ein Jahrzehnt, in dem alles, was sich auch nur einen Nanometer von der reinen Metallehre entfernte, in der Wahrnehmung der Fangemeinde automatisch zu Dreck wurde. Und es benötigt vermutlich auch kein Studium der Wirtschaftspädagogik, um nachvollziehen zu können, dass eine Band, die die Rückkehr nicht mehr als zwingendes Lebenselixier, sondern lockere Feierabendsause unter Freunden begreift, sich nicht in ihre Einzelteile zerreißen wird, um ein künstlerisch ambitioniertes Statement zu veröffentlichen, das die Zuhörer schlimmstenfalls verwirrt; da sollen bitte nach einer Tournee noch dreifuffzig im Portemonnaie landen. Ist alles geschenkt, ich weiß das, ich versteh' das.
Nun nehme ich bereits mit meinen 43 Jahren erschreckenderweise bereits ziemlich ungute Entwicklungen im Sinne eben/oben genannter Parameter bei mir selbst wahr, habe mir aber immerhin meine Abenteuerlust in Sachen Musik behalten können - paradoxerweise ebenso bestimmt von den 1990er Jahren, nur vice versa: der Anything Goes-Vibe ist für mich noch immer über alle Maßen attraktiv. Und um ehrlich zu sein, falle ich damit aus der Zielgruppe für "The God-Shaped Void" raus. Plumps.
"The God-Shaped Void" ist ein gutklassiges, wenn auch leicht antiquiert wirkendes Metalalbum geworden, das die Verspult-, Verrückt- und Verspieltheiten vergangener Zeiten konsequent vermeidet. Was das immerhin in Originalbesetzung auftretende Quintett anbietet, ist für Waltz'sche Verhältnisse äußerst konventionell und gemütlich geraten, wenngleich sich stilistisch zu den beiden Vorgängern "Mosquito" und "Bleeding" gar nicht mal so viel geändert hat: dicke Grooves, dezent heruntergedimmtes Powerchord-Riffing, ausladende Melodiebögen und spacig-bekifftes Abtauchen in Synthieglitter gab es in hochkonzentrierter Form schon nach ihrem deutlichen Stilwechsel zur Mitte der neunziger Jahre zu hören. Wofür man 1997 aber lediglich drei Minuten benötigte, dauert heute fast immer fast doppelt so lang, und das Konzept geht nicht nicht so richtig auf: natürlich lassen sich auf "The God-Shaped Void" immer noch herausragende Momente entdecken, die sich nur diese Band ausdenken kann,. Wo jedoch früher die Ideen superverdichtet wurden, um sie in kleine funkelnde Diamanten zu pressen, zieht sich heute so manches wie Kaugummi. Hier eine Wiederholung, da noch eine Wiederholung, zweites Solo, drittes Solo, und warum zur Hölle nicht nochmal der Refrain zum Schluss? Ein Track wie "Sisters Of The Dawn" hätte zweifellos auch auf "Bleeding" stehen können - nur eben drei Minuten kürzer, knackiger. interessanter. fokussierter. Über Vergleiche zu den ersten beiden Sternstunden ihrer Karriere "A Social Grace" und "Into The Everflow" müssen wir im Jahr 2020 endgültig nicht mehr reden. Genausowenig übrigens wie über den Fremdscham-Text von "While The Spider Spins", der mit nachdenklichen Hinweisen alter Männer über die Mediendiät junger Menschen referiert. Sweet baby jesus, srsly? Hat da irgendwer mal auf den Kalender geschaut?
"The God-Shaped Void" ist ein gutes, bequemes Alterswerk. Ich freue mich wirklich, nochmal neue Musik von einer meiner absoluten Lieblingsbands hören zu dürfen, aber ein bisschen mehr Mut und Mumm hätten wirklich nicht geschadet.