17.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler (3): Ministry - The Mind Is A Terrible Thing To Taste



MINISTRY - THE MIND IS A TERRIBLE THING TO TASTE


"Man muss die Erscheinung des hässlichen Echten grundsätzlich verteidigen", schrieb Roger Willemsen mal in Anlehnung an die lebensverändernde Begegnung mit der Ausnahmekünstlerin Sinéad O'Connor und ihren Kampf mit einer Unterhaltungsindustrie, die keine Liebe für sie hatte, denn: wenn kein Konsens herzustellen ist, ist es nicht attraktiv. Wenn Künstler sich selbst und ihrer Verwertungsmaschinerie Schaden zufügen können, wenn es Selbstzerstörerisch wird, peinlich, werden Existenzberechtigungen in der Öffentlichkeit entzogen. 

Mich erinnerte das an meinen im Jahr 2020 zweiten gefeierten Frühling mit Ministry und ihrer wohl prägendsten Phase von 1988 bis 1998. Weniger, weil man Ministry Existenzberechtigungen entziehen wollte, schließlich fand die erfolgreiche Selbstidentifikation mit der Band nicht zuletzt über den inszenierten Tabubruch statt, über Extreme und Enthemmung, sondern weil Ministry in ihrer Hochphase für totale Anarchie standen, für beidseitigen Kontrollverlust. Das war in der dargestellten Echtheit tatsächlich hässlich, peinlich, selbstzerstörerisch und damit auch gefährlich. Für jene, die außer Kontrolle waren, für jene, die sie kontrollieren wollten, wo nicht mussten, und für jene, die von Außen zuschauten. 

Ministry waren ein großer Zirkus, eine Attraktion, der Mann mit den zwei Köpfen und vier Pimmeln - aber sie waren es vor allem, weil sie echt waren, echt kaputt. Disturbed. Die Anziehungskraft einer Platte wie "The Mind Is A Terrible Thing To Taste" geht von einer wahren, realen Gefährlichkeit aus. 

Al Jourgensen und Paul Barker waren über knapp 15 Jahre außer Rand und Band. Ich kann mich von schäbigem Voyeurismus leider nicht durchgängig freisprechen.


         

Erschienen auf Sire, 1989.


16.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (2): Blood Incantation - Hidden History Of The Human Race

 

BLOOD INCANTATION - HIDDEN HISTORY OF THE HUMAN RACE


Dass mich im Jahr 2020 wirklich nochmal ein halbwegs aktuelles Death Metal Album an den Haken bekommt, das darüber hinaus auch noch für ein immerhin klitzekleines Genre-Revival in der Casa Dreikommaviernull verantwortlich ist, stand auf der Liste der antizipierten Szenarien des Jahres im Anhang unter dem Punkt "Zu grotesk, bitte vernichten". Schuld daran ist Freund Andreas, der sich beim Verteilen von Plattentipps normalerweise erstmal wochenlang unter starken Schmerzen windet, bis er sich dazu entschließt, besser doch nichts zu sagen: wenn einer wie er also also schlussendlich trotzdem tief durchatmet und die Neon-Werbeleuchtreklame anknipst, dazu etwas von "instant classic" schreibt, heißt es, die Ohren zu spitzen. Ich spitzte - und stimmte kurze Zeit später in den "instant classic"-Chor ein. 

"Hidden History Of The Human Race" ist technischer Death Metal, zu gleichen Teilen modern und oldschool, klingt für diesen Stil ungewöhnlich offen, frei und ist bizarrerweise bei aller Heavyness zu keiner Sekunde aufdringlich. Die Band berichtet, dass weite Teile des komplett analog aufgenommenen Albums unter dem Einfluss psychedelischer Drogen komponiert worden seien - und das ist angesichts der spirituellen Texte, der nicht nur hier und da eingestreuten, sondern deutlich prägenden atmosphärischen Elemente und des wirklich phänomenalen Flows eher unterraschend. Manchmal channelt die Band in den Gitarrenriffs sogar den Geist von Chuck Schuldiner in nie dagewesener Körperlichkeit. Ich war so baff, dass ich in den kommenden Wochen die Herzallerliebste mit einer feinen Auswahl nachgekaufter Death Metal-Klassiker "beglücken" sollte. Sowas ist mir seit 20 Jahren nicht passiert. 

Eines der ungewöhnlichsten und ja, ich sag's jetzt halt: visionärsten Death Metal Alben aller Zeiten.

 

 
Erschienen auf Dark Descent Records, 2019. 


13.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (1): Primal Code - La Via Della Seta




PRIMAL CODE - LA VIA DELLA SETA


Das Album-Debut dieses italienischen Produzenten-Duos gehört zweifellos zu den besten Dubtechno/Ambienttechno-Werken der letzten zehn Jahre und steht in einer Reihe mit "Stillpoint", "Deep Blue 2", "Lanterns" und "Voices From The Lake". Ich bemühte mich tatsächlich schon seit knapp zwei Jahren darum, an die Erstpressung mit dem stimmungsvollen Cover-Artwork auf farbigem Vinyl heranzukommen, aber die Chancen stehen schlecht - wer will sowas Wunderschönes schon verkaufen? 

Im abgelaufenen Scheißjahr hatte das schwedische Label Hypnus Records immerhin ein Einsehen und legte eine zweite Pressung auf, diesmal ohne Cover-Artwork und auf schwarzem Vinyl. Hypnus-Pressungen haben manchmal kleinere Probleme, glücklicherweise gilt das aber nicht für dieses Meisterwerk. Die beiden Platten sind flach, leise und das Mastering macht diese Pressung zu einem echten Genuss. Einnehmend, kristallklar, deep as fuck. Ich bin normalerweise ganze Universen von einem Hi-Fi-Nerd entfernt, habe auch wirklich überhaupt keine Ahnung von gar nichts und will im Prinzip auch nichts damit zu tun haben, aber da seit ein paar Tagen mit dem Audio-Technica VM540 ML ein neuer Tonabnehmer seine Kreise über die Sammlung ziehen darf, muss ich vermelden, dass ich beim Abspielen von "La Via Della Seta" kurz davor war, mir ein schönes warmes Tässchen Heroin aufzubrühen und zur Sven Väth-Gedächtnisfeierei ("This is all about gude Laune, Leude!") in die kochend heiße Badewanne zu steigen. 

Ein Album für die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff. Ein Album fürs Abtauschen in das unterirdische Labyrinth der Sistema Sac Actun. Geleitet zum Ursprung, zum Mittelpunkt, zum Höheren.


   



Erschienen auf Hypnus Records, 2018.


10.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (5): Skyclad - Irrational Anthems


SKYCLAD - IRRATIONAL ANTHEMS


Von Hippie-Eso-Rock der 90er Jahre über Broken Beat, Future Jazz, Noise-Goth zu Folk Metal - und Sie fragen mich ernsthaft, warum hier niemand mitliest?! 

"Irrational Anthems" war das letzte fehlende Vinyl-Mitglied der Skyclad-Sammlung (was nicht ganz richtig ist, weil ich die Picture Disc vor genau 20 Jahren in einem Plattenladen in Lübeck entdeckte - aber...). Ich habe den Fund der Originalausgabe Freund Jens zu verdanken, der seine Augen und Ohren in den Social Media'schen Verkaufs- und Tauschgruppen für mich immer weit geöffnet hat. 

Wie ich zu dieser ehemals so fantastischen Band aus Newcastle stehe, lässt sich für Interessierte HIER nochmal ausführlich nachlesen - wenn's ein bisschen mehr sein darf, klickt man am unteren Bildrand auf "Neuerer Post" und kommt darüber zu den Einzelreviews - und wo wir gerade hier sind, verlangt es der Anstand, auch auf meinen damaligen Text über "Irrational Anthems" hinzuweisen, in dem ich abschließend befand, das Album sei zwar im Prinzip absolut fehlerfrei, als möglicherweise einziges Skyclad-Werk indes nicht so irre gut gealtert. Und es stimmt: einige Songs dieser Platte habe ich in meiner Jugend auch schlicht bis zum Ohnmachtsanfall abgenudelt; der Eindruck also, Hits wie "Penny Dreadful", "No Deposit, No Return" oder "Inequality Street" seien in einer Zeitkapsel eines bestimmten Lebensabschnitts eingeschlossen und könnten nie wieder unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen jener Zeit gehört werden, ist sicherlich nachvollziehbar. 

Das nimmt allerdings nichts von Glanz und Wichtigkeit von "Irrational Anthems", was mir bei der neuerlichen Auseinandersetzung, ganz besonders mit den Songs der vermeintlich zweiten Reihe, bewusst wurde: "Snake Charming", "The Sinful Ensemble"(!), "My Mother In Darkness"(!!), "I Dubious"(!!!) und "Science Never Sleeps" sind einfach unsterbliche Klassiker. 

Und ich erneuere hiermit meine frühere Einschätzung: Diese Band hat in den 1990er Jahren keinen auch nur mittelmäßigen Ton aufgenommen. Alles aus Gold.


   



Erschienen auf Massacre Records, 1996. 

09.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (4): Oddzoo - Future Flesh

 


ODDZOO - FUTURE FLESH


Die Herzallerliebste und ich beschlossen vor etwa drei Jahren, uns nach einer langen Zeit der Tanz-Abstinenz wieder öfter ins Nachtleben Frankfurts und der angeschlossenen Funkhäuser zu schmeißen. Nach einigen Tests mit ganz, äh, unterschiedlichen Erfahrungen und Ergebnissen, sollten vier Etablissements in der engeren Auswahl für die wochenendliche Abendplanung verbleiben. Eine Nacht, die künftig als feststehender Termin gebucht war, war der Fürstentanz im Gambrinus in Bad Homburg, eine Gothicparty, die für uns weniger wegen der Affinität zu solchen Sounds, als viel mehr durch die immer angenehmen Gäste interessant wurde. Keine Besoffenen, kein aggressives Verhalten, keine Idioten - keine offensichtlichen immerhin - what's not to like? 

Oddzoos "Future Flesh" haben wir auf dem Mainfloor noch nicht gehört, aber es wäre weder Stilbruch noch Überraschung: das französische Trio pendelt zwischen einer teils durchaus ruppigen und überdimensioniert arrangierten Noise-Ästhetik und pompösen, elegischen Melodiebögen und entwickelt in diesen Momenten nicht zuletzt wegen der glockenklaren Gesangsstimme ein bizarr wirkendes Pop-Verständnis, das für mindestens zwei Tanzflächenmonster in Deiner Gothic-Datsche gut sein dürfte. 

Besonders herausragend: die mit großen Refrains zugeballerten "Little Death", "Lunesta" und das abschließende "Singularity". Wenn Martin Gore, Danny Cavanagh und Chris Corner ein Nebenprojekt gründen würden.


 



Erschienen auf Blood Music, 2018.


08.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (3): The Cinematic Orchestra - Motion




THE CINEMATIC ORCHESTRA - MOTION


Talking about "zeitloser Klassiker" und "Wiederentdeckung": "Motion" des Cinematic Orchestras passt wie Jazzanovas "In Between" in beide Kategorien. Die Vinylfassung des 1999 erschienenen Debuts dieses Kollektivs stand bereits seit vielen Jahren auf meinem Wunschzettel, aber es sollte erst im Herbst des Jahre 2020 endlich soweit sein. 

Mein erstes Zusammentreffen mit "Motion" muss wie bei "In Between" etwa zur Mitte der nuller Jahre stattgefunden haben; einer sehr turbulenten Zeit, in der sich mein Leben praktisch alle zwei Wochen neu erfand - und neu erfinden musste. Ich entdeckte elektronische Musik, ich entdeckte Jazz und irgendwie entdeckte ich mich dabei selbst mehr und besser als in den vorangegangenen 28 Jahren. Die innere Befreiung, dass es mehr zu sehen, denken und fühlen gab, öffnete mich im Außen für Inspiration und Neugier. Es brauchte in diesem Zustand keine besondere Anstrengung, mich in einem Album wie "Motion" gleichermaßen zu spiegeln und zu verlieren. Die Atmosphäre aus verdichtetem cut-and-paste Jazz und grobkörniger Electronica entwickelt eine unnachahmliche Dringlichkeit und wirkt spätestens beim Höhepunkt "Night Of the Iguana" wie ein Film Noir-Soundtrack from outer space: fremdartige Bewegungen aus der Tiefe der Nacht, des Raums und der Zeit. 

Fanfaren, Drama, Kontemplation und Exzess.


   



Erschienen auf Ninja Tune, 1999.


05.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (2): Jazzanova - In Between




JAZZANOVA - IN BETWEEN


Es war gar nicht so leicht, ein gut erhaltenes Exemplar des Jazzanova-Debuts zu ergattern, wenn man nicht gleich einen japanischen Postdienstleister bemühen wollte, und ich kann nur spekulieren, dass die drei Scheiben von "In Between" auf den Plattenspielern dieser Erde über die letzten 18 Jahre so oft, so lange und mit so viel Begeisterung gespielt wurden, bis mit letzter Kraft und zitternder Hand nur noch ein "G+" in das Feld für die Zustandsbeschreibung auf dem Plattensammlerportal Discogs eingepflegt werden konnte. Ich könnt's verstehen.

"In Between" war neben "The Cosmic Game" der Thievery Corporation mein Einstieg in die Welt elektronischer Musik und trotzdem rutschte es mir bis zum 2018er Comebackalbum "The Pool" unerklärlicherweise vom Radar - und nachdem ich mich angemessen geschämt hatte, begab ich mich für die nächsten zwei Jahre, ich habe ja sonst auch nichts zu tun, auf die Suche nach dieser LP. Und als ich sie endlich fand, fehlten die Original Inlays von zwei der drei Platten. Die Leiden des alternden Plattensammlers im Jahr der globalen Pandemie. Es geht schon wieder, danke für die Nachricht.

Das erste Auflegen in der brütend heißen Behausung im Frankfurter Westen schleuderte mich gefühlsecht in den Frühling des Jahres 2005, ins riesige Wohnzimmer unserer Wiesbadener Altbauwohnung mit den großen Fenstern und den langen weißen Vorhängen, durch die sich der Duft des herannahenden Stadtsommers mit dem sanften Aroma des frisch gebrühten Jasmintees vermählte und dem leichtfüßigen, raffinierten Gemisch aus Downtempo, Broken Beat, Jazz und HipHop einen passenden Rahmen schenkte. "In Between" ist Jazz für den Club, sophisticated, urban, elegant, sexy.

This stuff just never gets old. 

                     

Erschienen auf Jazzanova Compost Records, 2002.

04.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (1): Three Fish - The Quiet Table



THREE FISH - THE QUIET TABLE

Harald Schmidt sagte mal, dass maximal zwanzig Bücher ausreichten, um das Leben angemessen ausgestattet zu bestreiten, verbunden mit dem Hinweis auf die Tagebücher von Julien Green, in denen es heißt, dass am Ende seines Lebens nicht mal mehr Thomas Mann der groben Entflechtung des Literaturbestands standhielt. Immer öfter stehe ich selbst vor der Schallplattenwand und ertappe mich bei ähnlichen Gedanken. 50 Alben - mehr braucht's eigentlich nicht. Gib mir meinen Coltrane, meinen Scott-Heron, den Soundtrack meiner 90er Jahre Adoleszenz und fünf, sechs Metal-Hackepeter aus der Ursuppe der 1980er Jahre und ich bin okay. 

Die beiden Platten der Low-Key-Supergroup Three Fish würden diesen Auswahlprozess mühelos überstehen, sie fielen in den Eimer mit den dreckigen, nach Benson & Hedges und Zino müffelnden Karohemden meiner Neunziger. Tribe After Tribe Sänger/Gitarrist Robbi Robb, Pearl Jam-Bassist Jeff Ament und Wundertrommler Richard Stuverud veröffentlichten vor über 20 Jahren zwei herausragende, größtenteils ruhige, spirituelle Werke, geschmückt mit Einflüssen und Instrumenten des mittleren bis fernen Ostens, meistens aus lockeren Jamsessions entwickelt und in Aments Homestudio in den Bergen von Montana aufgenommen. Während das selbstbetitelte Debut noch hier und da auffindbar ist, ist das Vinyl von Album Nummer Zwo - "The Quiet Table" - mittlerweile leider sehr selten geworden. Es wurde über die letzten Jahre zu einer meiner meistgesuchten Schallplatten.  

Seit dem Quarantänen-Sommer 2020, einer Gelegenheit sowie einem großen Schuck aus der "I Just Don't Give A Fuck Anymore"-Pulle, liegt die Platte nun also regelmäßig auf meinem Teller, und ich freue mich sehr über diese zeitlose, klischeefreie, psychedelische und leider vergessene Perle der neunziger Jahre. 

Die perfekte musikalische Begleitung für den nächsten gemütlichen Abend im Opiumrausch. Der Quarantäne-Winter 2021 kann kommen. 


   


Erschienen auf Epic Records, 1999.


03.01.2021

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (5): PJ Harvey - Dry

 




PJ HARVEY - DRY


1992 in der Keimzelle des Anything Goes-Vibes veröffentlicht und ein Klassiker des Alternative Rock, vielleicht gar eines der letzten wirklich großen Rockalben von der Insel der Brexit-Besinnungslosen: das Debut der britischen Sängerin und Multiinstrumentalistin ist lauter Weirdo-Blues, giftiger Feministenpunk, knarzender Noise. Das Trio, allen voran Schlagzeuger Rob Ellis mit seinem unwiderstehlichen Powerhouse-Drumming, holzt sich bis auf wenige Ausnahmen ("Happy And Bleeding" und "Plants And Rags") furios durch ein Album, von dem PJ einst dachte, es würde nicht nur ihr erstes, sondern auch gleichzeitig ihr letztes sein - was sie dazu bewog, für die Produktion alles in die Waagschale zu schmeißen, was sie hatte. 

Wie viel sie wirklich hatte, wird auf diesem fantastisch klingenden Reissue nochmal offensichtlicher. Nie war der Vergleich zwischen totkomprimierter gestreamter Billigscheiße von den Musikhassern von Shitify und einer famos gemischten, gemasterten und perfekt gepressten Schallplatte sowohl eindrucksvoller als auch schmerzhafter als hier. Ein einzigartig beißender Gitarren- und Basssound, ein die Mauern von Jericho zum Einsturz bringendes Drumset und eine Stimme, die zu gleichen Teilen selbstbewusst, sexy und fragil eine ungeheure Präsenz ausstrahlt. Die grundsätzliche Idee, "Dry" exakt auf diese Art zu inszenieren, war für den im karierten Flanellhemd steckenden "Flori" (Mama) schon 1992 eine bemerkenswerte Entscheidung - knapp dreißig Jahre später wird sie dank dieser Neuauflage zur Sensation.


 



Erschienen auf Too Pure, 1992/2020.

01.01.2021

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (4): Jackie McLean - It's Time

 




JACKIE MCLEAN - IT'S TIME


Über Blue Notes im Jahr 2019 gestartete Tone Poet-Reihe gäbe es genügend Gründe, um bis nächsten März durchzuschreiben und ich muss mich ein ganz kleines bisschen beherrschen, es nicht wirklich zu tun. Vielleicht braucht es demnächst an dieser Stelle mal etwas Ausführlicheres zu der ein oder anderen Platte.  

Die in die Fußstapfen des eigentlich im Jahr 2018 gestoppten und im Jahr 2019 mit einem Verweis auf das neu eingesetzte SRX Vinyl, ausgeschrieben "Silent Running Xperience" - dafuq r u talkin' about?! - überraschend wieder gestarteten Music Matters-Projekts (Neupreis 75 Dollar pro Platte, natürlich alles längst ausverkauft) tretende Tone Poets-Serie soll vermutlich den Markt der Viertel- bis Halbstarken audiophilen Zielgruppe bedienen und bietet eine sich sehr wertig anfühlende und -hörende Schallplatte auf 180g schwerem Vinyl, gepresst von Record Technology Incorporated in Kalifornien, zu Hause in einem dicken Tip-On Gatefold-Cover mit eleganten und großformatigen Schwarzweiß-Fotografien. 

Gemastert von Kevin Gray von den originalen Mastertapes unter der künstlerischen Aufsicht von Music Matters-Gründer Joe Harley soll sich Tone Poet hinsichtlich der Titelauswahl in erster Linie auf die eher unbekannten oder gar obskuren Alben aus dem Blue Note Katalog konzentrieren. Die erste Veröffentlichung im Februar 2019 war gleich ein solch obskurer Fall: Wayne Shorters "Etcetera" wurde ursprünglich 1965 aufgenommen, von den damaligen Verantwortlichen Blue Notes aber aus unbekannten Gründen bis ins Jahr 1980 in den Safe gesteckt und erst dann mit einem zu jener Zeit so typischen wie hässlichen Blue Note-Artwork herausgebracht. Ein Großteil der danach erschienenen Tone Poet-Editionen machen es dem Beobachter indes nicht ganz so leicht, einen roten Faden in der Auswahl der Titel zu entdecken. So ist mir auch der Hintergrund für "It's Time" nicht ganz klar. Das Album war bis in die 1980er Jahre hinein verfügbar und wurde erst 2016 für den europäischen Markt von Elemental Music (Spanien) lizenziert und mit einer ebenfalls als "audiophil" vermarkteten Pressung von GZ Media (lol) veröffentlicht. Unabhängig von den ganzen Fragezeichen über die unterschiedlichen Pressungen ist "It's Time" aber ein weiteres beachtenswertes und für die Zeit der Aufnahme sowohl typisches als auch untypisches McLean Album. Zwei der drei Tracks von Trompeter Charles Tolliver, hier auf seiner vermeintlich allerersten Plattenaufnahme überhaupt zu hören, wagen sich vor allem in den Solopassagen in den Bereich des Free Jazz vor, folgen dabei allerdings einer greifbareren Ästhetik als es McLean auf seinen ebenfalls freieren Alben jener Zeit wie "One Step Beyond" oder "Destination...Out" getan hat. Weniger tonale Überforderung als freigetupfte, windschiefe Arrangements (Grachan Moncur, Grachan Moncur, Grachan fucking Moncur!). Auf "It's Time" ist es vor allem Herbie Hancock zu verdanken, den Rest der Rasselbande nicht zu weit draußen wildern zu lassen; er knüpft das Band zum Hard Bop und hält es zumeist fest in der Hand. Das Quartett arbeitet also nicht selten in einer Art Zwischenwelt - und dort kannte sich McLean zu jener Zeit besonders gut aus.   

Alles an dieser Veröffentlichung ist zum Heulen schön: die Musik, die Pressung, das Artwork - man möchte sich geradewegs reinlegen. Was nicht so schön ist, ist der in Europa sehr hohe Preis von knapp 40 Euro pro Exemplar der Tone Poet-Serie. Gemessen an den mittlerweile aufgerufenen Preisen für die bekannteren Titel der Music Matters Reihe ist das freilich ein Schnäppchen. Aber ich frage mich trotzdem die ganze Zeit: werde ich hier eigentlich kolossal verarscht? Und, viel schlimmer: Interessiert mich das wirklich?


 



Erschienen auf Blue Note 1965/2020. 


Die besten Vinyl-Reissues 2020 (3): Fates Warning - Inside Out

 



FATES WARNING - INSIDE OUT


Auch Metal Blade haben sich erbarmt und den Vinylfreunden mit der Wiederveröffentlichung des 1994er Albums "Inside Out" von Fates Warning eine große Freude gemacht und eine Lücke geschlossen, die für meinen Geschmack zu lange unbeachtet blieb. Zwar galt das im weitläufigen Fahrwasser des Überraschungserfolgs von Dream Theaters "Images And Words" veröffentlichte Album zunächst als zu kommerziell und damit als kleine Enttäuschung, für mich war "Inside Out" aber zusammen mit Tiamats "Wildhoney" und "Word Of Mouth" von Vicious Rumors DER Soundtrack meines Sommers 1994 und weckt damit, der emotionalen Verdrängungsleistung eines Öltankers sei Dank, ausschließlich positive Gefühle. 

Aber auch ohne alberne Verklärung zeigt die Platte eine vor allem hinsichtlich der melodischen Präzision gereifte Band. Wer zum Vergleich das unrunde Gehacke von "No Exit" aus dem Jahr 1988 hört und mit der harmonischen Kaltnadelradierung eines "Shelter Me" vergleicht, glaubt kaum, dass es sich noch um dieselbe Band handelt. 

Die Pressung auf coloriertem Vinyl ist wie von Metal Blade gewohnt absolut fehlerfrei, dazu gibt's ein großformatiges Poster, einen Downloadcode (Bandcamp) und einen Einleger mit Texten. Das alles zum Sparpreis von 18 Euro. Entzückend!


 



Erschienen auf Metal Blade, 1994/2020.

31.12.2020

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (2): Trouble - Manic Frustration



TROUBLE - MANIC FRUSTRATION


Das war überfällig. Das niederländische Indielabel Hammerheart Records, in der Vergangenheit nicht immer mit blütenweißer Weste hinsichtlich (in)offizieller Veröffentlichungen unterwegs, hat sich mit den Doom Psychedelics Trouble geeinigt und über die vergangenen beiden Jahre einen großen Teil des umfangreichen Backkatalogs der Band neu aufgelegt. 

"Manic Frustration" (1992) gehört neben dem Vorgänger "Trouble" (1990) zum heiligen Gral der Fangemeinde: beide Alben gelten für viele Anhänger als Sternstunden der Band aus Chicago, verstaubten allerdings über viele Jahre in den Notarbüros von Rick Rubins Def American-Label und waren daher seit Ewigkeiten nicht mehr auf Vinyl erhältlich. Die übrig gebliebenen Fans der Band dürfen sich nun über eine Neuauflage freuen, die in fast jeder Hinsicht perfekt umgesetzt wurde: das Remaster drischt die eh schon sehr lebendige Musik geradewegs in einen Jungbrunnen und präsentiert den Proto-Stoner-Sound des Quartetts in einer unnachahmlichen Frische - wofür allerdings das im direkten Vergleich charmant angegraute Klangbild des Originals mit der Ästhetik der 1970er Jahre auf der lässig-groovenden Strecke blieb. Das glossy Cover mit unverändertem Artwork und der Einleger mit Texten sind ansprechend, die Pressung auf (in meinem Fall) rotem Vinyl ist absolut fehlerfrei und klingt irre gut. Im besten Sinne "irre" ist auch die Preispolitik des Labels: das schwarze Vinyl gibt's im eigenen Shop bereits für 15,90 Euro. 

Muss man haben.


 


Erschienen auf Def American Recordings/Hammerheart Records, 1992/2020.


30.12.2020

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (1): June Of 44 - Tropics & Meridians

 


Stoooopp, stoppstoppsto-o-o-o-p-p-p-ppppp! 

Bevor wir uns mit der Top 20 des Jahres 2020 verlustieren, in handgemolkenem Schnakenhonig und mundzerbieberter Biebernussmischung suhlend, robben wir uns zunächst durch das alte Jauchenjahr 2020. 

Erstens: die fünf besten Reissues
Zwotestens: die fünf besten Second Hand-Schätze 
Und Drittens: die fünf besten nachgekauften Platten aus früheren Jahren. 

Ich tippe mir seit Tagen förmlich den Arsch ab, aber das wird gut. Also wenigstens für mich, weil's nämlich Spaß macht. 

Die Top 20 folgen im Anschluss. Wir haben ja Zeit. Gelle?



JUNE OF 44 - TROPICS AND MERIDIANS


Es gibt kein schwaches Album von June Of 44, aber die ersten beiden Werke "Engine Takes To The Water" und vor allem "Tropics And Meridians" sind durchaus Meilensteine des sich Mitte der 90er Jahre langsam emporamorphelnden Post- und Noiserocks zwischen Slint und den frühen Tortoise. 

Es ist einerseits die Dringlichkeit, andererseits die Unschuld in dieser Musik, die durch zerklüftetes Emotionsgebirge gleiten kann wie ein heißes Messer durch Butter. Die Band zieht keinen Pathos aus der verschrobenen und manchmal etwas theatralisch wirkenden Ästhetik, stattdessen pendelt sie manisch zwischen Rückzug und Attacke, zwischen klarer Linie und porösem Zaudern - und alle Räume werden ohne Rücksicht auf Verluste eingenommen. Wer mehr über diese Platte lesen möchte, klickt sich HIER zu meinem Text aus dem Jahr 2012.  

Sowohl "Engine Takes To The Water" als auch "Tropics And Meridians" wurden 2020 auf farbigem Vinyl wieder veröffentlicht, nachdem die Originale in den letzten zehn Jahren etwas kostspieliger wurden. Beiden Ausgaben liegt je ein großes Poster und ein Downloadcode bei. Die Pressungen sind fehlerfrei, das Remaster sorgt derweil für guten Druck und die gerade bei diesen Alben so wichtige Dynamik. Obacht: Auch die Reissues sind in Deutschland leider kaum unter 35 Euro (inklusive Porto) zu bekommen.


 


Erschienen auf Quarterstick Records, 1996/2020.