Die gute Nachricht zuerst: "Flamagra" ist wieder deutlich inspirierter ausgefallen als der Vorgänger "You're Dead", das bis heute einzige FlyLo-Album, das den bitteren Gang zum Second Hand-Dealer antreten musste. Dennoch war auch das sechste Studioalbum zunächst ein Wackelkandidat für die Top 20. Vermutlich ist es meine Erwartungshaltung, die mir (und ihm) immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen will, vielleicht macht man ein Album wie "Cosmogramma" aber auch wirklich nur einmal im Leben. Denn auch wenn die Musikredaktionsstuben zwischen zwei Mariacron aus dem Rollcontainer immer noch derart vehement die seit vielen Jahren bekannten zentralen Aspekte des Sounds von Flying Lotus betonen, erkenne ich zumindest stilistisch nichts bahnbrechend Neues auf "Flamagra" - natürlich ist die Detaildichte seines Sounds immer noch hoch, natürlich sind das immer noch die bizarren, übergroß auf die Kinoleinwand projizierten Science Fiction-Drehbücher und natürlich lassen sich selbst in den etwas zurückgenommeneren Momenten noch mehr eingebaute Bells & Whistles in diesem wahnsinnig kuratierten Gedankenfluss finden, als bei jedem anderen Remmidemmi-Produzenten. Was Flying Lotus für mich indes so einzigartig macht, sind seine Interpretationen von Jazz und Hip Hop und deren Verschmelzung in postmoderne Lebensrealitäten.
Jede der rund 6420 Sekunden von "Flamagra" scheint für einen klitzekleinen Moment ein Bewusstsein darüber zu haben, woher sie kommt und wohin sie geht Und jede einzelne erzählt in atemberaubender Geschwindigkeit Mikro-Poesie vom Anfang und vom Ende ihrer Welt - und aus diesem virtuellen Netz von Gedanken, Ideen, Hoffnungen und Enttäuschungen speist sich der ganze gottverdammte Scheißkosmos. Blingbling.
Der sehr geschätzte und vor allem loyale Leser dieses Blogs weiß es: ich habe einen Narren an dieser Band gefressen. Seit ihrem "Cali Fever" Album aus dem Jahr 2010 verfolge ich die Wege des Funk-Kollektivs und belästige es auf allen verfügbaren Kanälen des Internets (bislang erfolglos) mit der unterwürfigen Bettelei, doch bitte endlich eine Tour durch Deutschland zu buchen. Stattdessen nehmen sie regelmäßig neue Platten auf, die in erster Linie als Standortbestimmung zu dienen scheinen, als Skizze des derzeitigen Entwicklungsstands. Seit einiger Zeit marschiert die Combo aus den noch etwas räudigen San Francisco-Funkbecken in den etwas smootheren Bereich der Bar, in dem die Sessel mit rotem Samt bezogen sind. Vielleicht steht man mittlerweile mit einem Bein sogar in den 1980er Jahren - und das nicht nur wegen der Extraportion Weichzeichner-Aura des Coverartworks: Was die Entwicklung für den Vorgänger "Beyond The Sun" bereits andeutete, zieht bei "Reasons" nun noch etwas weiter in Richtung Disco und California Rock durch. Und während ich noch die Stirn in Falten lege, ob das möglicherweise dieses Mal nicht vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten ist, überfällt mich der unwiderstehliche Groove dieser Götterband schon im Opener "All Good Things" wie eine amoklaufende Adrenalinspritze auf der Tanzfläche. Alles gekrönt von der immer noch atemberaubend singenden Queen Adryon de Leon, die die kalifornische Sonne in ihren Stimmbändern eingebrannt hat.
Süchtig machende Energie im Zeichen der Discokugel.
England brodelt. Nicht nur politisch, aber auch ganz besonders kulturell. Sicher, die seit Jahren florierende Jazzszene, und hier besonders das Epizentrum in London, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr; sie wird auch außerhalb der Landesgrenzen wahrgenommen und gerechterweise gefeiert. Das Ishmael Ensemble um den aus Bristol stammenden Produzenten Pete Cunningham scheint sich jedoch noch etwas unter dem Radar der bekannteren Namen Shabaka Hutchings, Nyubya Garcia oder Alfa Mist aufzuhalten: das Debut "A State Of Flow" heimste zwar fleißig Lorbeeren von den üblichen Verdächtigen wie Gilles Peterson ein, läuft aber immer noch als Geheimtipp durch's 2019er Musik-Dickicht. Umso mehr freue ich mich darüber, diese Platte gefunden zu haben - so zahlt sich die jeden Monat wiederholende und stundenlange Suche nach neuer Musik aus.
"A State Of Flow" ist eine Fusion aus Bonobo'scher Leichtfüßigkeit, der Tiefe des Cinematic Orchestras, Kieran Hebdens Progressivität und den Emotionen des Submotion Orchestras: Jazz, Electronica, Soul und Ambient in bester Tradition des Bristol-Sounds. Vielleicht im Detail noch ein bisschen rough around the edges, aber mir kommt die zwischenzeitliche Störung von allzuviel glattpoliertem Mainstream gerade sehr gelegen. Könnte den Status eines unentdeckten Kultalbums erreichen, wenn Social Media endlich tot ist. Und wenn es wieder möglich ist, "Kult" zu sagen, ohne hinterher vom Knorr-Papi verprügelt zu werden.
Die Sache mit Dub Techno ist und bleibt eine Schwierige. Im Trend liegt das Genre nicht (mehr) wirklich; ich habe eher das Gefühl, dass es sich nur noch um eine relativ kleine, dafür eingeschworene Community handelt, die diesen Sound sowohl produziert als auch immer noch hört. Teil des Problems ist die überschaubare Anzahl jener Produzenten, die einen Ausweg aus dem Dilemma des straffen stilistischen Korsetts suchen und sich um Weiterentwicklung bemühen. Araceae geht sicher nicht so weit wie beispielsweise das belgische Duo Wanderwelle, dafür lässt die auf "Resonance Of The Absolute" präsentierte Bandbreite mein Herz höher schlagen: Ambient, Drone, Field Recordings und Modern Classical/Minimal mischt sich mit naturnahem, rauem und urwüchsigem Dub Techno wie im Highlight "Rocky Shore". Über ein Jahr hat Ryan Malony an diesem Album gearbeitet, das Archves-Sublabel Faint hat es auf Tape, CD und Digital veröffentlicht (leider kein Vinyl). Ein mit viel Liebe zum Detail und einem exzellenten Gespür für dramaturgische Texturen zusammengestelltes Werk.
Ein Teilnehmer der diesjährigen Folge "Es ist Frühling und ich möchte tanzen!": Melchior Sultana aus Malta mit einem Albumtitel, der das naheliegend schlechteste aus jedem Musikjournalisten herauskitzeln könnte. Meine Lust nach positiv aufgeladenen, euphorisierend-elektronischen Sounds, wenn die ersten Sonnenstrahlen das eben noch erstarrte Winterleben wachküssen, wurde mittlerweile zur lieb gewonnenen Tradition im Hause Dreikommaviernull. Anders als die Konkurrenz hielt sich "Deeper Than It Sounds" indes bis in den Dezember hinein in der Playlist, und das muss mit einem Platz in den Top 20 belohnt werden. Sultana liefert ein melancholisch-schaukelndes Deep House Album ab, auf dem sich mediterran getupfte Klangwärmekörper auf einem Bett aus dunstigen Grooves ausbreiten und entlang räkeln können. Kommt am besten zum ersten Kaffee im Bett an einem bekifft-launigen Sonntag Mitte Mai zur prachtvollen Morgenerektion.
Keine Termine und leicht einen sitzen (und stehen)(vielleicht).
Exhorder hatten von allen Bands vermutlich den schwierigsten Auftrag für ihr Comeback zu erledigen, denn auch wenn die beiden einzigen Alben der Band "Slaughter In The Vatican" und "The Law" schon 29, beziehungsweise 26 Jahre alt sind, hat die auf jenen Werken beruhende Ausnahmestellung zu einer möglicherweise in Teilen nicht ganz fairen, ganz sicherlich aber hoffnungslos überzogenen Erwartungshaltung geführt. Ich kann mich ebensowenig davon befreien, dafür aber immerhin anerkennen, damit ein Ticket im Balla-Balla-Bus gezogen zu haben, weil nur Dummbatze ein zweites "Slaughter In The Vatican" erwartet hätten. Und wo das gesagt ist, full disclosure: für mich steht das Debut einige Höllenlevel über "The Law", und ich darf als Belegexemplar das geschriebene Wort aus dem Jahr 2013 bemühen:
"Es gibt Momente auf "Slaughter In The Vatican", die so heavy sind, dass man sich wirklich freiwillig den Kopf zwischen Stahltür und -rahmen einklemmen will und der eigenen Mutti befiehlt, mal kräftig zuzuschlagen. Die Tür, wohlgemerkt. Mit 'nem Unimog. Und das meine ich selbstverständlich ausnahmslos positiv. Scott Burns mauerte seine gefürchtete und berüchtigte Morrissound-Soundwand (die die Band übrigens nach eigener Aussage aus tiefstem Herzen hasst), deren musikalisches und lyrisches Fundament aus blanker Niederträchtigkeit und außer Kontrolle geratenem Rowdytum besteht."
"The Law" hingegen wird für seine stärker ausgespielten Grooves und Riffs von einem Teil der Fanszene kultisch verehrt, stellte mit mir jedoch und in erster Linie wegen des direkt aus Susi Sorglos' Rasierapparat surrenden Gitarrensounds nie etwas Besonderes an.
Das potentielle Problem von beiden Alben in Bezug auf das 2019er Comeback sind weniger in den Songs und Sounds, als viel mehr in der Attitüde zu suchen. Wie sollen die - auch selbstverständlich schon lange nicht mehr im Original-Lineup - diese Wucht und diese Räudigkeit nach so langer Zeit noch abrufen können? Die Option, es gar nicht mehr zu müssen, stand aus Sicht eines Fans bei Exhorder nie zur Debatte - zu stark war man nach so langer Zeit und der Auseinandersetzung mit ihren alten Alben darauf gepolt, dass weniger als das Nonplusultra an Härte, Intensität und Unberechenbarkeit ein glatter Weltuntergang wäre. Gemessen an den Reaktionen der früheren Die Hard-Fans auf "Mourn The Southern Skies" ist für viele Menschen genau das eingetreten.
Und es ist tatsächlich ein bisschen kompliziert. "Mourn The Southern Skies" besteht aus drei Songtypen, die auf sehr unterschiedlichen Qualitätsebenen existieren: (1) die rasende Thrashkante (2) grooviges Law And Order-Riffgeschiebe aus den Sümpfen Lousianas und (3) irgendwas dazwischen. Die erste Kategorie besteht fast ausschließlich aus erschütternd generischem Exodus-Thrash Metal mit Cringe-Texten, stumpf durchgeballerter Doublebass und einem reichlich aufgesetzt hart klingenden Kyle Thomas am Mikro. Kann, nein: muss man ganz schnell vergessen und für immer skippen. Das ist unwürdiger Scheiß und das auch in dieser Deutlichkeit mehr als gerecht.
Die zweite Kategorie indes trifft meinen Nerv, und das auch noch ziemlich unvorbereitet. Die Riffs sind originell, die Stimmung ist schwül, feucht und dreckig, die Grooves tighter als Trumps Schließmuskel. Qualitative Schwankungen lassen sich hingegen in Kategorie 3 finden: während in "Rumination" sehr erfreuliche Erinnerungen an die Mittneunziger-Ära der Kings von Forbidden wach werden, ist "All She Wrote" dagegen ein unsäglich dumpfes Midtempo-Doublebass-Geratter von der Stange, das ohne wirkliche Konkurrenz den Biedermann-Preis des Jahres absahnt. Wer sich also im besten Fall eine exakte Mischung aus "Slaughter In The Vatican" und "The Law" gewünscht hat, rauscht hier erstmal mit Schmackes gegen die Wand. It's the Erwartungshaltung, Stupid!
Was bleibt also unter dem Strich? Ehrlichweise mehr, als das nach dem ersten Teaser "My Time" (Kategorie 1) zu erwarten war. Gut die Hälfte von "Mourn The Southern Skies" ist lässiger, verschwitzter und authentisch klingender Südstaatenmetal der COC/Down Kategorie mit wirklich coolen Riffs'n'Grooves und dicker 90er Schlagseite. Wenn sich noch jemand an das 1996er Album "Penalty" von Floodgate erinnert (Sänger: Kyle Thomas), weiß recht genau, was er zu erwarten hat, wenn er das damals ganz sicher gereichte Weed mit ein paar frisch gekochten Kannen schwarzen Kaffees austauscht. Mit diesen Songs kann ich nicht nur wunderbar leben, die reichen selbst dafür aus, den anderen Mist auf der Platte wenigstens ein bisschen wettzumachen. Exhorder klingen 2019 natürlich nicht mehr wie eine Horde tollwütiger Pitbulls und wenn ihnen ein echter Vorwurf zu machen wäre, dann jenen, dass sie es partiell trotzdem versucht haben: das Gespür für die Ausnahmestellung ihrer Frühwerke ging ihnen tatsächlich über Bord. Dass sie an anderen Stellen auf ihrem Comeback stilistisch einen anderen Weg eingeschlagen haben, lässt jedoch erahnen, dass sich die Band vielleicht über das Dilemma völlig im Klaren war.
"Mourn The Southern Skies" ist am Ende ein Kompromiss einer ehemals sehr kompromisslosen Band. Im Gegensatz zu optimistisch aufgerundeten 80% der Konkurrenz, die ähnliche Entscheidungen treffen mussten, allerdings einer, der sich wenigstes ein kleines bisschen von dem entfernte, was jeder erwartete. Kann man sich drüber freuen.
P.S.: Exhorder waren selbst in ihren früheren Besetzungen nie eine hypersympathische Band und dass im Dachgeschoss der Mitglieder vielleicht nicht immer für die volle Stromversorgung gesorgt werden konnte, ist spätestens nach dem Text zu "Anal Lust" vom Debut unstrittig - aber ich muss dennoch erwähnen, dass der Text zu "The Arms Of Men", sofern ich ihn richtig verstehe, ein Neanderthaler-Plädoyer für das US-amerikanische 2nd Amendment ist, und mir als Mitteleuropäer und Wehrdienstverweigerer (mit extrem kleinem Pimmel, klar) jedes Verständnis für diesen "Drrrrreck" (Schramm) abgeht. Das halbstarke Amöbengeplärre von "My Time" kehren wir auch besser unauffällig unter den Teppich.
Ganz vielleicht dachte ich zu Beginn etwas zu pessimistisch über das erste Possessed Album seit dem 1986 erschienenen "Beyond The Gates"-Werk und damit gleichfalls dem ersten wirklichen Lebenszeichen dieser so einflussreichen Band seit der "The Eyes Of Horror"-EP aus dem Jahr 1987. Eher widerwillig klickte ich auf den Videolink zu "No More Room In Hell", dem einige Wochen vor Albumveröffentlichung präsentierten Teaser; das Mindest auf "Zynismus" eingerastet, sowieso das Schlimmste erwartend, alle Gläser immer halbleer. Hören musste ich das natürlich, weil...hey: "Seven Churches"! Wahrscheinlich gab es 1985 wirklich nichts Krasseres als "Seven Churches", dagegen klingt ja selbst die erste Kreator so steif wie der Ministrantenchor Mozetta. Aber warum müssen die ollen Rochen auch immer und immer wieder ihren guten Namen aufs Spiel setzen? Das waren vor 32 Jahren Legenden, ihr Werk ist über 32 Jahre legendär geblieben und wenn sie es so halbwegs richtig anpacken, könnten sowohl Band als auch Werk sogar für die nächsten 32 Jahre Legenden bleiben. Wwwwwhhhhhhhyyyyyyyyyyyyyyyyyyy tho - und wer GENAU hat eigentlich eine Band wie Possessed in den letzten 32 Jahren vermisst? Also so RICHTIG vermisst? Wer hat denn über 32 Jahre an jedem Tag oder in jeder Woche zu sich und seinem sozialen Umfeld, sofern denn noch eines vorhanden ist, gesagt "Mannomann...Possessed! Wie schade, dass es die nicht mehr gibt. Was würde ich heute dafür geben, nochmal eine neue Platte von Possessed hören zu können."? Dann sind auch noch Nuclear Blast als Label ins Satanshaus eingezogen und haben zig Zillionen unterschiedlicher Vinylversionen in jeder denkbaren Farbe pressen lassen, eben weil sie's können. Das volle Marketingbrett. Was hat das noch mit Musik zu tun? Mit Possessed? Was soll das schon werden?
Es wurde erstaunlich viel! "No More Room In Hell" konnte mich nach dem dritten Durchlauf sogar dazu bewegen mir die Platte zu kaufen, natürlich in der US-Version auf rot-weißem Splattervinyl, weil ich Superhornochse diesen Donzdorf-Dicks und ihrer Marketingscheiße eben immer noch auf den Leim gehe (und weil die Platte ziemlich geil aussieht, klar). "Revelations Of Oblivion" hat eine ganze Menge Argumente auf seiner Seite, allen voran ist das fiese Geballer definitiv mehr im Thrash als im Death Metal angesiedelt, auch wenn die Vermarktungsmaschine fleißig "DEATH METAL" auf alles spuckt, was nicht bei drei auf dem Baum ist - die tragende Säule beim Mitinitiieren eines ganzes Genres muss eben nicht nur immer wieder, sondern ganz besonders nach über 30 Jahren mal frisch gestrichen werden; woher sollen die ganzen nachgewachsenen Metal-Kiddos das auch sonst erfahren? Hinzu kommen technisch beeindruckende Leistungen an Gitarre und Schlagzeug (Emilio Marquez an den Drums ist sowohl im Studio als auch live ein fucking Monster), den klassischen, charakteristischen Gesang von Jeff Becerra und eine Peter Tärtgren Produktion, die für heutige Verhältnisse erfreulich bodenständig ausgefallen ist. Letzteres sehen die Kuttenhorsts mit dem Junge Union-Branding im Hypothalamus natürlich anders, aber sowas passiert eben, wenn man sich so frei und distinguiert wie Zappa geben will, es aber real für nicht mehr als Markus Söder reicht. Das peinliche Geflenne muss man ignorieren.
Das für mich eindrücklichste Merkmal von "Revelation Of Oblivion" ist hingegen eines, das man nur über Umwege hören, dafür aber direkt fühlen kann. Jeff Becerra ist das einzig verbliebene Originalmitglied von Possessed. Der Mann wurde 1990 (drei Jahre nach der offiziellen Auflösung Possesseds) Opfer eines Raubüberfalls, wurde angeschossen und sitzt seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Seine ehemaligen Bandkollegen kümmerten sich nicht mehr um ihn, da die Band nach der Auflösung heillos zerstritten war. Über 17 Jahre versuchte Becerra mit seiner Situation klar zu kommen, rutschte in den Alkohol- und Drogensumpf ab und kämpfte mit Depressionen. Aber er überlebte. Studierte Jura und Sozialwesen, gründete eine Familie und nahm 2007 mit Possessed einen neuen Anlauf. Die Musiker, die auf dieser Platte zu hören sind, sind mindestens seit 2011 an seiner Seite, Drummer Emilio Marquez gar seit 2007). Bei der Recherche stieß ich auf Interviewsequenzen mit dem Gitarristen Daniel Gonzalez, in denen er auf schwierige Anfangszeiten zurückblickt: Becerra wollte vor allem ihm, der stilistisch eher dem modernen Death Metal nähersteht, den Stil und den Spirit von Possessed näherbringen - und lehnte zunächst offenbar ein Riff und eine Songidee nach den anderen ab, bevor Gonzalez und der Rest der Band mehr und mehr verstanden, in welche Richtung Becerra wollte. Becerra selbst sagt darüber hinaus, er lebe ständig mit dem Druck, die verlorene Zeit, die verlorenen 17 Jahre aufholen zu müssen. Selbst dieses Comeback nahm ganze 12 Jahre in Anspruch. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Wer dem Typen in den Interviews zuhört, entdeckt echte Euphorie, Aufrichtigkeit, vielleicht sogar Genugtuung - und ein kindliches Feuer der Begeisterung in ihm. Und ehrlich gesagt: ohne ein kindliches Feuer der Begeisterung ließen sich Texte wie
Six, six, six on the head and the wrist
The bloodied, battered crucifix
Two coins to cross the river Styx
On bended knees and Satan's fist
mit 51 Jahren auch nur schwer singen. Ob meine Wahrnehmung nun von der professionellen Inszenierung mit entsprechend vorgeschriebenen Drehbüchern getrübt wird und ich also immer noch tief drinnen glaube, es gäbe im Heavy Metal noch sowas wie echte Authentizität, oder ob das alles kompletter Bullshit ist, um die metallischen Naivlinge mit dem zu füttern, was sie am einfachsten fressen, nämlich plakative Trueness to the fokking bone, habe ich noch nicht ganz begriffen. Wäre ich DER_GROSSE_ZYNIKER vom ersten Absatz, wäre die Antwort klar.
"Du musst heute nur noch auf die Bühne gehen, die Pommesgabel \m/ zeigen und die Leute flippen alle aus." (Name der Redaktion bekannt)
Das ist die Überraschung des Jahres - und bitte: wer hätte das gedacht? Wer hat überhaupt mal nach einer Acid Reign-Reunion gefragt? Die Band hatte sich kurz nach der Veröffentlichung ihres letzten Albums "Obnoxious" (1990) aufgelöst und obwohl Titel und Coverartworks ihrer beiden vorangegangenen Releases "Moshkinstein" und "The Fear" nebst einer erfrischenden Unbekümmertheit in ihrer Musik für eine Platzierung auf der Landkarte für britischen Thrash Metal sorgten, erschienen mir Acid Reign über die letzten 29 Jahre als mehr oder minder vergessen, ganz sicher mit einigem Abstand hinter den UK-Aushängeschildern Sabbat und Xentrix eingereiht. Vom Original-Lineup ist im Jahr 2019 auch nicht mehr viel übrig geblieben, lediglich Sänger Howard "H" Smith ist noch mit dabei und hält die Reboot-Zügel fest in den Händen. Was sollte unter solchen Bedingungen also schon erwartet werden?
Am End' ist's vielleicht das beste oldschool Thrash Album des Jahres - sofern man mit den paar ätherischen Punk und Hardcoreeinflüssen zurechtkommt, die die Band aus den 1980er Jahren ins Jetzt mitgenommen hat - das ist nicht immer so prägend wie im zweiminüten Brecher "Blood Makes Noise" (im Original von Suzanne Vega), der klingt, als hätten The Offspring am Speed Metal-Fliegenpilz genascht, aber der Vibe ist, nicht zuletzt wegen der immer noch sehr originellen und gar recht unmetallischen Stimme von H, durchaus allgegenwärtig. "The Age Of Entitlement" ist bis oben randvoll mit Power, Energie und Frische gefüllt. Im Prinzip finde ich keinen einzigen bräsigen Moment. Und alleine damit kann ja jetzt nicht mehr so irre viel schief gehen.
Das ist umso beeindruckender, da auch Acid Reign nicht darauf verzichten konnten, hier und da in die so von mir gefürchteten hymnischen Bereiche abzudriften, wie sie eine bodenlose Ballermannkapelle wie Hammerfall vor über 20 Jahren erbrachen, um Heavy Metal endgültig den künstlerischen Todesstoß zu verpassen - denn was der Grunge nicht schaffte, das schaffte die schrullige Schwedencombo mit schwäbischer Schützenhilfe aus Donzdorf, und zwar mit links. Dennoch: Acid Reign machen es zumindest in meiner Wahrnehmung bedeutend besser als die Konkurrenz. Der Opener "The New Low" ist zwischen relativ klassischem Thrash-Gehacke mit einem großen Refrain ausgestattet, irgendwo zwischen Airdash's "Both Ends Of The Path"-Melodieansätzen und, ich trau' mich beinahe nicht, es wirklich hinzuschreiben: zarten Riffknospen aus der Endneunziger-New Metal-Schule. Dazwischen finden sich darüber hinaus überraschend komplexe, an "Obnoxious" angelehnte Momente wie das über achtminütige "Within The Woods", das mich bisweilen an echten Power Metal aus der Feder von Metal Churchs Kurt Vanderhoof erinnert.
Eine solche Mischung aus juveniler Euphorie und Frische, kerzengeradem Speed- und Thrash-Riffing, filigran eingewebten, unpeinlichen Melodien, smarter Komplexität und einem Sänger, der sich nicht anhört wie Schorsch Hackl in der Muckibude beim Reißen von 200 Kilo (und anschließend der Patellasehne), gibt's heutzutage nicht mehr oft zu hören. "The Age Of Entitlement" bekommt das selbst im Jahr 2019 unter einen Hut und ich bin hocherfreut über eine Platte, die ich so im Leben nicht erwartet hätte.
Auch mit deutlich herabgesetzten Maßstäben ist das erste Studioalbum Sacred Reichs nach 24 Jahren leider eine große Enttäuschung. Und keinen schmerzt es mehr als mir, diesen Satz schreiben zu müssen, schließlich bin ich seit ihrem Klassiker "The American Way" großer Fan dieser Band, von ihrer Musik, ihren Texten und auch von ihrem Auftreten abseits der Bühne. Ich sah sie erstmals im Juli 1991 im Frankfurter Volksbildungsheim im Vorprogramm von Sepultura, nachdem ich meine Eltern als damals gerade mal 14 Jahre alt gewordener Backfisch über fucking Wochen in den fucking Ohren lag, mich doch bittebittebitte und trotz der Indisponiertheit meines üblicherweise als Begleitperson eingesetzten älteren Bruders, alleine zum Konzert gehen zu lassen. Und ich war erfolgreich. Ich kaufte zur Hochzeit meiner Metalphase alle ihre T-Shirts, CDs, LPs und EPs und fuhr sogar noch sehr viel später, nach ihrer Reunion in den nuller Jahren, für ein Konzert ihrer damals typischen Sommertourneen durch Europa sogar in die verbotene Stadt nach München und ertrug all die Schickeria-Bussi-Bussi-Watschengesichter, die einem schon fünf Minuten nach Überqueren der Stadtgrenze entgegenflattern und die Laune versauen. Das alleine sagt vermutlich mehr über meine Liebe zu Sacred Reich aus als die Plattensammlung.
Dabei bin ich mir schon seit vielen Jahren darüber im Klaren, dass Sacred Reich schon lange keine wirkliche Thrash Band mehr sind - strenggenommen darf man die Schublade nur für das recht flotte Debut "Ignorance" und die "Surf Nicaragua"-EP öffnen und schon beim Nachfolger "The American Way" zumindest zur Hälfte wieder schließen - und das nicht nur wegen der Open Mind-Hymne "31 Flavors":
Aber das war einfach schon immer eine verdammt coole Band und die beiden von vielen Betonköpfen kriminell unterbewerteten, weil vergleichsweise experimentelleren und groovigeren Alben "Independent" und "Heal" stehen in meiner Gunst sogar ziemlich deutlich vor "Ignorance". Und ich habe ihren über Jahre dargelegten Standpunkt, auch trotz ihrer Reunion keine neue Musik mehr veröffentlichen zu wollen, nicht nur jederzeit respektiert, ich war sogar hocherfreut: wenn die Band nicht glaubt, ihrem bis dato völlig unantastbaren Oevre eine weitere fehlerlose Platte hinzuzufügen, dann nehme ich ihnen das ganz bestimmt nicht übel. Streng genommen hätte sich so manch andere Band besser mal an jenem Ansatz orientiert, anstatt sich in müder Mediokrität zu ergehen. Kollateralschäden des Sinneswandels waren Drummer Greg Hall und Gründungsmitglied Jason Rainey. Ich halte beide Abgänge für sehr schwerwiegend, aber angesichts der Lässigkeit, wie sowohl die Metalszene als auch die Band selbst darüber hinweg ging, bin ich wohl entweder zu empathisch oder zu altmodisch.
"Awakening" hinterlässt nun leider ein paar dunkle Flecken auf der bislang blütenweißen Weste. Das beginnt bei der zwar angenehm unmodernen, aber zeitgleich auch saft- und kraftlosen Produktion, die vor allem im Bereich der Rhythmusgitarre jede Schärfe und jeden Punch vermissen lässt. Das Hauptproblem hingegen sind die Songs. Die Band war dem Minimalismus sicher schon immer zugetan, aber das hier ist zu weiten Teilen schon frech unterfordernd. Gefühlt kommen Sacred Reich auf drei maximal harmlose Riffs pro Song, Gesangslinien, die dank steter Wiederholung schon nach dem zweiten Durchgang unfassbar nerven und extrem simple Hooklines, die nicht einen einzigen Song tragen können. Hinzu kommen mit dem drögen Südstaatenrocker "Death Valley" und "Something To Believe", einem dreieinhalbminütigen Nichts, das mich völlig ratlos zurücklässt, gleich zwei glatte Totalausfälle aufs Tableau - und alleine das ist bei einer Spielzeit von 31 Minuten einfach zu viel. Sowas veröffentlicht man eigentlich nur, wenn man wirklich gar keinen Bock auf gar nichts mehr hat. Und das traue ich dieser Band nicht zu. Nicht Sacred Reich. Nicht nach dieser Vorgeschichte. Was uns zur logischen Schlussfolgerung führt: es liegt also alles (wie immer) nur an mir. Muss ich mit leben.
Xentrix haben es ihren ersten beiden Alben "Shattered Existence" und vor allem "For Whose Advantage?" zu verdanken, in die immerhin dritte Reihe des Thrash vorgestoßen zu sein, bevor die typischen Kurskorrekturen der Früh- und Mittneunziger und eine komplett auf den Kopf gestellte Metalszene zum ersten Mal das Ende einläuteten. Obwohl die Band zu Beginn ihrer Karriere als schamlose Metallica-Kopie und gegen Ende wegen der als peinlich empfundenen Anbiederei an den damals angesagten Groove/New Metal auf dem desaströsen 1996er Album "Scourge" eher belächelt wurde, entwickelte sich speziell das Zweitwerk "For Whose Advantage?" in der Szene zu einem kleinen Klassiker, weshalb die Rufe nach einer Wiedervereinigung über die Jahre immer lauter wurden. Und tatsächlich: ab 2005 existierte die Truppe wieder, wenn auch nur in einer on/off Beziehung mit vereinzelten Liveauftritten oder gar kurzen Tourneen durch England.
2013 folgte gar die Meldung, man arbeite an einem neuen Album - und ganze sechs Jahre später ist es auch "schon" soweit. Leider hat es in der Zwischenzeit ein paar Einschläge gegeben: Chris Astley, Charakterkopf an der James Hetfield-Gedächtnisgitarre und darüber hinaus Sänger, entschloss sich 2017 dazu, endgültig das Weite zu suchen, Ur-Bassist Paul MacKenzie hatte sich bereits 2013 absentiert; und während letzterer angemessen ersetzt werden konnte, sieht die Sache bei Astley schon anders aus: sein Gesang und besonders sein Gitarrenspiel mit dem typischen Riffing fehlen dieser Band - auch wenn die beiden verbliebenen Gründungsmitglieder Gasser und Harvard versuchen, einige Songs mit den bekannten, wunderbar auflösenden Astley-Riffs auszustatten. Nachfolger Jay Walsh macht indes auf "Bury The Pain" seine Sache besser, als nach den ersten Livevideos zu befürchten war und klingt im Vergleich mit Astley gesanglich zwar etwas tiefer gelegt, fällt dabei aber immerhin nicht unangenehm auf.
Ärgere Probleme machen dieses Mal die überdeutliche stilistische Schlagseite in Richtung Testament, eine Reihe von bedauerlichen und für mich nur schwer hinnehmbaren Textentscheidungen, eine viel zu lange Spielzeit und die ein oder andere zu sehr an den heutigen Metal-Zeitgeist ausgerichtete hymnische Melodie, die so manchen Song in jene für mich komplett ungenießbare Power Metal Gefilde abrutschen lässt, also das, was heutzutage landläufig als Power Metal bezeichnet wird, aber natürlich kein Power Metal ist. Damit befinden sich Xentrix nun sicher eher in der Mehr- als in der Minderheit der aktuellen Szene, aber ich möchte diesen aufgesetzten und von A&Rs reindiskutierten Krampf nicht hören müssen. Keep your melodische Griffelfinger off my thrash metal, motherfucker!
Dazwischen finden sich immerhin drei, vier ganz nette Momente - nichts, wofür ich mir vor Begeisterung die Unterhose über den Kopf ziehen müsste, aber meine Qualitätsmaßstäbe wurden nach einem zwanzigjährigen Marsch durch den Sumpf unerlöster Häffi Mettl-Reunions entsprechend angepasst.
2019 ist das Jahr der Thrash und Death Metal-Comebacks. Das gilt besonders für jene Fälle, in welchen wir über die Veröffentlichung neuer Studioalben einer ganzen Reihe alter Kultbands sprechen, die über Dekaden hinweg eigentlich schon mausetot in der Kiste lagen und allerhöchstens für vereinzelte Liveshows reanimiert wurden. In dieser Hinsicht war der Status so mancher Kapelle indes nur schwer zu durchschauen: mal standen sie, mitunter im Original-Line-up und mit großspurigen Ankündigungen über geplante Aufnahmen und Tourneen, auf der Bühne, nur um im nächsten Augenblick wieder komplett vom Radar zu verschwinden. Ja, was denn nun?
Nun bin ich ja immerhin nicht komplett doof und habe genügend Imaginierungsvermögen, um mir die Lebensumstände eines ehemals semiprofessionellen Musikers vorzustellen, der mit seinen heute 50+ Jahren und dem bestenfalls erfolgten Abtauchen ins blanke Hobbymusizieren, schlechtestenfalls ins Familienleben mit 9-to-5 Job, in Sachen Karriereplanung vor anderen Herausforderungen stehen dürfte als noch in blühender Adoleszenz Ende der 1980er Jahre.
Dass es oftmals für nicht viel mehr reicht, als einmal kurz den Kopf in die angegammelte Brise zu stecken, die aus den Achselhöhlen des mittlerweile ergrauten und erbierbäuchten Publikums herausströmt, haben seit der vor gut 20 Jahren startenden Reunionwelle mehrere und im Rückblick eher unerfreuliche Comebackversuche von Bands gezeigt, die schneller wieder in der Versenkung verschwunden waren als die "We're back for good because we love our fans so much"-Ansagen in einem halbleeren Club verhallten. Und ganz allmählich fragt man sich abseits der immer noch aufkommenden bittersüß-verzweifelten Erinnerungen an vergangene Zeiten: was wollen die alten Klappergestelle eigentlich mit ihren ganzen Reunions? Metal ist heute erfolgreicher, als er es vielleicht jemals war, bon. Und die Möglichkeit, sich nebenbei einen Extra-Buck zu verdienen, ist unter heutigen Businessmaßstäben vermutlich erfolgsversprechender als noch vor 30 Jahren - will man also ein Stück vom Kuchen abhaben? Reich i.S.v. "Privatjet-Reich" wird man damit ja nun wirklich nicht. Oder wird immer noch auf den richtig großen Durchbruch gewartet, vulgo: gehofft? Oder ist es - haha, Riesenwitz: die Mischung aus simpler Lust, die alten Tage wieder aufleben zu lassen? Bevor Taschentücher gereicht werden müssen: ich hielte alle drei Optionen sowohl für denkbar, als auch für legitim.
In der Bewertung der Musik spielt das freilich keine Rolle. Oder vielleicht doch?
Wer 1988 in unerlösten Flammen stand und sich Frustration, Wut und Testosteron einen Weg an die Oberfläche suchen mussten, hatte ganz möglicherweise eine andere Herangehensweise, Musik zu komponieren als im Jahr 2019 mit 50 Jahren und der Verantwortung über zwei Jobs und drei Kinder. Ganz zu Schweigen von der technischen Weiterentwicklung, die stärker als je zuvor Kreativität fördert und ganz neue Kanäle öffnen kann. Wer würde angesichts solcher veränderten Voraussetzungen ernsthaft erwarten, die Musik unserer Röhrenjeans'n'Patronengut-Helden wäre 1988 eingefroren und just zum Mastering des neues Albums aufgetaut worden? Darf, soll oder muss man wirklich erwarten, auch im Jahr 2019 immer noch den gleichen Krempel von 1988 zu hören? Am Ende ist's vermutlich nur das Spiel mit der eigenen Erwartungshaltung, dem eigenen Leben nebst geistigem Horizont.
Problematisch wird's wenigstens in meinem Buch nur dann, wenn der besonders in Genres wie dem Speed, Thrash und Death Metal so immanent wichtige und prägende Vibe juveniler Durchgedrehtheit abhanden kam und entweder mit bräsiger Loggerpeder-Arroganz und/oder einem over-the-top-Soundmassaker ersetzt wurde. Ich kann viel aushalten. Ich gebe auf Schubladen und Genredefinitionen und -dogmen sehr viel weniger, als es mir so mancher andichten will. Aber mir fehlt bisweilen das Verständnis für laue Kompromisse und für Faulheit.
Die kommenden sechs Beispiele für Alben-Comebacks, die ich mir für diese Serie herausgefischt habe und die alle mit kleinen aber feinen Reviews bedacht werden, bilden für derlei Betrachtungen einen idealen Rahmen, denn eigentlich ist damit die volle Bandbreite abgedeckt. Und manchmal ist sogar noch Platz für die berühmten Zwischentöne.
Den Anfang machen Noctnurnus AD, eine Inkarnationen der legendären Death Metal Band Nocturnus, mit ihrem Comebackversuch "Paradox".
NOCTURNUS AD - PARADOX
Erster Grund für Herzoperationen bei Managern, Promotern und allen anderen Musikindustriemenschen: eine Band löst sich auf und macht danach mit unterschiedlichen Line-ups und sich ständig wechselnden Bandnamen weiter. Spätestens nach dem zweiten Wechsel wissen nur noch eingefleischte Superloyalo-Nerds wer hier eigentlich mitmischt, der Rest ist von derlei künstlerischer Exzentrik völlig überfordert und macht den Peter Lustig. Abschalten.
Über 26 Jahre hatte Gründungsmitglied und Drummer Mike Browning sein Nocturnus-Outfit abgeschaltet (von einer eher obskuren und ohne ihn stattfindenden Wiederbelebung zwischen 1999 und 2002 abgesehen, q.e.d.) und kehrt nun, natürlich unter erneut verändertem Namen und Line-up, zurück. "Paradox" schließt - und das ist in diesem Fall mehr als nur eine Floskel - nahtlos an das als Klassiker im Death Metal-Kanon verankerte "The Key" von 1990 an. Angefangen beim Cover-Artwork, über den Sound, den Einsatz schräger und origineller Keyboards fernab jedes Gothic Kitschs, manisch verspulten Gitarrenriffs, komplexen Songs bis hin zum textlichen Konzept ist hier selbst für die traditionell vergangenheitsfixierte Metalszene auf beinahe bizarre Weise die Zeit stehen geblieben. Das ist für einen kurzen Moment charmant, in der immanenten Verzweiflung aber auch ungesund traurig: wie sich die Band im Videoclip zum klar schwächsten Song des Albums "Apotheosis" in Billo-Sci-Fi-Umgebungen mit Billo-Überblendungen und Billo-Videoeffekten wie eine Horde "querschnittsgelähmter Faultiere" (Kalkofe) abmüht, schaut man sich besser gar nicht an. Oder eben doch.
Wer indes "The Key" und zu gleichen Teilen technischen wie kruden Old School Death Metal feiert und modernen Metal in all seinen uninspirierten, oberflächlichen, ranschmeißerischen, polierten Auswüchsen in weiten Teilen für einen Haufen festgekrustetes Elefantensperma hält, findet mit ein paar Metern Sicherheitsabstand sicher Spaß an "Paradox". Ich habe an solchen Platten mehr Freude als am gesamten Labelprogramm von Nuclear Blast.
Kann man sich neben die 1-Euro-Ammoniten vom Flohmarkt und die Inklusen von in Bernstein eingeschlossenen Insekten aus dem Paläozän ins Regal stellen und ab und zu melancholisch in der Hand wiegen.
Der Sommer des Jahres 2019 im Hause Dreikommaviernull war nicht von der so sehnlich erhofften Beschwingtheit geprägt. Zunächst erlitt Anfang Juli unser Hund Fabbi einen Bandscheibenvorfall, der seine hintere Körperhälfte komplett lähmte. Unser Hund, ein Bündel an Lebenslust und -freude, war von einer Sekunde auf die andere Sekunde ein Pflegefall, der nicht mehr auf allen Vieren stehen, geschweige denn laufen konnte. Dank einer Spinalkatheteroperation bei Dr.Schrader in Hamburg hat er zwei Monate später vermutlich das gröbste überstanden: es ist nicht alles perfekt, aber Fabbi kann immerhin wieder laufen - wacklig und meist langsam, aber es reicht, um seine großen und kleinen Geschäfte in seinem Sossenheimer Kiez zu erledigen. Es reicht außerdem, mich an jedem Abend mittels auf den Arm gelegter Pfote darüber zu informieren, dass JETZT ein guter Zeitpunkt wäre, um mit seinem Plüschelefanten zu spielen. Es ist beeindruckend, wie wenig dieser Hund einen Shit gibt. Und wie stark sein Wille ist.
Wenn wir von Verletzungen und Willensstärke sprechen, müssen wir auch von unserer Katze Schnuffel sprechen. Man sagt Katzen ja so oder so nach, dass sie von einer ausgeprägten Zähigkeit durchs Leben getragen werden - und Schnuffel musste diesen Paragrafen im Katzen-Knigge wohl sehr genau studiert haben.
Schnuffel wurde vermutlich im April 1998 geboren und zog im Sommer 1999 bei Alina ein. Ich lernte ihn im Dezember des selben Jahres kennen, nachdem Alina und ich uns darauf einigen konnten, künftig gemeinsam durchs Leben zu gehen, und ich also erstmals die Wohnung in der Schmausengartenstraße im verschneiten Nürnberg betrat: ein juveniler Playboy im weißen Puff-Plüsch-Flausch, dominant und gerade im Begriff, sich seinen herbei halluzinierten Katzenthron in jedem der drei Zimmer zu schnitzen. Sein Fellkostüm war die Entsprechung zu Schulterpolstern in den 1980er Jahren: es machte ihn größer und mächtiger, fast erschien er ein wenig einschüchternd - wenn er denn in seinem Imposanzgehabe nicht mindestens genau so niedlich und leicht vetrottelt gewesen wäre. Unvergessen die Geschichte, als er sich in jungen Jahren unter ein Spannbettlaken quetschte und wir erstmals seine wirkliche Körpergröße sahen. War das immer noch Schnuffel oder eher ein kleines Nagetier von den Ufern der Nidda? Dennoch: man musste ihn ernst nehmen und ganz bestimmt mussten wir lernen, ihn zu lesen. Seine Geschwindigkeit im Austeilen von linken Haken war legendär, seine Stimmungsschwankungen waren gefürchtet, seine Hartnäckigkeit im Einfordern von Aufmerksamkeit machte beinahe den Einsatz eines Psychologen erforderlich. Sein Blick und die Stellung seiner Ohren verrieten viel, aber bei Weitem nicht alles. Subtilität in seinem Verhalten war Schnuffels große Stärke - und manchmal gar so stark ausgeprägt, dass man ohne jede Vorwarnung seine linke Hand verlor.
Kleini, seine Partnerin, wusste sich in solchen Momenten, ganz im Gegensatz zu Alina und mir, zu wehren. Manchmal sogar bis zum wochenendlichen Tiernotzarzteinsatz. Offensichtlich biss sie ihm eines Nachts beim Herumraufen mir nichts dir nichts in den Schwanz, was Schnuffel in bis dato völlig ungeahnter Weise zur Welt der Kommunikation mit Menschen brachte. Ich weiß, dass sich das nun übertrieben anhören mag, aber ich schwöre es beim Leben meiner Plattensammlung: als wir am Morgen die Schlafzimmertür öffneten, war er so aufgeregt und mitteilsam wie nie und es hätte gerade noch gefehlt, dass er uns das Telefon hinhält, natürlich mit der bereits eingetippten Telefonnummer der Tierklinik und schreit "EY! DIE HAT MIR IN DEN SCHWANZ GEBISSEN! RUFT DA SOFORT AN, DAS TUT WEH!"
Aber Kleini konnte Schnuffel auch das Gefühl geben, dass er der unumstrittene König ist. Schnuffel und Kleini waren seit Beginn unserer nun seit knapp 20 Jahre dauernden romantischen Beziehung immer da. Sie gingen mit uns durch dick und dünn, zogen mit uns von Stadt zu Stadt, von Wohnung zu Wohnung. Sie waren Teil von Raum und Zeit.
Kleini verließ dieses Gefüge im August 2016. Sie erkrankte plötzlich und eine schnell eingeleitete Diagnose ergab, dass es so plötzlich dann eben doch nicht war: in ihrem Körper wucherte ein Tumor, der es ihr unmöglich machte, ihr immer so heißgeliebtes Futter bei sich zu behalten. Damit verlor Schnuffel das, was in der Soziologie oft (i.S.v. nie) mit "gesundem Regulativ" gemeint ist: er verlor seine Sparingspartnerin, die Nähe, den Duft, die Liebe.
Schnuffel wurde krank.
Im Laufe des Jahres 2017 merkten wir, dass etwas nicht in Ordnung war. Er trank plötzlich überdurchschnittlich viel. Er verlor an Gewicht und die Auswahl seines Futters wurde zum Lotteriespiel: was am Montag gut und richtig war, war es am Dienstag plötzlich nicht mehr. Zugegeben, neu war das nicht. Ihn in seinen Futteransprüchen wählerisch zu nennen, wäre die Untertreibung des Jahrtausends, zumal er seit 2006 und zur Vermeidung einer Verstopfung täglich zwei Teelöffel Lactulose ins Futter gemischt bekam, was sicher nicht zur Futterakzeptanz beitrug. Trotzdem: er wurde alt, krank und er baute merklich ab. Der Tierarzt diagnostizierte eine Niereninsuffizienz, bei Katzen in hohem Alter keine Seltenheit, sondern oft der Anfang vom Ende. Er wurde unbeweglicher und hörte zuerst auf zu Spielen, dann stellte er die Körperhygiene ein. Im Februar dieses Jahres riefen wir nachts gar den Tiernotarzt und fürchteten, er hätte bereits seine Reise auf die andere Seite angetreten, aber nichts da: zwei Stunden später war von der Atemnot, der Kraftlosigkeit, dem glasigen Blick nichts mehr zu sehen. Schnuffel war wieder der Alte. Ein kauziger, gebrechlicher, wegen der Krankheit bisweilen streng muffelnder, aber lebendiger und liebender alter Kater, der unsere Nähe suchte und dankbar für jede Berührung und jedes Streicheln war.
Wir wussten, dass der Tag näher rücken würde, an dem wir für ihn eine Entscheidung treffen müssten - denn eines war klar: er würde es uns nicht so einfach machen und einschlafen. Aber diese Entscheidung ist man seinen Haustieren nach jahrelanger Gemeinschaft und all der Liebe wohl schuldig.
Schnuffel ist tot. Wir mussten ihn am Sonntag 8.September 2019 von uns gehen lassen.
Auch Mitte des Jahres 2019 bin ich immer noch mit Aufräumarbeiten aus dem vorangegangenen Jahr beschäftigt, und ein Blick auf die DIE_LISTE beweist, dass immer noch viel zu viel ungesagt, manchmal so gar: ungehört ist. Ich kann ein halbes Jahr später auch wirklich nicht mehr sagen, warum es "Good Day" nicht in die Top 20 schaffte, zumal sogar die Herzallerliebste rare Momente voller Begeisterung zeigte und wiederholtes Abspielen einforderte. Es ist indes fast niemals zu spät, doch nochmal die schwach bloggende Hand zu heben und mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass "Good Day" eines der besten Alben 2018 ist.
Auf den ersten Blick erscheint die Frohlockung ungewöhnlich, weil der Typus des generischen Hipster-Sangesbarden nur selten Einzug in meine Hall Of Fame findet - Musiker wie der Norweger Thomas Dybdahl sind eher die Regel bestätigenden Ausnahmen. Tatsächlich würden wir alle ohne den mit einiger Vehemenz vorgetragenen Hinweis von Freund Jens ("Einfach kaufen, Bongo!") hier und heute nicht sitzen, stehen, laufen und irrlichternd über "Good Day" schreiben und lesen können, allerdings verließen mich meine sämtlichen über die Jahre aufgebauten Vorbehalte gegenüber der erwarteten Schunkelstunde alleine beim Anblick des wunderbar stilvollen und sogar optimistischen Cover Artworks - und das schneller als das Warenkörbchen "Vielen Dank für Ihre Bestellung, Herr Bongo!" ausspucken konnte.
Jeremiah sagt, er sei für "Good Day" vor allem von europäischen Pop der 1960er und 1970er Jahre beeinflusst worden, von Serge Gainsbourg und Jaques Brel. Aufgenommen im Analogstudio des The Kinks-Sängers Ray Davies, klingt die Platte aufgeraut und warm, irgendwo zwischen dem natürlichen Rauschen des Fahrtwinds auf dem Weg in den Sommerurlaub (Villa Elso, Riccione, 1983) und dem in der Ferne simmernden Glanz des Sonnenuntergangs am Meer. Ich kann Jeremiahs Musik eine gewisse europäische Eleganz nicht absprechen; eine Eleganz, die im Vergleich zu den oftmals eher zahmen Vertretern auf der anderen Seite des großen Teichs eindringlicher erscheint. Trotzdem erinnert mich "Good Day" vor allem ob seiner Streicherarrangements an den Kalifornier Jim Sullivan und dessen "U.F.O." Album aus dem Jahr 1969: Sullivan ist natürlich ein Gefangener seiner Zeit, trägt das Hippie-Stirnband nicht nur am, sondern auch vor allem im Kopf und hat diese typische Westküsten-Lässigkeit in seinem Sound. Jeremiah schafft es indes, jenen Vibe im regnerischen London des Jahres 2018 zu spiegeln und ihn ohne Patina und lästigem Imitationsdrang mit dem Geist eines aufgeräumten John Martyn zu verbinden.
"Good Day" ist trotz seines klaren Hangs zur Ästhetik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre ein modern klingendes und zu gleichen Teilen optimistisches sowie melancholisches Album. Funktioniert sicher auch im Spätsommer 2019. Einfach kaufen, Bongo!