CYNIC - FOCUS
Es ist nach zumindest intensiverem Synapsen-Mikado vermutlich keine allzu große Überraschung, dass sich so einiges, was sich vor zwei oder drei Dekaden nicht nur, aber vor allem in der Metal-Ursuppe tummelte, mit einigen Jahren Abstand nicht mehr ganz so revolutionär oder abgedreht anhört, wie es sich beim Erstkontakt möglicherweise anfühlte. Rock im Allgemeinen und Metal im Speziellen mögen aufgrund der durchaus signifikanten Entwicklungssprünge in Sachen Klang, Härte und Dichte, die das Rock-Genre vor allem seit den frühen Nullern durchmacht, besonders anfällig für einen ungünstig verlaufenden Alterungsprozess ihrer vermeintlichen Klassiker sein; Ausnahmen gelten für die seit Äonen ubiquitären Legenden des Mainstream wie Maiden, Priest, Sabbath, Purple und Zeppelin, deren weichgezeichneter Labbersound aus der Eisenzeit heute eher als wünschenswerte Patina gewürdigt wird, sowie für die berüchtigte Loyalität des Metal-Publikums: was mal in den Klassikerkanon einsortiert wurde, kommt da so schnell auch nicht mehr raus. Wie schon in dem Beitrag aus dem Jahr 2018 über Benedictions "Transcend The Rubicon" bemerkt, ist ein heute 15-jähriger Metalfan, der mit der klanglichen Intensität aus dem Metal- und Deathcore oder der technischen Qualität des heutigen Death Metal vertraut ist, mit der Musik seiner Eltern nicht nur aus pubertären Gründen im Sinne der Abgrenzung psychologisch herausgefordert, sondern insgesamt unterfordert.
Dasselbe kann zumindest für diesen Aspekt auch ohne gröbere Gewissenskonflikte über das Debut der US-amerikanischen Band Cynic geschrieben werden, die mit ihrem Debut "Focus" im Jahr 1993 auf der Bildfläche erschienen - wenngleich der Auseinandersetzung mit etwas addierter und der Musik angemessenen Komplexität sicher kein Schaden zugefügt wird, ganz im Gegenteil. "Focus" gilt heute weitläufig als Klassiker des Progressive Metals/Death Metals, und zieht man die Umstände der damaligen Zeit sowie der Szene in Betracht, hat es diesen Status als Zeitdokument einerseits, aber auch als Einfluss auf die spätere Entwicklung des Genres andererseits nicht zu Unrecht.
Zwar war man selbst als Death Metal Fan im Jahr 1993 schon so einiges gewohnt, weil die "Anything Goes"-Mentalität der frühen neunziger Jahre den Zeitgeist bis in den Untergrund bestimmen sollte: Fear Factorys Debut "Soul Of A New Machine" zeigte bereits ein Jahr zuvor Experimente mit Klargesang zwischen dem gutturalen Geröchel, Atheist lösten die schon auf früheren Alben nur unzureichend gesicherten Bremsen mit "Elements" endlich komplett und verbanden die fast vollständig aufgelösten Restspuren ihrer Death Metal Vergangenheit mit Latin und Salsa-Beats, während Chuck Schuldiner von Death, dem Großteil der Szene stets mit Sieben-Meilen-Stiefeln voraus, mit "Human" nicht nur einen Meilenstein des technischen Death Metals vorgelegt hatte, sondern auch automatisch die Marschrichtung der kommenden Entwicklungen im extremen Metal vorgab. Maßgeblichen Einfluss daran hatte auch die Hälfte von Schuldiners damaligem Line-Up: Paul Masvidal an der Gitarre und Sean Reinert am Schlagzeug spielten auf "Human" förmlich um ihr Leben und beeinflussten damit Musiker wie einen Gene Hoglan (u.a.Dark Angel), der Reinerts gewebte Prog- und Fusion-Fäden auf "Human" als späterer Death-Schlagzeuger auf den Alben "Individual Thought Pattern" (1993) und "Symbolic" (1995) aufnahm und dabei selbst stetig weiterentwickelte.
Eben diesen beiden Musiker Paul Masvidal und Sean Reinert bildeten auch die kreative Keimzelle bei Cynic. In Zusammenhang mit dem "Focus"-Produzenten Scott Burns und dem Morrissound Studio in Florida, beides in der Kombination zur damaligen Zeit DER Maßstab schlechthin, wenn es um Death Metal Produktionen ging, wurden Cynic als "Next Level Death Metal" vermarktet - und dafür hatte der ungewöhnlich progressive Sound es durchaus in sich. Die Band wechselte von anspruchsvoll zu spielendem, technischem Death Metal in Bruchteilen von Sekunden in spirituell anmutende und ätherisch wirkende Traumwelten, in denen Akustikgitarren und die mittels Vocodereinsatz surreal verfremdete Stimme von Masvidal den Sound prägten - nicht zu vergessen das melodische Harmonien aufziehende Bassspiel von Sean Malone, der mit seinem Fretless Bass dem Bandsound zusätzliche Originalität verpasste. Im Ergebnis habe ich "Focus", trotz der recht eindeutigen Vorzeichen, nie als Death Metal wahrgenommen; tatsächlich habe ich mich nie darum bemüht, überhaupt irgendeine passende Schublade dafür zu finden.
Ich habe mir vor wenigen Wochen den Vinyl-Reissue von "Focus" gegönnt und mich in diesem Zuge wieder intensiver mit dem Album befasst. Ich war zunächst über den Sound überrascht - und nicht unbedingt im positiven Sinne. In meiner Erinnerung war das Brett, das die Band mit Scott Burns bohrte, bedeutend dicker und druckvoller als ich es heute empfinde. Ein Gegencheck mit der CD und einem digitalen Format verschaffte Aufklärung: "Focus" klang auch schon 1993 nach heutigen Maßstäben nicht besonders gut, was vielleicht das eindrücklichste Zeichen dafür ist, dass der Zahn der Zeit auch in diesem Fall ein Stück der Faszination abnagen konnte. Interessant ist indes, dass sich im Vergleich zu Burns' Standardsound (Bass- und Schlagzeug-Regler auf 11, alle Mitten raus) auf "Focus" etwas mehr Transparenz und Differenzierung zeigt - das ist unter gegenwärtigen Gesichtspunkten zwar immer noch nicht viel, war aber für damalige Verhältnisse immerhin eine Varianz, eine Öffnung.
Darüber hinaus erscheint "Focus" aus heutiger Sicht bei Weitem nicht mehr so abgedreht zu sein, wie es sich in der Erinnerung immer noch anfühlt - und wie Rezensenten und Kommentatoren es bis heute beteuern. Besonders ist das Album auch 25 Jahre später ganz sicher noch, technisch wie visionär herausragend - aber am Ende des Tages lediglich im traditionell sehr eng begrenzten Kosmos von Rockmusik und Heavy Metal als unkonventionell zu bezeichnen. Das ist aus diesem Blickwinkel auch im Jahr 2019 noch legitim, vielleicht angesichts der tatsächlich noch dramatischer in Erscheinung tretenden Mutlosigkeit der Szene noch mehr als das. Aber für die, die keinen Tellerrand kennen, weil sie nicht mal einen Teller haben, spielt sich dann eben doch zu viel im Rahmen dessen ab, was man so kennt: klassische Instrumentierung, klassisch-progressive Arrangements, klassischer Sound. Das stete Gerede über ein mit übergeschnappten Ideen vollgepacktes Avantgarde-Jazz-Experimental-Feuerwerk ist letzten Endes irreführend.
Cynic wurden im Grunde nach ihrer zwischenzeitlichen Pause und ab 2008 mit dem Comebackalbum "Traced In Air" interessanter, weil sie subtiler wurden. Das Gerippe hatte immer noch Rockmusik eintätowiert - und ganz ehrlich: etwas anderes wollte und sollte die Band ja auch niemals sein - aber die Anpassungen in den Arrangements wurden so feingliedrig und behutsam umgesetzt, die Atmosphäre so genuin ätherisch und schwebend inszeniert, dass die Fraktion, die mit "Focus" Death Metal und Mucker-Frickeleien verband, mit dem signifikant zurückgeschraubten Metal-Anteil in ihrer Musik nun wenig überraschend ernste Probleme bekam. Eine erneute Weiterentwicklung gab es auf dem bislang letzten Album "Kindly Bent To Free Us" (2014) zu hören, auf dem Cynic eine besonders nuancierte Nische des Progressive Rocks besetzten und sich von Metal noch mehr als zuvor abgrenzten.
Es hat Spaß gemacht, "Focus" nochmal zu besuchen und es in diesem Zusammenhang nochmal neu einzusortieren - vielleicht war die neuerliche Beschäftigung nach meiner ganz persönlichen Öffnung zu so unterschiedlichen Musikgenres möglicherweise noch lohnenswerter, als sie es in meiner Adoleszenz war. Ich höre "Focus" heute sicherlich mit anderen Ohren als ich es noch 1993 tat.
Auch wenn der oben gemachte Versuch einer Differenzierung immer gut tut: An der visionären Kraft, dem Mut und dem Einfluss von "Focus" gibt es auch im Jahr 2019 nur wenig zu rütteln.
Erschienen auf Roadrunner Records, 1993.