07.11.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 7)




SKYCLAD - THE ANSWER MACHINE?


Rich and poor divide the classes, instigate two types of law
Making nineteen nineties Heaven feel like 1984
Your finger on the trigger of a 12-bore in the dark
When justice knocks upon your door
Send for the Eirenarch, send for the Eirenarch


Die mit "Irrational Anthems" begonnene und auf dem reinen Akustikalbum "Oui Avant-Garde À Chance" (Wortspiel revisited: "We haven't got a chance") fortgesetzte Entwicklung, den Metal mehr und mehr gegen Elemente des Folk auszutauschen, wird auf dem siebten Studioalbum abgeschlossen und gleichzeitig perfektioniert. "The Answer Machine?" ist ein Meisterwerk der neunziger Jahre mit der ungeschlagenen Atmosphäre eines Waldspaziergang in der Herbstdämmerung nach drei Tagen Regenwetter: es duftet nach nassem, modrigem Waldboden, das Laub raschelt unter den Füßen, es ist leicht grau-neblig, unberührt, ruhig und ein Zwergendorf weiter spielt die Band der Hobbits auf Banjos, Mandolinen, Flöten und Akkordeons. 

Skyclad haben hier einige ihrer beeindruckendsten Momente mit unsterblichen Melodien versehen und Songs für die Ewigkeit geschrieben. Ganz besonders muss mein Lieblingslied "Single Phial" heraus gehoben werden: ein ruhiges, melancholisches und inspirierendes Stück voller Wärme und Sehnsucht. 

"The Answer Machine?" wurde vor einigen Jahren sogar von intellektuellen Schriftstellerinnen aus Augsburg goutiert und als tolle Herbstmusik gefeiert. Der Beweis dafür wird mittlerweile aus den Weiten des Internets entfernt worden sein, und lesen wird sie das hier aller Voraussicht nach ebenso wenig - falls aber doch: ich bin bereit für die Unterlassungserklärung. 

"The Answer Machine?" ist das ungewöhnlichste, aber in meinem Buch auch das beste Album der Band. Seit 1997 unantastbar. 





Erschienen auf Massacre Records, 1997.


01.11.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 6)




SKYCLAD - IRRATIONAL ANTHEMS

I'm a founding member of the Pessimist Society, 
I talk to my reflection 'cause I trust it not to lie to me.

Nachdem der Fünfer kurzfristig Black Sabbath auf deren "Forbidden"-Tour in England als Support begleitete, erschien Skyclads erfolgreichstes Album "Irrational Anthems" im Mai 1996 und schlug plötzlich ein wie die vielzitierte Bombe. Vor allem deutsche Metalmagazine überschlugen sich mit Lobeshymnen, weshalb als Folge erstmals ein größerer Teil der hiesigen Metalszene auf das Quintett aufmerksam wurde. Auch in Griechenland wurde mit "Irrational Anthems" ordentlich abgeräumt. Der mit einem frischen Führerschein ausgestattete Herr Dreikommaviernull war der Band spätestens hier hoffnungslos verfallen und  fuhr verbotenerweise nach den abendlichen Kneipenabenden mit Freunden noch ziellos, dafür mit heruntergelassenen Hosen Fenstern im schreiend orange lackierten Opel Corsa (aka "Das Spaßmobil") für Stunden durch Frankfurt, um diese neuen Hymnen in voller Lautstärke zu genießen. 

Der Metal-Anteil wurde im Vergleich mit den Vorgängern durchaus signifikant zurückgefahren, was sich in erster Linie am transparenteren Klang zeigte, der die Gitarren bei Weitem nicht mehr so präsent, und dafür das Schlagzeug tatsächlich folkiger und luftiger darstellte. Das Songwriting ließ derweil erste Schlüsse auf die künftige Entwicklung der Band zu: "Penny Dreadful" ist ein reinrassiger und eingängig arrangierter Folk-Song mit einprägsamer Melodie und angriffslustigem Text über das Musikgeschäft:

Forgive me if I'm out of order
This new music has no soul
It may be good for making money
Sadly that is not my goal

Integrity and honesty
Are words that you don't understand
But you're the best
It says so in the Penny Dreadful in your hand

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong

"Oh, if we'd played this riff more punk
Than may be we'd have had a million-seller"
But this piper's tune is not for sale
I'm glad to say I'm not that kind of fella

DJ's, VJ's, pimps and trollops
Never mind music, this is bollocks

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong

Turn on! Tune up!
Cash in! Sell out!

Stand your ground behind the times
And refuse to follow fashion
Write your poetry with anger
And then sing it with a passion

Painted faces in a circus
Images that spring to mind,
When I read my Penny Dreadful
Filled with pictures of your kind

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong

Commercial suicide's appealing
After 10 years on this losing streak
'cause I'd rather be called sour and bitter
Than be deemed the flavour of the week

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong

Extra, extra, read all about it!

I saw you in a magazine
They're calling you Messiah
They must be living in a dream
They couldn't be more wrong




Hinzu kamen mit "The Spiral Staircase" ein ruhiges Geigen-Intermezzo und mit "No Deposit, No Return" ein relaxt swingendes Folkstück, bei dem Sänger Walkyier seine oftmals gepresst und unwirsch klingende Metalstimme gegen einen Klargesang eintauschte. Nicht zu vergessen das mittlerweile zur Tradition gewordene, ruhige, dafür sehr intensive Abschlussstück eines Skyclad-Albums: dieses Mal schnürt es einen bei "Quantity Time" die Kehle zu. 

"Irrational Anthems" ist bei Licht betrachtet ein fantastisches Album einer mit tollen Ideen vollgestopften Band auf ihrem kreativen Zenit und hat nach fast 20 Jahren eigentlich nur den Makel, dass es als einziges Skyclad-Album in meinem Buch nicht so irre gut gealtert ist. Ich kann den Finger nicht genau auf den Grund der Wunde legen - vielleicht habe ich es damals auch einfach nur zu oft und damit überhört, oder aber es steht in meinem Kopf sehr abgegrenzt für einen ganz bestimmten Abschnitt meines Lebens, der gleichfalls von meinem Restleben sehr stark abgegrenzt ist und der "Irrational Anthems" in dieser Hinsicht schlicht mitschleift. 

Ich lege das Album heutzutage praktisch nicht mehr auf. Wenn ich es aber tue, so wie für diesen Text, finde ich praktisch keine Schwachstelle. 

Erschienen auf Massacre Records, 1996.

31.10.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 5)




SKYCLAD - THE SILENT WHALES OF LUNAR SEA


I've been to a prison - one of my own making, 

I sent myself there when I signed on the line. 

A pact with the Devil so legally binding - 

Now he owns my soul 'til the end of time.

Wie in den vorangegangenen Postings schon erwähnt, war "The Silent Whales Of Lunar Sea" (ein Wortspiel aus The Silent Wails Of Lunacy, also "Die leisen Klagen des Wahnsinns") mein Einstieg in die Welt von Skyclad und hat alleine deshalb einen Sonderstatus.

Der Sound war etwas schlechter, weil dumpfer und verwaschener als auf dem exzellent klingenden Vorgänger, das Songwriting wurde indes erneut verbessert. Aber vor allem atmosphärisch ist das Album eine echte (Nebel)Bank: wie ein kalter, diesiger Novemberabend mit Nieselregen, dunkel, ein bisschen gespenstisch und mystisch.

Die Songs, gleichzeitig durchdachter als auch weniger hitkompatibel, erscheinen ebenfalls gedrückter und frustrierter. Die Band wurde vor Veröffentlichung des Albums auch schwer gebeutelt: zum einen stiegen Einbrecher in ihren Proberaum/Studiokomplex ein und klauten alles, was nicht niet- und nagelfest war, insgesamt Elektronik und Instrumente im Wert von über 30.000 Britischen Pfund. Zum anderen musste sich Gitarrist Steve Ramsey einen Herzschrittmacher einsetzen lassen.

Die Highlights des Albums: das eingängige "Art Nazi", das wundervoll verzauberte "Stranger In The Garden", die intensive Ballade "The Present Imperfect" sowie die beiden prima arrangierten, gar leicht progressiv klingenden Rocker "Another Fine Mess" und "Halo Of Flies". Außerdem ist das Coverartwork eine Sensation.





Erschienen auf Noise, 1995.

29.10.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 4)




SKYCLAD - PRINCE OF THE POVERTY LINE


The "whether man" says that the outlook's not great 
A few outbreaks of murder with some isolated rape
I ask my doctor his advice, this is what he says, 
"Get yourself some cancer boy, before you die of aids."


Nach drei LPs und einer EP machte der Fünfer mit "Prince Of The Poverty Line" ernst. Der Sound - vor allem von den Gitarren - war ultraheavy, dick und zähflüssig wie Sirup, Sänger Martin Walkyier entdeckte ab und an Melodiebögen in seinen Vokalarrangements, die Songs wurden entzerrt und erschienen in ihrer Gesamtanlage runder, dabei aber nicht glatter. Zudem spielten Violine und Keyboards in den Kompositionen eine größere Rolle als zuvor - und das nicht nur im größten Hit von "Prince Of The Poverty Line": "Land Of The Rising Slum", textlich ein Rundumschlag gegen ein verlogenes System, das die Reichen reicher und die Armen - und seien's nur die geist'gen - ärmer macht und das die eigene Heilung schon lange das Klo heruntergespült und mit "Wachstum, Wachstum, Wachstum" (Schorsch Ackermann) ersetzt hat, musikalisch hingegen eine blitzsaubere Hitparade von viereinhalb Minuten mit Melodie, Drive und Groove mit einem hübschen Orgelsolo zur Mitte. Prachtvoll.

Zwischen Stakkatobrechern wie "Sins Of Emmision" oder "Gammadion Seed", Hymnen ("The Truth Famine"), der Beinahe-Ballade "The One Piece Puzzle" und zähem Metalgewürmel wie im fantastischen "Womb In The Worm" fanden sich mit dem erwähnten "Land Of The Rising Slum" und dem treibenden "Cardboard City" auch die typischen Skyclad-Hits wieder. Einige eingeschworene Fans bezeichnen das vierte Studioalbum der Band aus Newcastle als ihr Magnum Opus, und es gibt verdammt viele Momente auf "Prince Of The Poverty Line", die mich manchmal ähnliches vermuten lassen.





Erschienen auf Noise, 1994.

24.10.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 3)



There's still plenty of poisonous fish in the sea
Rich with more complexes than vitamin B
If trawling for assholes you'll net a fine catch
With skulls full of sawdust, well I've got the match


Walkyier verließ "seine" Band völlig überraschend nach dem 2000er Album "Folkémon" aufgrund finanzieller Differenzen. Auch nach jahrelangen Tourneen fast völlig ohne Ruhepause, sowie nach 15 Jahren im Musikbusiness, konnte der Sänger seine Rechnungen nicht bezahlen. Als Konsequenz wollte Walkyier die Band zur Mittelalter-Profiband umbauen, auch befeuert durch die Erfolge von deutschen Bands wie Subway To Sally und In Extremo, was die restlichen Mitglieder, die allesamt Nebenjobs hatten, allerdings ablehnten.

Seitdem wird es an beiden Fronten sehr dunkel und sehr traurig: die Band ersetzte Walkyier mit dem Gitarristen, Sänger und Freund Kevin Ridley, nahm in nunmehr 15 Jahren gerade mal zwei Studioalben auf und verlor auf diesem Weg jeden Funken Charisma. Musikalisch haben sich die beiden Songwriter English und Ramsey nicht viel vorzuwerfen, Ridley hingegen hat bereits auf Konserve die biedere Ausstrahlung einer alten in Bergkamen zusammengenähten Nachkriegskittelschürze. Keine Power, keine Leidenschaft, stattdessen generisches und sorgfältig geruhsam ausgeschnarchtes Herumgerocke, das in seiner Ödnis selbst in der Livesituation kaum zu ertragen ist. Stockfinster wird es bei Songs wie "Cardboard City" (aus dem Album "Prince Of The Poverty Line", 1994), die alleine gesanglich nach mehr Kraft und Schärfe schreien, und die Ridley nicht im Ansatz würdig interpretieren kann. Hier scheint auch der gesamten Band das Gespür dafür zu fehlen, was geht - und was vor allem nicht geht.

Die andere Seite, Martin Walkyier, hat sich unterdessen auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert: eine Handvoll Sabbat Reunionshows, mit The Clan Destined eine neue Band, mit deren Mitgliedern er sich schon vor der Aufnahme der ersten EP überwarf, und die seit mittlerweile knapp zehn Jahren auch wieder in der Versenkung verschwunden ist. Dazu kamen besonders in den letzten Jahren einige Liveshows unter dem Banner "Martin Walkyier's Skyclad" hinzu - das Spiel kennt man von anderen Beispielen, aber nur in ganz seltenen Ausnahmefällen kann sowas funktionieren - und dies ist kein solcher Ausnahmefall. Dass Walkyier zudem gerne mal verbal über die Stränge schlägt, auch in Richtung der alten Kollegen, ist ebenfalls nichts Neues mehr. Das Tischtuch scheint nach dem Schweigen Walkyiers zur Beerdigung seines ehemaligen und langjährigen Schlagzeugers Keith Baxter mittlerweile auch endgültig durchschnitten zu sein. Dazu hagelte es Tour- und Showabsagen, öffentlich ausgetragene Grabenkämpfe mit anderen, ehemals befreundeten Bands und aufgebrachte Fans. Die letzten 15 Jahre waren kein Ponyschlecken für den Mann.

Was hier in den nächsten Tagen und Wochen zu lesen sein wird: die für mich besten sechs Platten der Band. Weil ich sie wieder entdeckte. Weil ich sie immer noch großartig finde. Weil die damaligen Skyclad die legitimen Nachfolger Thin Lizzys waren. Weil sie etwas zu sagen hatten. Weil sie frisch und aufregend klangen. Weil sie immer versuchten, sich nicht zu wiederholen. Und man sieht's mir bitt'schön nach, aber es gab in den letzten 15 Jahren nur wenige Bands, deren Schaffen eine auch nur ähnliche Kombination aufwies.

"Solche Bands werden heute nicht mehr gemacht" (Andreas "Kanzler" Kohl über Jesus Lizard)

Und tatsächlich:

"Solche Bands werden heute nicht mehr gemacht." (Herr Dreikommaviernull über Skyclad)




...to be continued...


18.10.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 2)




A well cultured vulture feathers his nest
It's a chalet near Aix-en-Provence
The Porche he drives has been paid for with lives


Sänger und Texter Walkyier, der seine Lyrics auf so vielen Ebenen mit Anspielungen, obskuren Verweisen und kunstvollen Wortakrobatiken vollstopfte, so dass sie für einen, der Englisch nicht als Muttersprache im Lebenslauf führt, kaum in Gänze und Wort für Wort zu verstehen sind, hatte als Handicap ein deutlich hörbares Lispeln in der Aussprache, das er später als Stilmittel einsetzte, war kaum 1,65m klein und pflegte vermutlich nicht nur auf der Bühne seine Aura des Underdogs mit einiger Sturheit. Es war eben immer die große, böse Welt gegen den armen, kleinen Martin, aber als Backfisch, der zu spät zu seiner eigenen Pubertät gekommen ist, war ich empfänglich für die sich zeitweise aus der Deckung trauende Opferrhetorik - immerhin war sie schlau, geistreich und mit Humor vorgetragen, und ich hatte außerdem keinen Funken eines Zweifels an Walkyiers Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit. Die komplette Band war darüber hinaus fast schon schmerzhaft sympathisch und mischte sich nach ihren Auftritten regelmäßig unter die Besucher, hing an der Bar oder am Merchandise-Stand ab und plauderte mit den Fans. Herausragend natürlich Geigerin Georgina Biddle, die für die 1995er Platte "The Silent Whales Of Lunar Sea" zur Band stieß und deren Badewasser der oben genannte Backfisch aus Frankfurt ohne mit dem Herpesbläschen zu zucken glatt mit einem Strohhalm ausgetrunken hätte: eine humorvolle, intelligente, charmante Frau, die mit ihrer unter das Kinn geklemmten Geige und der Frisur von Tingeltangel Bob wie ein Derwisch über die Bühen tobte und dabei die schnellsten Läufe und wildesten Breaks mit links und mit einem großen Grinsen im Gesicht spielte.

Dass Skyclad nie der Durchbruch gelingen sollte, war im Prinzip von Anfang an klar, auch wenn sie mit ihrem Klassiker "Irrational Anthems" aus dem Jahr 1996 zumindest in Deutschland und vor allem in Griechenland zu einer etwas größeren Nummer wurden: mit derlei zu gleichen Teilen angriffslustigen und frustrierten Texten, die bei aller ebenfalls durchscheinenden Selbstironie immer mit dem Finger auf die zeigten, die es aus der Sicht Walkyiers für alle anderen und ihn selbst ruinierten, war kein Mainstream-Staat zu machen. Kory Clarke von Warrior Soul kann darüber auch das ein oder andere Liedchen singen. Es gehört allerdings zur Grundausstattung Walkyiers, dass er es erstens immer weiter versuchte und zweitens nicht müde wurde, das Musikbusiness als Grundübel dieser Welt zu bezeichnen - dass Noise-Labelchef Karl-Uwe Walterbach den kleinen Mann auf Platz 4 seiner "Die schwierigsten Musiker, mit denen ich je zusammenarbeitete"-Liste führt und mit dem Zusatz "Heulsuse" versieht, ist sicher nicht der Tatsache geschuldet, dass Walkyier immer so ein umgänglicher und einsichtiger Typ war.

"You better ask Andy Sneap (ex-Sabbat Gitarrist) here and he knows best what was wrong with Martin. The break-up of the very talented Sabbat with Andy Sneap as songwriter had to do with this unreliable character Martin Walkyier. And it continued later with Skyclad. I'm not a Psychiatrist, I can't explain mad people and their bizarre stories you journalists produce a forum for." (Walterbach)

Aber das sieht der Backfisch a.D. eben mit einer Verspätung von fast 20 Jahren so. Man wächst mental doch noch so ein kleines bisschen, wenn sich das Hirnklima von den allzu schlimmen Hormonverwüstungen erholt.

I'm so tired of living -
Too weary to cry,
Too stubborn to give in -
Curl up and die.
This whole situation has I must confess,
All the tell-tale signs of another fine mess.
(aus "Another Fine Mess", 1995)






....to be continued....

11.10.2015

Skyclad - They Were Building A Ruin (Teil 1)




I'm just thinking aloud
Isn't thinking allowed?


Das sichere Anzeichen, dass die Anzahl der Jahresringe unter den Augen exponentiell zur eigenen Hirnverschrumpelung wächst, ist im Hause Dreikommaviernull mit der gleichfalls wachsenden Affinität zu jener Musik zu erklären, die mich in meiner Adoleszenz und Pubertät begleitet hat. Ich habe es nicht erst ein Mal mit einer gewissen Romantik zu erklären versucht, auch mit der ubiquitären Verklärung der damaligen Zeiten, die mit Sicherheitsabstand und im zwanzig Jahre alten Rückspiegel betrachtet eben doch immer noch und wieder aus reinem Gold, purem Glück und happy Happiness bestanden. Das ist in meinem Buch weder besonders hässlich noch ungewöhnlich, solange ich das Hier und Jetzt nicht bewusst ignoriere. Aber zu den Typen, die 1991 zu "Nevermind" nur ein müdes Mundwinkelzucken hevorbrachten und stattdessen lieber "Sgt.Pepper" auflegten, wollte ich nie gehören - in voller Anerkennung, dass ich es heute längst geworden bin und den jugendlichen Puls der Zeit weder fühlen kann noch will. Tatsächlich bin ich ganz froh, dass ich mit dem heutigen Trash von Taylor Swift und der unterbelichteten deutschen Hip Hop-Bagage nicht aufwachsen muss. Dass der Rock tot ist, wusste hingegen Billy Corgan schon im Sommer 1996 - und wo ich damals vor Wut schäumte, dass der glattgeschorene Mini-Napoleon mit näselnder Nervstimme meinen schönen Heavy Metal durch den Kakao schleifte, weiß ich heute: der Mann hatte nicht nur "irgendwie" recht, der hatte volles Rohr recht. Aber das sieht man in seiner jugendlichen Vollverbretterung natürlich nicht, und wenn man sich gerade völlig unironisch eine Stratovarius CD gekauft hat ohnehin nicht. Ein paar weitere Leichen sind seitdem auch noch hinzugekommen, es werden tatsächlich täglich mehr. 

Als Reaktion auf die Leichenstarre des Rock setze ich mich überwiegend mit neuer Musik auseinander. Mir ist das sehr wichtig, tatsächlich ist es sogar wichtiger, als immer und immer wieder die erwähnte Romantik zu bemühen - was schön und gut sein kann, angenehm und gemütlich sowieso. Aber es fühlt sich auch immer ein bisschen so an, als würde man mit unter die Ellenbogen geschnallten Kissen am Fenster sitzen und mit dem Luftgewehr auf vor dem Haus spielende Kinder schießen. Seit einigen Jahren bemerke ich andererseits, dass die Tendenz, sich genüsslich in dem "Party like it's 1994"-Gefühl zu suhlen, zwar stetig abnimmt, aber die endgültige Anerkennung jener Rockmusik in den Vordergrund rückt, die ich zwar schon immer mochte, deren heller Schein mich aber heute noch mehr fesselt als früher. Denn wenn die Sonne tief steht, werfen Riesen eben noch längere Schatten. Unter diesem Einfluss erscheinen mir heute Bands wie King's X, Voivod, Spock's Beard, Tool, die frühen (!) Monster Magnet oder auch die ganze 80er Hardrock-Clique als wenigstens Halbgötter - musikalisch virtuos, zeitlos und echt - wohlwissend, dass wenigstens letztgenanntes Merkmal eine Chimäre ist. Vor allem im Rock'n'Roll, der in erster Linie vom Mythos des rebellischen Aussteigers lebt, von "Kopp ab und Hirn raus" (Kalkofe), von der "Entfremdung" (de Maiziere).


Youth of our nation - A lost generation
Like lepers we march to the chimes of Big Ben.
Exiled and rejected by powers elected
Our cries from the gutter don't reach number ten.
Give us this day our daily bread
Before the headlines read "bring out your dead."
Chip-wrapper flowers are blown onto this cardboard grave
My spray paint epitaph upon the wall it says...
"Here lies the bones of some poor homeless vagrant
He died as he lived, in the shit on the pavement.
(aus "Cardboard City", 1994)


Der geschriebene Halbmarathon war notwendig, um die Kurve zu der Band zu bekommen, die in der obigen Aufzählung ihren Platz längst im oberen Drittel eingenommen hat, und die ich besonders in den letzten Jahren nicht nur nach langer Abstinenz wiederentdeckte, sondern mittlerweile als eine der wichtigsten, originellsten und stilprägendsten Metalbands der neunziger Jahre betrachte: Skyclad. 

Nun stehe ich nicht unbedingt in Verdacht, Mittelaltermärkte zu besuchen, Met zu saufen und an Tagen mit ungerader Stundenzahl bei rechtsdrehendem Vollmond auf einer Waldlichtung Wotan anzuheulen. Wir müssen gleichzeitig aber auch festhalten, dass die fünf Briten nicht für den gigantischen Scheißhaufen verantwortlich gemacht werden dürfen, der sich seit einigen Jahren allgemein unter dem Banner des Folk Metal durch die Nervenzellen energetisch minimal ausgeleuchteter Hirnstämme dampfen darf, und der zu meiner großen Metalphase - Achtung, jetzt spricht Oppa wieder vom "Kriech" (Heinz Erhardt) - vom wilden Mob mit Mistgabeln und brennenden Fackeln von jeder Bühne getrieben worden wäre. Wir waren auch irgendwie bekloppte Assos, aber wir hatten immerhin genug Stil und Geschmack, um diese musikalischen Weichsemmeln gerechtermaßen auszulachen.

Ich weiß, dass das ganz schnell in eine Rechtfertigungsorgie kippen kann, aber es ist für die Bewertung wichtig, um es richtig einzuordnen: Skyclad entstanden Anfang der 1990er Jahre aus den Überresten der englischen Thrashbands Satan (Bassist Graeme English und Gitarrist Steve Ramsey) und Sabbat (Sänger Martin Walkyier) und obwohl die Truppe schon auf dem Debut "The Wayward Sons Of Mother Earth" hinsichtlich der Instrumentierung und Melodik mit Elementen des Folk arbeitete, spielten Skyclad zu Beginn ihrer Karriere zweifellos harten Thrash Metal mit durchaus räudig klingenden Vocals von Walykier; die Band sollte sich allerdings in den kommenden Jahren stetig weiterentwickeln und auf den späteren Werken dem Folk immer mehr Platz einräumen. Doch egal, welche Richtung das Quintett einschlagen sollte, es gibt praktisch kein Skyclad-Album, das wie der Vorgänger klingt, und ich habe ganz offensichtlich eine Schwäche für Bands, die stets versuchen, diesen einen berühmten Schritt weiterzugehen, ohne dabei ihren ureigenen Stil zu verlieren. 

Skyclad ist dieses Kunststück selbst dann gelungen, als sie aus ihrer sehr folkigen und ruhigen Phase der Jahre 1997/1998 mit dem 1999 erschienenen "Vintage Whine"-Album wieder den Weg nach Metalkuttenhausen einschlugen und sie sich trotzdem nicht wiederholten. Trotzdem weiß man nach drei Sekunden ihrer Songs, wer hier am Werke ist. Und dabei ist es egal, ob ich dafür eine Platte von 1991, 1997 oder 2000 auf den Teller lege.

Hell is where the heart lies - in Purgatory's borders.
The great thing 'bout eternity - they never call last orders!
(aus "The Sinful Ensemble", 1996)

Meine Liebesbeziehung begann erst relativ spät mit ihrem fünften Album "The Silent Whales Of Lunar Sea" im Jahr 1995, und weil ich besonders vom Cover, den gesellschaftskritischen, politischen und mit Wortspielen gespickten Texten und von der herb-melancholischen Atmosphäre so angetan war, besuchte ich im Herbst desselben Jahres auch zum ersten Mal eines ihrer Konzerte in der Frankfurt Batschkapp (als Vorbands dabei: China Beach und Cancer), von dem es völlig unglaublicherweise mittlerweile sogar einen kurzen Videomitschnitt gibt. Ich war damals über das gesamte Konzert im Moshpit und irgendwo da vorne vor der Bühne hampelt der gerade 18 gewordene Florian herum. Zum Heulen schön.




Der Abend sollte in den kommenden Jahren der Grund dafür sein, zum devoten Fan-Boy zu mutieren: Bis zum Ende der Neunziger sah ich die Band praktisch jedes Jahr mindestens ein Mal, ihre Platten wurde allesamt am ersten Tag der Veröffentlichung aus dem Plattenladen entführt und kein T-Shirt war mir kitschig und rollenspielnerdig genug, um es eben nicht doch zu kaufen. Auf dem Foto im damaligen Studentenausweis trug ich neben der Eric AK-Gedächtnisfrise (der junge Mann ganz rechts im Bild) ein gelbes (!) Batikshirt (!!) von Skyclad, dessen Rückendruck im Dunkeln leuchtete (!!!). 

Noch Fragen?

Wenn ja: Fortsetzung folgt!



27.09.2015

Tout Nouveau Tout Beau (17) - The Grunge Edition



LOVESLUG - BEEF JERKY


Eine Wahrheit, die mir tatsächlich über Jahre verborgen blieb, ist die zumindest stilistische Nähe der wirklich frühen Grungebands mit dem Ende der 80er Jahre überaus erfolgreichen Sleaze Rock einerseits und mit dem Rotzrock-Hype in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Ein gutes Beispiel dafür sind auch Loveslug, eine 1987 in Amsterdam gegründete und 1994 aufgelöste Rockband, die problemlos auch für eine Veröffentlichung auf Sub Pop gut gewesen wäre. Tatsächlich nahm sich deren deutsches Pendant Glitterhouse Records der Band an und auch das passte ganz hervorragend zwischen die erste EP von Monster Magnet und die frühen Amphetamine Records Veröffentlichungen, die Glitterhouse in Europa vermarktete. Produziert von Jack Endino, ist "Beef Jerky" eine Zeitreise in die Untergrundszene Ende der 80er Jahre und zu Beginn der 90er Jahre. Verschwitzter, dreckiger und lauter Rock, der aufgrund fehlender Klischees aber nicht breitbeinig wirkte und damit in Plattensammlungen zu finden sein sollte, die für "Superfuzz Bigmuff", "Ultramega OK" und "God's Balls" das Favoritenfach freihalten.

Erschienen auf Glitterhouse Records, 1990.






BIG CHIEF - FACE


Big Chief waren eine musikalisch hochinteressante Band, die sich 1994, nach fünf Jahren, ebenso vielen Alben und zahlreichen Singles und EPs aus Frustration über das Musikgeschäft und eine zu geringe Aufmerksamkeit für ihre Musik auflöste. Ihr Debut "Face" erschien 1991 zunächst auf Repulsion, bevor Sub Pop die Band unter Vertrag nahm, und bietet lässig-walzenden, im Vergleich zu Loveslug gleichzeitig polierteren als auch metallischeren Grungerock mit bemerkenswerten, aber hier zunächst nur sehr dezent anzutreffenden Ausflügen in Richtung Soul. Beeinflusst von Bands wie den Stooges und den MC5, nahm das Quintett aus Michigan nach der Explosion des Grunge einige stilistische Kurskorrekturen vor und bewegte sich mehr in Soul und Funk-Gefilde. Was "Face" fehlt, ist nahezu jegliches Hitpotential, insofern darf man sich über die fehlende Popularität nicht wundern - persönlich finde ich das zähe Gerocke und Geschrubbe, das mehr Wert auf Stimmung und Groove als auf leidende Sänger, verzweifelte Texte und in die Luft gehaltene Feuerzeuge legt, durchaus charmant. Solche Platten hat man sich eben zu erarbeiten. Bei "Face" lohnt es sich. 

Erschienen auf Repulsion/Sub Pop, 1991.







BLOOD CIRCUS - PRIMAL ROCK THERAPY


In jedem Genre sind sie zu finden: Die Vergessenen. Die Unbeachteten. Selbst dann, wenn alleine das Label und der Zeitpunkt der Veröffentlichung dafür sprechen könnten, wenn nicht müssten, solche Bands wenigstens in die Hall of Fame aufzunehmen - nicht unbedingt wegen eines reißenden Absatz ihrer Platten, dafür für wegweisende Relevanz. Blood Circus war ein Quartett aus Seattle, das 1989 ihre Debut-EP "Primal Rock Therapy" auf Sub Pop veröffentlichte. Und wenn die Truppe für eines berühmt ist, dann für die Geschichte, sie seien auf ewig die schlechtverkaufendste Band des Labels gewesen. Andererseits kann man diesen furiosen Ritt durch Garagenrock und Punk als eine echte Pionierarbeit bewerten, für die sich die Band allerdings im Wortsinn nichts kaufen konnte: Nach einer sechswöchigen Tour durch Nordamerika lösten sich Blood Circus 1989, und damit lange vor der Grungeexplosion, wieder auf. Gut drei Jahre später erschienen sie plötzlich wieder in Originalbesetzung auf der Bildfläche, als die musikalische Fahne Seattles allerdings schon wieder dezent auf dem Weg in Richtung Halbmast war. Grunge wurde ironisiert und ausverkauft. Bad timing gone horribly wrong. Wer wissen will, womit der ganze Wahnsinn anfing, sollte "Primal Rock Therapy" im Schrank stehen haben. Weil es, ganz am Rande, auch eine echt gute Platte ist. 

Erschienen auf Sub Pop, 1989.


24.09.2015

Auf Großer Fahrt



SCHWACH / COLDSORE / BLANK WHEN ZERO

AZ KÖLN

25.9.2015

Wir sind sehr erfreulicherweise mal wieder im Lande unterwegs und werden auf eine Bühne gelassen. Wer den Freitagabend noch nicht mit etwas Besserem verplant hat, schleppt sich also ins Kölner AZ (Luxemburger Straße 93) und schaut sich diese drei wunderbaren Bands an:

Schwach aus Berlin





Coldsore aus Belgien 





und *tadaaaa*: Blank When Zero.





Operation "Hurra, wir leben noch!" startet morgen gegen 16 Uhr mit der Abfahrt in Richtung Köln.

Marek kündigte bereits an, Simon und mich mit der neuen Madsen-Platte zu ärgern - und da er morgen der Kapitän des luxuriösen Nightliners ist, der uns zunächst für eine Wellnessbehandlung mit Schleimkacke und Blasenkatheter mit Haselnüssen ins Kölner Hilton bringen wird, ist er auch automatisch der Herrscher über die Bluetooth-Schnittstelle zur eingebauten 300-Watt-Prolo-PA.

Das wird alles scholl fön!


20.09.2015

Iron Maiden - The Book Of Half-Assed Souls




IRON MAIDEN - THE BOOK OF SOULS



- PROLOG -


Wer meinen kleinen Blog nicht erst seit gestern beobachtet, dem wird meine mittlerweile in voller Blüte stehende Hassliebe zur britischen Heavy Metal Legende Iron Maiden durchaus geläufig sein. Liebe, weil das Flagschiff einst dafür verantwortlich war, dass der kleine Florian auf den Pfad der elektrisch verstärkten Gitarre einerseits und großer, bunter, Mutti Angst machender Monster andererseits gebracht, und also Roland Kaiser nahezu wortwörtlich eingemottet wurde - jedenfalls seine Platten. Liebe aber auch deshalb, weil mein erstes besuchtes Rockkonzert jenes von Bruce Dickinson in der Frankfurter Batchkapp war, das zweite von Iron Maiden in der Frankfurter Festhalle gespielt wurde, und weil ich den Buben über fünfundzwanzig Jahre hinweg beinahe völlig blind folgte und so gut wie alles abnickte, was sie mir zum Fraß vor die Füße warfen. Und wenn es, ganz besonders im Rückblick, ein noch so großer, bitterer Haufen "Gammelmusik mit X, das war wohl nix" - pun intended - war: ich liebte und kaufte alles. 

Die Sache mit dem Hass ist schwieriger zu erklären, aber ich habe es zumindest hier und da versucht, zu erläutern. Der Versuch einer Kurzform: Iron Maiden sind nicht erst seit heute, aber es zeigt sich offensichtlicher als früher, ein millionenschweres Wirtschaftsunternehmen mit perfekter Vermarktung, dessen erstes Ziel es schon lange nicht mehr ist, besonders kreative Musik zu erfinden; eine Einlassung, die sämtliche Widersprüche beinhaltet, die aus dem Spannungsfeld zwischen prominent dargestellter Fannähe und dem "Höher, Schneller, Weiter"-Prinzip von BWL-Studenten entstehen können. Das wissen sowohl die beiden Managementköpfe Andy Taylor und Rod Smallwood, als auch Chef-Jungfrau Steve Harris, die sich längst allesamt ein ganzes Kaufhaus in der Größe einer Pazifikinsel mit goldenen Nasen drin kaufen könnten. Ich neide ihnen das nicht, denn eine Band - eine Heavy Metal Band zumal, die zu keinem Zeitpunkt ihrer Karriere und somit anders als beispielsweise Metallica mit "Nothing Else Matters" oder AC/DC mit "You Shook Me All Night Long" ein millionenfaches Mainstreampublikum erreichte - über einen Zeitraum von über 35 Jahren nicht nur an die Spitze zu führen, sondern sie auch noch dort noch für die nächsten geschätzten 3,4 Millionen Generationen einzubetonieren, und dabei über die gesamte Karriere hinweg als glaubwürdig zu gelten, ist eine wirklich unfassbare Leistung. Das ist ihr Lebenswerk, und ich muss davor alle verfügbaren Hüte ziehen. 

All das führt auf der anderen Seite auch dazu, dass man erstens sein Publikum ganz genau kennt (und kennen muss), und zweitens weiß, dass man sich auf dem Niveau, auf dem sich Maiden allerspätestens seit der Reunion mit Sänger Bruce Dickinson und Gitarrist Adrian Smith im Jahr 1999 bewegen, künstlerisch keine Beine mehr ausreißen muss, um die Stadion- und Arenashows auszuverkaufen, die in Zeiten von Download- und Streamingangeboten sowieso bedeutend lukrativer sind als Plattenverkäufe. 

Beide beschriebenen Pole sind aus meiner Sicht notwendig, um sich dem kürzlich erschienenen neuen Album "The Book of Souls" zu nähern, denn die Konsequenz ist offensichtlich: ich schaue Maiden ganz besonders gerne über die kreative, kommerzielle und strategische Schulter und kann für beide Extreme gleichermaßen leidenschaftlich werden.


- DAS OBJEKT - 


Mit "The Book Of Souls" hat die Band erstmals in ihrer Karriere ein Doppelalbum veröffentlicht. Aufgenommen im Sommer/Herbst 2014 in Paris unter der Regie von Kevin Shirley, bietet das Opus überdenkenswerte 92 Minuten neuer Musik, die ebenfalls erstmals fast vollständig im Studio geschrieben wurde.  Schenkt man den Worten von Gitarrist Dave Murray Glauben, war der kreative Songwritingprozess gar so ergiebig, dass die Truppe die Sessions willentlich abbrach, weil sie ansonsten zuviel Material geschrieben hätte - und das geht bei Iron Maiden nun wirklich nicht, denn die Stechuhr hat gerufen, und die B-Seiten der Singleauskopplungen werden gefälligst mit überflüssigen und unausgegorenen Demoversionen vollgenagelt, die man in irgendeiner Rumpelkammer seit Jahren am Rumgammeln hat. Wäre ja sonst alles noch schöner. 

Es gibt noch mehr Außergewöhnliches zu erzählen. Auf "The Book Of Souls" finden sich insgesamt elf neue Songs, von denen ganze vier ohne Beteiligung des Bandleaders und Bassisten Steve Harris entstanden, ein angesichts Harris' Charakter als sturer Controlfreak beinahe revolutionärer Wert: das letzte Mal, als es eine ähnliche Anzahl von "No Steve"-Songs auf ein Maiden-Album schaffte, schrieben wir das Jahr 1992 und die Platte hieß "Fear Of The Dark". Damals waren es gar fünf Kompositionen, die sich die übrigen drei Songwriter Murray, Gers und Dickinson auf die Fahne kritzeln durften und was dabei herauskam, wissen wir heute: ein orientierungsloses, zerfahrenes Werk, das streng genommen nur wegen des alles überstrahlenden Titelsongs eine Daseinsberechtigung hat; Text und Musik übrigens Steve Harris, bitte, danke. 

Diesen Fehler sollte Harris bis in das Jahr 2015 nicht mehr zulassen. Auf den nächsten sechs Studioalben, vom 1995er "The X-Factor" bis zu "The Final Frontier" aus dem Jahr 2010 ließ der Bassist insgesamt nur drei Tracks durch die Qualitätskontrolle wurschteln, die ohne seine Beteiligung komponiert wurden: "Man On The Edge" von "The X-Factor", "Como Esta Amigos?" von "Virtual XI" und die Nicko McBrain Premierenidee "New Frontier" auf "Dance Of Death". In einem aktuellen Interview zu "The Book Of Souls" im britischen Metal Hammer sprach Harris davon, zwei ihm sehr nahe stehende Menschen verloren zu haben, was die Aufnahmen zu "den schwersten seiner Karriere" machten. Was nebenbei eine Erkenntnis ist, die der GRÖBAZ bereits nach den Aufnahmen zu "The X-Factor" in jedes Journalistenmikrofon trompetete, weil er im Scheidungsprozess mit seiner damaligen Ehefrau steckte.  

Auch in Sachen Songwriting und - im weitesten Sinne - Sound gibt es die ein oder andere Überraschung, die so nicht zu erwarten war: der Opener "If Eternity Should Fail", von Bruce Dickinson im Alleingang und ursprünglich für eines seiner Soloalben geschrieben, brachte das Sextett zum ersten Mal dazu, die Gitarren mittels des "Dropped-D"-Tunings herunter zu stimmen - unter großen Schmerzen und Bedenken zwar, aber immerhin. Wer auch nur ahnt, wie groß die Angst der Band mittlerweile ist, ihre Anhänger Schrägstrich Kontostände mit derlei Experimenten zu verunsichern, und seien sie noch so schreiend banal, wie beispielsweise eine verfluchte Gitarrensaite einen Ton nach unten zu stimmen, kann ermessen, welche Kämpfe ausgefochten werden mussten. Zweiter großer Hinhörer: der über 18-minütige Schlusspunkt "Empire Of The Clouds", von Dickinson ebenfalls im Alleingang über mehrere Jahre ausgebrütet und nun für "The Book Of Souls" zum Leben erweckt, ist nicht nur der längste Maiden-Song aller Zeiten, sondern auch der erste, der ein Klavier präsentiert. Dazu aber später mehr.

Auch für Dickinson selbst waren die Aufnahmen bemerkenswert: kurz nach Abschluss der Sessions wurde bei ihm ein bösartiger Tumor in der Größe eines Golfballs an der Wurzel seiner Zunge festgestellt, zusätzlich hatte auch ein Lymphknoten etwas abbekommen. Als er im Mai 2015 von seinen Ärzten grünes Licht bekam, hatte der 57-jährige Sänger eine mehrmonatige Chemotherapie- und Bestrahlungstortur hinter sich, von welchen er sich aktuell erholt - und gemessen an den bislang gesehenen Videointerviews hat es die Air Raid Siren auch bitter nötig. Das heißt aber auch: Dickinson hatte während der "The Book Of Souls"-Aufnahmen einen Golfball im Hals, mit dem er sang. Das kann man diskussionswürdig finden. 

Tatsächlich produziert seine Stimme die erste wirkliche Auffälligkeit dieses Albums, eine, die man sich fast nicht auszusprechen traut: der Mann wird alt, und dies ist die erste Platte, auf der man es deutlich hört. Sein gesamtes Timbre klingt rauher, dunkler und gerade in höheren Lagen auch signifikant schwerfälliger. Das ist nicht tragisch, weil er immer noch fast jeden anderen Sängerdarsteller an die Wand singt; außerdem schwärmte die Band in diesem Zusammenhang auch von der Motivation und dem Antrieb Dickinsons, der im Studio darauf bestand, keine Tricks anzuwenden - weder elektronische, noch analoge. So erzählte Gitarrist Adrian Smith, Dickinson habe es vehement abgelehnt, die Songs in eine andere Tonart zu transponieren, um seiner Stimme damit entgegenzukommen. Nur bei den letzten Strophen seiner erwähnten Mammutkomposition "Empire Of The Clouds" stößt Dickinson hörbar an seine Grenzen.



- DAS SUBJEKT -


Dass neue Platten großer und seit vielen Jahren existierender, erfolgreicher  Bands auf ewig mit ihren klassischen Frühwerken verglichen werden, ist Gesetz. Das ist selten sinnvoll, gerecht ist es hingegen fast nie. Die songschreiberische Lebensrealität von einem 20jährigen, dem die Welt frisch zu Füßen liegt, ist eine andere als jene eines knapp 60jährigen, der schon vor 25 Jahren sämtliche Instrumente und Ambitionen an den Nagel hätte hängen können, um sich auf einer einsamen Insel dem Geschlechtsverkehr mit einem Kürbisfeld zu widmen. Auch Maiden gingen durch die ein oder andere Transformation in den letzten 35 Jahren, und wenn sich die Betonköpfe auch bis zum Sankt Nimmerleinstag "Alles wie immer!" schreiend im Kreis drehen wollen, so liegen sie damit immer noch falsch. Manche Justierung des Maiden-Sounds war subtil, manch andere überdeutlich - aber es gab sie. 

Seit dem 2000er Reunionalbum "Brave New World" sind wir eher im Subtilen angekommen: die Band scheint ihren Sound nach den drei bis vier großen Zäsuren ihrer Karriere, die fast immer mit signifikanten Lineup-Wechseln einhergingen, endgültig gefunden zu haben: Die Besetzung bleibt seitdem stabil, hinter dem Mischpult scheint es ebenfalls keine Veränderungen mehr zu geben und die kaum zu bändigende kreative Kraft, die Alben wie "Powerslave" oder "Somewhere In Time" möglich machte, ist mittlerweile auch erloschen. Variationen an dieser Post-"Brave New World"-Ausrichtung sind mittlerweile die absolute Ausnahme. Stattdessen hat man es sich in einer netten und außerdem gut bezahlten Sitzecke bequem gemacht, die einen kompositorisch progressiven Ansatz aus teils überlangen Songs und ausladenden Instrumentalpassagen mit einem straightem Rock- und Metal-Gemisch verbindet, der vor allem im klanglichen Bereich und der grundlegenden Ausrichtung einer Produktion von Kevin Shirley auffällig im Seventies Rock verwurzelt ist. 

In dieser Hinsicht sind die nun fünf Post-Reunionalben durchaus miteinander zu vergleichen, qualitativ hingegen hat die Band mal bessere, mal schlechtere Momente: einem guten Album wie "Brave New World", auf dem allerdings nach 15 Jahren auch nicht mehr alles so richtig irre hell glänzt, folgte ein fast durchgängig Desinteressiertes und erschreckend Kleinkariertes wie "Dance Of Death". Auf "A Matter Of Life And Death", das den Sechser im kreativen Hoch und in voller Kraft zeigte, folgte mit "The Final Frontier" immerhin die erste Maidenveröffentlichung in 25 Jahren, die ich nicht mal in Erwägung zog, zu kaufen. Gäbe es nicht das bodenlose "Virtual XI", hätte diese furchtbare Platte zweifellos erstklassigen Anspruch auf die rote Laterne in ihrer Diskografie. 

Es ist selbst für einen wie mich, der Iron Maiden praktisch in- und auswendig kennt und angesichts dessen auch wirklich nicht mehr viel erwartet, eine dicke Überraschung, dass "The Book Of Souls" die erwähnte Berg- und Talfahrt konsequent fortsetzt - dieses Mal eben wieder in die richtige Richtung und das zumindest für die ersten 60 Minuten. Die erste Albumseite ist trotz der beinahe gewohnten Unzulänglichkeiten wie dem grotesken Intro/Outro-Quatsch mit teils erschütternd unbeholfenen Breaks, der vor allem im Schlagzeugbereich nicht wirklich sattelfest klingenden Produktion, das minutenlange und wenig gekonnte Auswalzen einer halben Handvoll Ideen, die nie dagewesene Zitatesammlung von "Rime Of The Ancient Mariner" über "Moonchild" und "Losfer Words" bis hin zu "The Clansman" und "Man On The Edge", den etwas peinlichen "Ohohohoooo"-Chören, den bereits 1988 veraltet kligenden, aber immer noch stur eingesetzten Keyboardsounds und den deutlich hörbaren Timingschwankungen Nicko McBrains, die besten knapp 50 Minuten Musik dieser Band seit - Achtung, festhalten: "Seventh Son Of A Seventh Son". Wohlwissend, dass ich mir dann diesen Tweet, rausgehauen immerhin fünf Tage vor Albumveröffentlichung, schön ans Knie nageln kann:


Andererseits bin ich der erste, der die eigenen Fehler mit Freude zugibt. Ich drehe diese sechs Songs seit knapp drei Wochen durch den Florian'schen Ohrenwolf, raufe mir über so manche Stelle auch wirklich immer noch die Haare (ganz besonders erschreckend: das hilflos zusammengestümperte Break in "The Great Unknown" vor dem ruhigen Outro bringt mich jedes Mal zur Ra-ser-ei!), kann mich andererseits aber auch nicht dagegen wehren, diese Songs immer und immer wieder hören zu wollen. Selbst die vorab veröffentlichte und nicht gerade Begeisterungsstürme verursachende Single "Speed Of Light" ist im Albumkontext eine frische, topmotiviert klingende und satte Hau-Den-Lukas-Hymne, ohne die Tradition harmloser Tralala-Singles wie "Wildest Dreams", "Rainmaker" oder "Different World" fortzuführen. Auch sonst: Unwiderstehliche Gitarrenduelle, ergreifende Melodien, eine hellwach klingende Band, bisweilen überraschend komplexe Strukturen in insgesamt großartig komponierten Songs. 

Die zweite Seite fällt dagegen etwas ab. "Death Or Glory" und "Shadows Of The Valley" sind noch gute Rocker, die Probleme beginnen bei "Tears Of A Clown", ein fürchterlich getexteter Vorstoß in seichte Gewässer der "Wasting Love"-Liga, dem nicht sorgfältig auskomponierten Beitrag von Dave Murray "The Man Of Sorrows" und Dickinsons "Empire Of The Clouds", das in Gänze das Problem mit den Iron Maiden des 21.Jahrhunderts demonstriert. In Sachen Ideengebung und Song- und Soundästhetik, also das, was eine Produktion in meinen Ohren wirklich ausmacht, das exakte Zuschneiden von Klang und Atmosphäre, das wirkliche Erkennen der Richtung eines Songs - da versagen Shirley und/oder die Band in den letzten Jahren. Die zweifellos zu erkennende Dramaturgie von "Empire Of The Souls" wird zu keinem Zeitpunkt der 18 Minuten eingefangen: die Keyboards und Streicher klingen dünn und unausgereift, als Piano verwendete man tatsächlich nur ein MIDI-Keyboard, das auch genau so klingt, wie ihr es euch jetzt vorstellt und die Gitarren wirken gerade dann, wenn man aufgrund des Storytellings hofft, dass es jetzt endlich mal ordentlich losbatscht, wie ein Schatten ihrer selbst. Das ist nicht kreativ, nicht detailliert, nicht konsequent, sondern eher auf halbem Wege stehen geblieben und - dare I say it: lieblos. Es ist kein Wunder, dass einige Fans eine Nähe zum Billo-Pompös-Quatsch der 90er Jahre-Alben von Savatage erkennen, denn auch deren Produzent Paul O'Neill, der es mittlerweile durch die Kitschbombe des Trans-Siberian Orchestras zum mehrfachen Millionär gebracht hat, hat schon mal was von Effektivität und Effizienz gehört: minimaler Aufwand bei maximalem Ertrag. Oder umgekehrt, wie es eben beliebt. 



- EPILOG -


Maiden fahren seit Jahren nur mit halber kreativer Kraft, was insbesondere deshalb schreiend schade ist, weil die Ideen noch in ihnen toben. Kein Faulpelz dieser Welt würde sich einen 18-Minuten-Klumpen ausdenken, kein Sesselpupser ein durchdachtes Arrangement wie im atemberaubenden Titelsong - und welche Band, die ihre Zeit wirklich lieber mit Golfspielen und Angeln verbringt, weil sie eben keine Musik mehr machen muss, um ein finanziell sorgenfreies Leben zu führen, schreibt im Jahr 2015 noch ein 92-minütiges Doppelabum? Ein über weite Strecken auch noch ziemlich fantastisches dazu? 

Die Umsetzung ist indes eine ganz andere Diskussion, und da hat Shirley wohl ebenfalls der Karriere und dem Alter der Truppe angemessen keine Autorität wie sie ein Martin Birch in den achtziger Jahren hatte. Ein Martin Birch, der ganz besonders Bruce Dickinson über Tage in der Gesangskabine einsperrte, bis dieser vor Wut regelrecht glühte und den letzten finalen Take mit solcher Verve und Präzision einsang, dass Birch letztlich doch zufrieden nickte. Ein Martin Birch, der an dem Sound von Alben wie "Powerslave" und "Somewhere In Time" akribisch herumtüftelte, der mit der Band zusammen die Vision und die zu erzählende Geschichte zusammenpuzzelte. Die Zeiten sind längst vorbei. Heute trifft man sich für acht Wochen in Paris, winkt McBrain'sche Stockfehler genauso durch wie das weitgehend uninspirierte Solospiel von Dave Murray, und häkelt DEN Longtrack der Band eben so flott zusammen, dass die nächste Studiowoche nicht mehr gebucht werden muss und man wieder zu Weinkeller, Golfplatz und Flugzeughangar zurückkehren kann. Nicht, dass ich es nicht verstehen könnte - und Hawaii soll ja auch total schöne Ecken haben. 

Bei aller echter und aufrichtiger Begeisterung über die ersten 60 Minuten von "The Book Of Souls" und bei aller Akzeptanz, dass man es nach 40 nimmermüden Jahren im Musikbusiness auch mal ein bisschen ruhiger angehen kann - mich ärgert das. 

Weil ich die Band, und sei es auch nur ganz ein bisschen und möglicherweise vielleicht, dann doch immer noch zu sehr liebe.


Erschienen auf Parlophone/Warner Music, 2015.


13.09.2015

Tout Nouveau Tout Beau (15)

+++ Noch mehr Schwanzrockalben eingetroffen +++ Situation außer Kontrolle +++ Angehörige eingeschaltet +++ "Ich möchte ein Kind von Dee Snider!" +++ Familienhund reicht Antrag auf Schutzhaft ein +++ Kalender auf September 1987 zurückgestellt +++ Freunde ratlos +++




TWISTED SISTER - LOVE IS FOR SUCKERS


Ich konnte nie etwas mit Twisted Sister anfangen. Die Einschätzung basierte auf einer Best Of-CD, die ich mir Mitte der neunziger Jahre für kleines Geld zulegte, um mich in ihrem Oevre mal salopp zu orientieren. Dort fehlten allerdings Songs dieses letzten offiziellen Twisted Sister Albums. In erster Linie, weil "Love Is For Suckers" ein veritabler Flop und die Band zum Zeitpunkt der Aufnahme heillos zerstritten war - weshalb das Album ursprünglich als Dee Snider Soloalbum geplant wurde und nur auf Druck der Plattenfirma unter dem Twisted Sister Namen erschien. Wie so oft: die wenig beachteten Alben sind die besten. Auf "Love Is For Suckers" lassen sich großartige, vor allem toll gesungene Hardrockhymnen finden, die mir viel besser gefallen als alles, was ich zuvor von der Band kannte. Wegen der Produktion von Beau Hill ist das Album zwar poliert bis zum Erdkern, aber selbst Dee Snider ist mittlerweile der Meinung, es beherberge "great, great stuff." - eine zutreffende Einschätzung. 

Überaus empfehlenswert sind außerdem die beiden Platten von Widowmaker, Sniders Post-Twisted Sister-Spielplatz: "Blood And Bullets" (1992) und "Stand By For Pain" (1994), stilistisch irgendwo zwischen pompös-klassischem Hardrock und Alternative-Herrlichkeit. Beide Scheiben sind physisch leider nur als CD erhältlich.

Erschienen auf Atlantic, 1987.






L.A. GUNS - HOLLYWOOD VAMPIRES


Fast auf den Tag zwei Monate vor Nirvanas "Nevermind" erschien mit "Hollywood Vampires" das dritte Album der L.A. Guns - eine Platte, die ich seit 24 Jahren kenne und die trotzdem noch in der Sammlung fehlte. Jetzt nicht mehr. "Hollywood Vampires" ist in erster Linie eine mit überraschender Tiefe, entspannter leicht & locker-Aura, vielen Gitarren-Layern, Keyboards und Bläsern grandios produzierte Platte, die hörbar wenig Wert auf Härte und Pose, sondern auf basisches, naturgeiles Songwriting legt. Praktisch jeder Song hat einen überlebensgroßen Refrain zusammengehäkelt bekommen, der Einstieg mit "Over The Edge" ist ungewöhnlich melancholisch und dadurch beeindruckend zugleich, und die Stimme von Sänger Phil Lewis ist sicher nicht beste der Welt, aber erholsam down-to-earth und überraschend klischeefrei. Einziger Makel: zehn Minuten weniger Musik hätten der Platte wirklich nicht geschadet. 

Den Rest übernahm dann der Grunge - aber wie schon bei Little Caesar gilt auch hier: die L.A. Guns existieren noch, sogar beinahe in Originalbesetzung und spielen regelmäßig Konzerte. 

Erschienen auf Polydor, 1991. 





BULLET BOYS - BULLET BOYS


Die Bullet Boys gehören zu der übergroßen Abteilung Bands, die nur für einen überschaubaren Zeitraum Ende der 80er Jahre kurzfristigen Erfolg hatten und danach kein Bein mehr auf den Boden bekamen. Ihr Debut "Bullet Boys" erschien im Herbst 1988 und wurde in Amerika für über 500.000 Einheiten bereits ein Jahr später vergoldet, doch schon mit dem 1991 und bereits im sich ankündigenden Donnergrollen des Grunge veröffentlichten Nachfolger "Freakshow" passierte fast gar nichts mehr. Auch die Bullet Boys spielen bis heute in natürlich veränderter Besetzung regelmäßg Tourneen und Konzerte in den USA. Einzig verbliebenes Gründungsmitglied ist Sänger Marq Torien, ein sehr umstrittener Charakter, und das nicht erst seit gestern: in der Dokumentation "Metal Evolution" sieht man die Band in einem Werbeteaser umheralbern, und ich glaube alleine anhand dieser 30 Sekunden sagen zu können, dass das alles nicht nur große Arschlöcher waren, es waren auch zugekokste große Arschlöcher. Wird der ganze Quatsch ausgeblendet, ist ihr Debut trotzdem eine lohnenswerte Investition, wenn eine Affinität zum typischen Ami-Schwanzrock der Jahre 1986 bis 1990 besteht. Wenig originell, die Songs am Reißbrett entworfen und überaus poppig produziert - aber eben auch sehr unterhaltsam mit großen Refrains und Melodien und ordentlichem Drive. Torien gibt dabei den "Geht's auch eine Nummer kleiner?"-David Lee Roth, und "Smooth Up In Ya!" einer der besten Songs der Hair und Glam Metal Bewegung. 

Erschienen auf Warner, 1988.



08.09.2015

Tout Nouveau Tout Beau (14)


+++ Schlimmer Rückfall in Schwanzrockzeiten +++ Er kauft selbst Bon Jovi Alben +++ Frau Dreikommaviernull schockiert +++ Er braucht 7 Dosen Haarspray +++ Pro Stunde 




MAGNUM - VIGILANTE


Es dürfte bekannt sein: ich bin großer, großer Fan von Magnum, ganz besonders von der Stimme Bob Catleys, dem Gitarrenspiel von Tony Clarkin und dem ergreifenden Pathos ihrer Kompositionen. "Vigilante" erschien zwischen den Überalben "On A Storyteller's Night" und "Wings Of Heaven" im Jahr 1986 und bietet wie gewohnt feines, britisches AOR-Songwriting aus dem Bilderbuch. Und wo ich Bilderbuchalben erwähnte: das oben verlinkte "Goodnight L.A." gehört auch dazu.

Dass sie mit diesem Coverartwork für "Vigilante" allerdings wirklich durchgekommen sind, ist ein Skandal.

Erschienen auf Polydor, 1987.






LITTLE CAESAR - LITTLE CAESAR


Könnte wetten, dass sich Geffen mit der Band aus Los Angeles ordentlich verkalkulierten. Statt der angedachten nächsten angesleazten Arenarock-Sensation holte man sich eine nach Schweiß und Motoröl stinkende Rock'n'Roll Band ins Boot, und als selbst Produzent Bob "Bügeleisen" Rock nicht alle Kanten herausdampfen konnte, zudem die Nummer-Sicher-Singleauskopplung "Chain Of Fools", ein Aretha Franklin Cover, nicht einschlug, ging Geffen auf Abstand, stellte die Promotion ein und ließ den Fünfer versauern. Der Rausschmiss erfolgte nach dem zweiten, 1992 erschienenen Album "Influence" - da war aber auch schon der Grunge mit der Kettensäge durch die gesamte LA-Szene marschiert. "Little Caesar" ist eine satte Rock'n'Roll Scheibe mit großartigem Sänger und beeindruckender Hookline-Dichte. Die Band hat sich mittlerweile reformiert und spielt sogar regelmäßige Europatourneen. Kann auch nicht jeder von sich behaupten.

Erschienen auf Geffen Records, 1990. 






V.A. - SLEAZE ROCK - SMASH IT!


Eine in erster Linie für den deutschen Markt gedachte und überraschend kohärente Zusammenstellung einiger wichtiger Protagonisten des Sleaze Rock aus dem Jahr 1990. Musikalisch plumpsen eigentlich nur Hanoi Rocks aus dem Raster, die mit einem bereits 1983 aufgenommenen Stück vertreten sind, das alleine klanglich nicht mit dem Rest mithalten kann. Und ob die Holländer Fatal Flowers und die kleine Rauchgemeinschaft der Black Crowes wirklich der Sleaze Rock Szene angehörten, darf auch bezweifelt werden. Nichtsdestotrotz, Highlights gibt es genug und sie kommen von den üblichen Verdächtigen: Faster Pussycat, The Quireboys, Enuff Z'Nuff, The Dogs D'Amour, Skid Row und die Black Crowes ("Jealous Again"), während als Überraschung die Amis von Johnny Crash durchs Ziel stampfen. Eine sehr kurzweilige und unterhaltsame Scheibe mit nur maximal zwei Ausfällen.

Erschienen bei BMG Ariola, 1990. 



05.09.2015

Ausgeräuchert




VETIVER - TO FIND ME GONE


Dark Hippie Folk für die Barfüßigen. Wenn du Nacht kommt, ist es Zeit für Vetiver. 

Vetiver ist ein ätherisches Öl, das aus den getrockneten Wurzeln des Khas-Khasgrases gewonnen wird. Seine Wirkung wird als entspannend, wärmend, aufbauend, erdend, stressabbauend, antidepressiv und stimmungsaufhellend wahrgenommen, sein Duft als geheimnisvoll, erdig und holzig beschrieben. Angewendet wird dieses Öl bei seelischen und nervlichen Verspannungen, Erschöpfungszuständen und Ängsten. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass all das auch auf "To Find Me Gone", dem zweiten Album des Kollektivs Vetiver zutrifft. Im Kern gibt Andy Cabic den Ton an. Der Mann, der hauptberuflich im Devendra Banhart-Kosmos umherschwebte und mit dem Folkbarden die Welt bereiste, hat sämtliche Songs von "To Find Me Gone" geschrieben, sie aber von einem ganzen Haufen "good folks and friends"einspielen lassen. Jeder durfte mal ran, so dass sich nicht weniger als 21 Musiker auf der Liste aller Beteiligten tummeln. Folk Music Gang Bang.

Wieder mal Folk, also. Aber sehr angenehmer, dunkler, nocturner Folk mit deutlichen Singer/Songwriter Wurzeln. "To Find Me Gone" ist vielleicht sogar die Scheibe, die der Black Rebel Motorcycle Club nach seinem Zweitwerk hätte aufnehmen sollen, wenn sie schon in Richtung Akustikgitarren gehen wollten. Akustische Gitarren flirren auch auf Vetivers Album umher, umschwirren den Song wie die Motten das Licht. Es ist schon auffällig, wie sehr sich die Musiker bemühen, den Song nicht aus dem Fokus zu verlieren. Die große Gemeinschaft dieses Werks wird es schon richten. So schleicht Cabics Musik zwar leise, aber selbstbewusst durch die Lautsprecher und erzählt Geschichten über Nähe und Distanz und über die Zeit, die zwischen diesen beiden Worten den Sekundenzeiger unerbittlich nach vorne schubst. Cabic selbst nennt es ein "Album der Erinnerung um das Fernbleiben zu besiegen". 

"To Find Me Gone" wird nur ein einziges Mal laut. Im Outro von "Red Lantern Girls" kreischt und feedbackt eine elektrische Gitarre minutenlang außer Kontrolle umher und reißt die Platte ordentlich aus dem Zusammenhang. Ansonsten kann man es sich zwischen nokturnen Großtaten wie "You May Be Blue" oder dem fantastischen "Maureen" richtig gemütlich machen, das Licht löschen und die zerbrechliche Stärke dieses Albums bewundern. Es wandert barfuß auf Glasscherben umher, ohne sich zu verletzen. Störrisch, eigen und schön.






Erschienen auf FatCat Records, 2006.