Der geneigte Leser weiß, dass ich über keinen anderen Künstler und keine andere Band so häufig geschrieben habe wie über den mittlerweile in Polen lebenden Brock van Wey. Das liegt nicht zwangsläufig nur an der Quantität seines Werks - "Heartless" ist das sage und schreibe 29.Album innerhalb von zehn Jahren - sondern an dem überwältigenden Einfluss seiner Musik auf mein Leben. Neulich, als die Vinylfreaks des Bildchen-Portals Instagram die neun Alben ins rechte Licht setzten, die ihr aller Leben veränderten, und Herr Dreikommaviernull also natürlich mitmachen musste, weil: why not?, da war es selbst für einen, der sich für solche Entscheidungen unter normalen Umständen erst mal ein halbes Jahr mit seiner Excel-Datenbank in einen unterirdisch gelegenen Höllenbunker ohne ausreichende Sauerstoffversorgung quetschen muss, überraschend schnell und streifenfrei klar, dass meine erste Berührung mit seinem Werk, dem 2010 erschienenen "The Art Of Dying Alone" als vorerst letzte musikalische Revolution in die Riege der schlechterdings sogenannten "Gamechanger" aufgenommen werden muss - obwohl dieser zu monumentalen Klanggebirgen aufgeschichtete Ambientsound zur damaligen Zeit zunächst undurchdringbar erschien. Zu sehr versuchte die Ratio zu verstehen, was hier passiert; zu schwer fiel es, sich von diesem Klumpen final wegkegeln zu lassen. Kontrollverlust. Beziehungsweise: die Angst davor. Erst im Laufe der der letzten sieben Jahre ging mir mehr und mehr das Licht auf - ich habe es mehr als nur einmal geschrieben und auch wenn's kitschig und abgehoben und naiv klingt: es ist Liebe. Es ist die reinste, aufrichtigste, ehrlichste, reichste Liebe. Der Kopf hat hier nichts verloren - es ist nur das Herz, das springt, trauert, leidet - und eben liebt. Brock van Wey, der von sich selbst sagt, dass er eigentlich nächtelang ausschließlich Videospiele spielt, wenn er mal gerade keine Musik macht, vertont Liebe. "Heartless", die erste Albumveröffentlichung Brocks auf Vinyl unter seinem bvdub Alias, steht in einer Reihe mit seinen großen Klassikern "Home", "The Art Of Dying Alone" und "Safety In A Number". Ein einziger Rausch.
Im Dezember 2016 schrieb ich über das zwei Jahre zuvor erschienene Album der US-amerikanischen Multinstrumentalistin Tara Jane O'Neil, "Where Shine New Lights" sei "möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz." Auf ihrem aktuellen, selbstbetitelten Album hat O'Neil die offensichtlichsten Experimente im Gitarrenkoffer gelassen und dem Singer/Songwriter in ihr die Oberhand gewinnen lassen. Das Ergebnis ist von beinahe so blendender Schönheit wie die Sonnenreflektion auf dem wunderbaren Coverartwork; eine betörend warmherzige Musik, der es trotz der im Vergleich zu früheren Arbeiten deutlich abgerundeten Ecken und Kanten erstaunlicherweise nicht an Tiefgang fehlt. Das liegt zum einen an den subtil im Sound versteckten Details, die Dank der durchaus großformatig inszenierten Produktion durchgängig wahrnehmbar sind, ein tiefes, sonores Brummen als Mutterboden für ihre sowohl perlenden als auch dürren Haarliniengitarren, das Zischeln der Becken, ihre zu Liedtexten transformierten Gedichte und die im Vordergrund stehende, glasklare Stimme. Das Schnarren der Gitarrensaiten - man meint manchmal gar, die Innenseite der akustischen Gitarre spüren, sehen, hören zu können. Zum anderen ist O'Neils Ansatz, und darauf legt die Künstlerin wert, nicht besonders konventionell zu nennen. Ihr Ziel ist es nicht, everybody's darling zu sein, ihre Akkordfolgen und Arrangements sind ungewöhnlich und bisweilen spröde - und trotzdem spielt diese Musik nicht in der Liga von Lo-Fi-Schlafzimmerproduktionen. Es ist ein Album des Reichtums der kalifornischen Sonne und des dazu passenden Lebensgefühls, heruntergekocht auf die erste Tasse Kaffee des Tages an einem friedlichen Frühlingsmorgen.
Ich hatte es an anderer Stelle bereits erwähnt: meine Beziehung zu Slowdives Comebackalbum sollte sehr persönlich und besonders werden. Denn als im Mai des vergangenen Jahres Chris Cornell starb, und sowohl ich als auch die Herzallerliebste über Wochen und gar Monate hinweg praktisch am Boden zerstört waren, lieferte "Slowdive" den Soundtrack zum Trauern - und zwar so ausgeprägt und nachhaltig, dass es für gleich ein paar Wochen nicht in Frage kam, diese Platte vom Plattenteller zu lösen. Sie schien wie festgeschweißt. Ich hätte keine andere Musik ertragen können. Mir ist darüber hinaus sowieso nichts bekannt, was diese spezielle Mischung ihres einzigartigen Sounds - eine sowohl melodisch als auch atmosphärisch kitschfreie Sicht auf Leben und Liebe mit zahlreich eingeflochtenen Extra-, Meta-, Superduper-, Obendrunter-Ebenen der prachtvollsten und reichsten Melancholie, die die Welt seit Marsilio Ficino jemals vertont gehört hat - selbst in einer weniger anspruchsvollen Vollendung kopieren könnte. Das ist alles lebensechte schwarze Galle mit darin schwimmenden Regenbogenschleifchenbooten. Vor allem erscheint es aber so plastisch und einfach zu verstehen: Das Licht und der Schatten. Die Umarmung und das Abwenden. Die Struktur und das Chaos. Das Leben und der Tod. Und da ist sie wieder, die niemals alt werdende Idee: die Suche zum Mittelpunkt des Lebens, des Guten, des Schönen. Im vorliegenden Fall gemeinsam mit dem Eindruck, den Weg zum Ziel wieder ein Stückchen abkürzen zu können. "Slowdive" hat mich tatsächlich getröstet. Nicht mit Thoughts and Prayers, nicht mit einem Lolli, nicht mit Schnaps.
Der Titel "Spätzünder des Jahres" geht an "Short Stories" des japanischen Künstlers Shuta Yasukochi - und da soll mir nochmal jemand sagen, das ganze Ambient-"Gschwerrl" (Polt) sei beliebig untereinander austauschbar. Für gut zwei Monate war mir außer einem gut gemeinten Achselzucken nicht viel zu entlocken, bis sich ganz allmählich der Wind drehte und die Zeit plötzlich stillzustehen schien. Verantwortlich dafür sind in erster Linie zwei Tracks, die sanft-schimmernde Klangflächen mit der bildhaften Idylle eines neu anbrechenden Tages voller Hoffnung meisterhaft miteinander verbinden und mit ihrem Fluss im Albumkontext das Kernstück von "Short Stories" bilden: "Izukohe" und vor allem "Daylight" knipsen das Licht auch in der der trübsten Birne an. Und plötzlich glimmte auch mein Glühwürmchen (Euphemismus!): seit Juli 2017 befindet sich diese Platte in meinem CD-Wechsler und versüßte mir und der Herzallerliebsten somit den ein oder anderen Morgen zur ersten Tasse Kaffee des Tages. Sie ist bis heute der Rückzugsort der Stille und des Friedens, interessanterweise wahrnehmbar selbst in einer Lautstärke, die nur wenig mehr als Hintergrundrauschen ist. Lautlose Präsenz. Subtile Einkehr. Ein beeindruckendes und kerzengerade in das sowohl qualitative als auch stilistische Raster von Archives passendes Debut.
Eine jener Platten, für die man traurig darüber ist, nicht mehr in seinen Zwanzigern zu sein. Als ich im herbstigen Teil des Jahres 2004 zum ersten Mal "You Forgot It In People" hörte, hatte es signifikanten Einfluss auf mein Lebensgefühl, dort in der urbanen Stadtmitte Wiesbadens und in den Wochenendparties im Club. Als alles Wattemusik, Streifenlabbershirt und ja auch nach all den enttäuschenden Jahren in Blut, Tod und Teufel irgendwie Aufbruch war, mit England und Kanada sowieso. Da gingen Broken Social Scene offensichtlich tiefer, als ich es damals hätte glauben können. Aus der Entfernung von 14 Jahren erscheint das beinahe unwirklich, weil seitdem so viel passiert ist. Manchmal erkenne ich schließlich mein vor drei Monaten gelebtes Leben kaum mehr wieder - und was da gerade nach Koketterie klingt, ist leider viel näher an der Wahrheit, als es mir selbst lieb ist, es zuzugeben.
Aber ist denn wirklich immer alles nur Romantik? Immer alles nur öde Nostalgie? Die man bei genauerem Hinsehen dann meistens doch als ziemlich traurige Realität eines weniger guten, dafür aber früheren Daseins enttarnen muss? "Hug Of Thunder" ist ein waschechtes Comebackalbum nach sechs Jahren Pause und holt mir satte 14 Jahre Lebenserinnerung in die Gegenwart zurück. Es kribbelt. Fuck it, das ist nicht alles Romantik - das war doch echt! Was auch sonst, wie kann ein Leben nicht echt sein? Keine Traurigkeit, weil man keine 20 mehr ist. Viel mehr Freude darüber, selbst mit den mittlerweile 40 Jahren auf dem rostigen Buckel und darüber hinaus zwischen gefräßiger Lohnarbeit, Leasingfahrzeug und Low-Carb-Diät und im Strudel des Irrsinns liebevoll um sich schlagend, von Musik immer noch derart berührt zu werden. Das sind diese strahlenden Momente, in denen mir klar wird: Zyniker haben so ganz allmählich keine Freude mehr mit mir.
Platz 9 - RICHARD EDWARDS - LEMON COTTON CANDY SUNSET
Und dann fühlte ich mich schlecht. Weil da einer über sein am seidenen Faden hängendes Leben singt, darüber wie alles zusammen zu brechen schien: die Ehefrau weg, das gemeinsame Haus weg, das gemeinsame Kind weg. Über eine rätselhafte Krankheit, die ihm in praktisch nullkommanix 25 Kilo Körpergewicht raubte. Darüber, dass er Schmerzmittel futtert wie andere Leute Pommes. Und trotzdem auf Tour geht, wegen der Schmerzen 23 Stunden in Embryonalstellung verbringt und sich für die eine Stunde auf der Bühne mit allem, was er hat, zusammenreißt. Und der germanische Sesselpupser, der auf "Lemon Cotton Candy Sunset" zunächst und in erster Linie wegen des ikonischen Covers und wegen der beiden unterschiedlich eingefärbten Schallplatten auf dieses Doppelalbum aufmerksam wird, hört eine romantische, melancholische, eingängige und mit bittersüßen Melodien verzierte Musik, die einen kalifornischen oder eben Sossenheimer Sonnenuntergang begleiten kann - wenn nicht muss. Dabei ist das hier die vertonte Agonie. Hoffnungslosigkeit. Das Ende ist nah. Die Krankheit wird nach Monaten als die gefährliche Darmerkrankung Clostridium difficile diagnostiziert, zu einem Zeitpunkt, an dem Edwards' schon beinahe dem Tod geweiht ist. Und er entscheidet sich dazu, darüber zu singen. Eine berührende, persönliche Musik, die die Wiederauferstehung ihres Schöpfers, als auch, in der Essenz, das Leben feiert.
Richard talking about the creation of this song:
"I wrote this song when I was really, really sick in the gut," says Edwards. "I had come to believe that being sick made me a bad person. I could feel relationships in my life suffering, but it was hard to do much about it when I was suffering to the extent that I was physically. I used to sit in my office and listen to 'Texas Girl at the Funeral of Her Father' over and over at night and feel really hopeless. It was a hard time. But my little daughter kept treating me the same, not looking at me like I was sick, and she got me through it, I s'pose. She wanted to sing on the record and this song felt like the place. She howls all through the bridge. So that's, quite obviously, my favorite part."
Monsieur Etten nannte den in seinem Heimatland Norwegen hart am Superstar-Status kratzenden Thomas Dybdahl mal im Rahmen seiner ersten beiden Alben "That Great October Sound" und "Stray Cats" den "Styler unter den Singer/Songwritern" und traf damit den Nagel auf den Kopf. Mittlerweile hat sich ländliche Idylle und eine Art von Kammermusik stärker als zuletzt in seine Songs eingewebt, allerdings nicht ohne eine bisweilen durchaus bemerkenswerte Portion Psychedelica-Pop einzubauen. Die von seiner Musik geschaffenen Bilder erscheinen dadurch oft verschwommen, träumerisch und apart. "The Great Plains" überrascht darüber hinaus mit einigen sehr offenen und luftigen Pop-Arrangements mit erstaunlichem Tiefgang, die nicht selten, wie im Falle von "No Turning Back", mit einem herzhaften Biss ins Fliegenpilzbaguette gebrochen werden. Zu gleichen Teilen einfühlsam und kraftvoll bewegen sich Dybdahl nebst seiner Begleitmusiker durch eine purpur schimmernde und intime Platte, die man am besten zu Kerzenschein in den Nachtstunden genießt.
Erschienen auf V2, 2017.
Platz 11 - PROPAGANDHI - VICTORY LAP
Über den Stellenwert dieser legendären Band für meine Welt zu sprechen, hieße Nazis in die AFD zu tragen, und weil man es ja trotzdem nie oft genug betonen kann, hier nochmal in Kurzform: sie veränderten mein Leben. Erstmals mit der neuen Gitarristin Sulynn Hago an Bord, war ich sehr gespannt auf "Victory Lap" und wurde nicht enttäuscht. Beginnt das Album mit dem Titeltrack noch überraschend eingängig, gerät die Denkvorrichtung schon mit dem folgenden "Comply/Resist" (einem ihrer besten Songs aller Zeiten) ein bisschen außer Balance und baumelt spätestens im dritten Albumviertel mit seinem sperrigen Thrashpunkmetal am seidenen Faden. Wer hier vorgibt, schon nach den ersten drei Durchgängen alles gerafft zu haben, nimmt es mit der Wahrheit wohl auch sonst nicht so supergenau. Qualitativ bewegt man sich auf "Victory Lap" in etwa auf "Failed States"-Niveau, hat mit "Letter To A Young Anus" und "Failed Imagineer" Hits bekannter Güte (und Machart) im Köcher und lässt wie üblich mit dem Rausschmeißer "Adventures In Zoochosis" alle Sicherungen durchkokeln, dieses Mal ganz besonders wegen eines persönlichen und emotionalen Textes, der mir die Augen jedes Mal aufs Neue unter Wasser setzt. "Potemkin City Limits" und vor allem "Supporting Caste" bleiben derweil unerreicht, weil mir an der ein oder anderen Stelle die alles zerberstende Durchschlagskraft etwas fehlt (was vermutlich den in Teilen heruntergestimmten Gitarren geschuldet ist), dass "Victory Lap" im herausragenden Post-2000 Oevre dieser einzigartigen Band seinen Platz finden wird, steht freilich nicht zur Debatte.
Erschienen auf Epitaph Records, 2017.
Platz 10 - CIGARETTES AFTER SEX - CIGARETTES AFTER SEX
Größtes Aha-Erlebnis des Jahres mit extraweiter Augenbrauenlüftung, nachdem sich die Nadel des Plattenspielers zum ersten Mal absenkte und ich die ersten 30 Sekunden des Openers "K" hörte. Schwer zu glauben, dass hier tatsächlich ein Geschlechtsgenosse singt, ein bärtiger zumal - daher habe ich mir auch für volle zwei Wochen eine Chanteuse am Mikrofon imaginiert, die ihre Selbstbeschreibung auf Twitter lediglich auf den alten Hot Shots-Spruch "In meinen Händen wird nichts zu Wachs" beschränkt hat. Mit anderen und weniger bedachten Worten: Angesichts des wie ein heißes Messer durch gefrorene Butter gleitenden Gesangs bin ich auf dem besten Weg, meine Heterosexualität nochmal neu zu bewerten. Auf dem Debutalbum der New Yorker stehen zehn Slomo-Slowdance-Blues-Smoothie-Hymnen, die Cigarettes After Sex im Handumdrehen zur Band der Stunde machten und die melancholisch zu nennen eine glatte Untertreibung ist. Sentimental, romantisch, erotisch, kurz: "ein tiefes Rot" (Dirk von Lowtzow). Wer diese Platte hört, befindet sich für knappe 50 Minuten im Paradies und blinzelt verträumt in einen meinetwegen auch herbei halluzinierten Sonnenuntergang im Hochsommer ohne Klimaanlage auf einer durchgelegenen und versifften Matratze in einem heruntergerockten 11qm Rattenloch mitten in New York, im Arm die Liebe des Lebens, in der Hand die Post-Vögel-Kippe. Wir starren an: die Decke.
Knappe 40 Minuten pure Schönheit, Eleganz und Lushness: "Lonely Planet" ist ein mystisch-vernebelter Soundtrack für die Entdeckungsreise auf einer unbewohnten und halb versunkenen Insel im Indischen Ozean. Ich kam im vergangenen Jahr zu keiner anderen Platte so oft zurück wie zu dieser und hörte sie regelmäßig über volle zehn Monate immer und immer wieder. Musikalisch ist das mit so unterschiedlichen Fluchtpunkten aus Synthiepop der 1980er Jahre, bekifften Mittelmeersounds und Einflüssen aus frühen Arbeiten von Grace Jones (mit Sly & Robbie) und sogar den verdammten Dire Straits ein starkes Stück (höre: "Voices"), das sich außer auf der aus 10.000 Fuß wahrnehmbaren Hanfplantage nebst aller erwünschten Nebenwirkungen auf nichts so wirklich festnageln lässt. Alles was zählt ist der filmische Fluss dieser Kompositionen nebst ihren Bildern und ihren Farben. Könnte bald zu einem kleinen Klassiker im Elektro-Underground werden. Ist es am End' ja eh schon.
Erschienen auf Running Back, 2017.
Platz 14 - DEATH MACHINE - COCOON
Der Bandname ist völlig debil und hätte mich Freund Jens nicht auf "Cocoon" aufmerksam gemacht, wäre ich alleine deshalb nicht mal im Traum darauf gekommen, meine schrumpeligen Finger nach dieser Platte auszustrecken. Und sie mussten sich schon ziemlich arg strecken, um in den Besitz der Vinylversion zu kommen; das Heimatland der Death Machine, Dänemark, sollte es schließlich richten. Death Machine haben mir in den zurückliegenden Herbst - und Wintermonaten gerade noch gefehlt, und das meine ich ausnahmsweise völlig unironisch. Ihre im weitesten Sinne dem zurückgezogenen Indiepop zugeneigten Songs sind bittersüß-verstrubbelte Himmelsstürmer zwischen resignierender Verzweiflung und kurzen Blitzen aus Kraft und Stärke, verbinden sich mit anämischem Folk und einem Road Movie Soundtrack vom Wochenendausflug auf der Venus. Ein auf vielen Ebenen außergewöhnliches Werk.
Erschienen auf Gateway Music, 2017.
Platz 13 - THE WAR ON DRUGS - A DEEPER UNDERSTANDING
Ich komme etwa drei Jahre zur spät zur Party, aber das liegt an meiner in Teilen bestens ausgeprägten Soziopathie, denn wo viele Menschen dasselbe Lied singen, springen bei mir für gewöhnlich alle Alarmglocken an. Bei The War On Drugs sangen (und singen) verdammt viele Menschen dasselbe Lied und es brauchte einige Überzeugungsarbeit aus dem Schwäbischen, um mir die Vorurteile zu nehmen. Belohnt wurde die "Arbeit an mir selbst" (Jürgen Fliege) mit einem Album, das mir bis heute einige Rätsel aufgibt: warum sitzt da schon wieder Angelo Sasso am Schlagzeug? Und warum spielt Angelo Sasso keine Becken? Warum hackt Angelo Sasso denn wirklich jeden Uptempo-Song ohne jedes Feeling durch wie ein frisch aus dem Hungerstreik gepellter Mähdrescher? Warum wühlt diese aus einem Haufen Schulterpolster der US-amerikanischen 1980er Jahre zusammengenähte Rockmusik mit dem Bruce Springsteen-Gedächtnisstirnband im schlimm müffelnden Zahnzwischenraum von Bob Dylan herum? Ein Wahnsinn, dass der "jungen Generation" (Peter Altmeier) hier nicht der 3-Liter Kanister Mountain Dew durch die Nase hochkommt. Und warum hat "A Deeper Understanding" trotzdem eine derart überwältigende Anziehungskraft auf mich? Ich weiß es bis heute nicht. Nur eines: hier versammeln sich einige der zweifellos besten und gefühlvollsten Momente des Jahres 2017.
Eine interessante Entwicklung hat die britische Sängerin Zara McFarlane mit ihrem neuen Album "Arise" vollzogen, war doch der Vorgänger ein introvertiertes Werk aus nokturnem Jazz, zaghaftem Pop und modernem Soul. Auf "Arise" liegt der Jazz mindestens in der Nachmittagssonne, der Pop bekam mehr Groove und der moderne Soul bekam mehr Reggae in die Dreads gezwirbelt - das Schillern und die Lebhaftigkeit dieser Aufnahmen sind im Vergleich mit dem flackernden Kerzenschein von "If You Knew Her" eine willkommene Abwechslung und wirken wie eine Frischzellenkur für die Sängerin. Großartig produziert (höre: der Bass in "In Between Worlds"), mit mehr Verve als zuletzt, ist "Arise" in der Ausstrahlung zwar immer noch intim, aber heller, luftiger und in der Folge sogar markanter als das ohnehin schon fantastische "If You Knew Her". Zwei unterschiedliche, aber künftige Klassiker.
Erschienen auf Brownswood, 2017.
Platz 17 - ODDISEE - THE ICEBERG
Auf Oddisee ist Verlass, der Mann veröffentlicht ausschließlich Qualitätsware. "The Iceberg" ist im Vergleich zum Vorgänger "The Good Fight" nochmal kompakter und eingängiger: mit der Single "Things" wagt er sich sogar erstmals zaghaft in Dancefloorbereiche vor, während ihm mit "Want To Be" gar ein sonniger Monster-Popper mit deutlicher Soul und Funk-Schlagseite gelungen ist. In meinen Ohren gibt es in der internationalen Hip Hop Szene niemanden, der ihm das Wasser reichen kann - dabei agiert er immer noch meilenweit unter dem großen Mainstreamradar und zieht stoisch sein eigenes Ding durch. Immer größeren Stellenwert bekommt seine Liveband Good Compny, mit der er nicht nur jährlich über 100 Konzerte spielt und nun sogar ein - ernsthaft!: fantastisches Livealbum mit kompletter Band veröffentlichte, sondern deren Talent und vielfältige Instrumentierung ihm ganz offensichtlich den eigenen Produktions- und Songwritinghorizont erweitert.
Erschienen auf Mello Music Group, 2017.
Platz 16 - THE LIFE AND TIMES - THE LIFE AND TIMES
Normalerweise ist ein neues Album meiner liebsten noch aktiven Rockband ein Garant für die Top 3, dieses Mal reicht es immerhin noch für die 20 besten Alben des Jahres. der Grund (für beides): Das Trio hat etwas die Poliermaschine bemüht und die Arrangements gestrafft. Das Ergebnis sind kürzere, aufgeräumtere Songs mit weniger Wall-Of-Sound-Dramatik, dafür ein in der Ausstrahlung etwas breitbeiniger rockender Gesamteindruck. The Life And Times sind immer noch großartig, immer noch völlig einzigartig, immer noch Meilen von der gleichgemachten Soße zeitgenössischer Rockmusik entfernt - die komplette A-Seite der (im Vergleich mit der digitalen Fassung verspätet erschienenen) LP-Version ist ein einziges Erlebnis. Der Moment, der mir auf einer ansonsten fehlerlosen Platte Kopfzerbrechen bereitet, ist die offensichtliche Hommage an die ärgerlichste Rockband der letzten 20 Jahre Queens Of The Stone Age in "Out Through The Door", bei dessen Melodieführung mir glatt der vegane Rollbraten wieder hochkommt. Was soll sowas?
Wenn der Hypothalamus nicht gerade mit Konfetti schmeißt, wenn man ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung über "Voids" nachdenkt, liegt der Verdacht nahe, mit dem sechsten Studioalbum der Band aus Seattle stimme eventuell etwas Ärgeres nicht. Andererseits verrät mir die Statistikabteilung bei Last.fm (das MySpace des Web 2.0), dass ich im abgelaufenen Jahr, zumindest digital, kein anderes Album so oft gehört habe wie eben "Voids". Eine eilig einberufene Krisensitzung mit der Herzallerliebsten liefert dann auch gleich Entwarnung: alles bestens - Minus The Bear haben immer noch genügend kreative Einfälle für samtweiche Hooks, knackige Beats und große Songs. Dass sie immer deutlicher in Richtung Popmusik wandern, ist spätestens seit "Omni" kein Geheimnis mehr, aber mir soll's recht sein, wenn dabei solche lockeren Buttermilchsemmeln wie "Invisible" oder dramatische Schlawittchenpacker wie "Silver" herauskommen. Mein Bauchgefühl sagt mir aber trotzdem, dass es künftig nicht mehr allzu viele Minus The Bear Alben mehr geben wird.
Erschienen auf Suicide Squeeze Records, 2017.
Platz 20 - WARMTH - HOME
Drei Monate nach Veröffentlichung des neuen Albums von Warmth hat Archives Labelchef Agus, der auch der Kopf hinter Warmth ist, via eines Facebook-Postings eine eher ernüchternde Bilanz gezogen: zwar seien die Verkäufe stabil und sicherlich besser als bei vielen anderen kleinen Labels, von den 200 Vinylexemplaren von "Home" konnte er indes in drei Monaten nur einen kleinen Bruchteil verkaufen - in erster Linie deshalb, weil sich kein Vertrieb für seine physischen Produkte finden lässt. Und dass, obwohl Archives sich über die letzten beiden Jahre einen exzellenten Ruf erarbeitet hat und Ambient als Genre heute relevanter erscheint als noch vor fünf oder zehn Jahren. "Home" ist im Grunde eine Fortführung von "Essay" aus dem Jahr 2016: sehr organische Sounds mit einem völlig einzigartigen Wechselspiel zwischen sonorer, einlullender Wärme und einem Gefühl der Distanziertheit, der Klarheit und - ich traue mich beinahe nicht, es auszusprechen: Kälte. Die Vinylversion ist in der Ausstattung zwar low-budget und kein Vergleich mit den Kunstwerken von beispielsweise A Strangely Isolated Place, dafür aber immerhin relativ fehlerfrei gepresst.
Erschienen auf Archives Music, 2017.
Platz 19 - PORTICO QUARTET - ART IN THE AGE OF AUTOMATION
Es gibt Menschen, die angesichts des Wohlfühlsounds von "Art In The Age Of Automation" den offenbar experimentelleren, früheren Zeiten dieser englischen Band hinterhertrauern. Ich nicht. Tatsächlich sind sie nach Peter Gabriels Real Word Label und der darauffolgenden Stippvisite bei Ninja Tune mit ihrem jazzigen Postrock-Freestyle auf Matthew Halsalls Gondwana Records mittlerweile sehr gut aufgehoben: die behutsamen Weiterentwicklungen ihrer Songs eröffnen Schicht für Schicht neue Perspektiven und erinnern bisweilen an frührere Cinematic Orchestra; die fließenden Grooves verdichten selbst die für melancholische Weite sorgenden Melodien zu einem Dickicht aus funkelnden Sternenstaub. Experimentell ist all das in seiner Suche nach freien Tanzbewegungen inmitten eines Ambientrauschkonzentrats und den verwendeten Zutaten freilich immer noch, aber der Holzhammer bleibt in der Freaky-Werkstatt. Subtlety is king.
Ganze elf Veröffentlichungen stehen für das Jahr 2017 alleine auf Ludvig Cimbrelius' (aka Purl) eigenem Label Eternell im Büchlein; ihm und seinen Arbeiten zu folgen ist ähnlich wie bei Brock van Wey aka Bvdub eine Herausforderung, bisweilen eine kostspielige noch dazu. Hinzu kommen schließlich noch Releases für Labels wie Archives und A Strangely Isolated Place. Die Musik für das Illuvia-Projekt war für den fortlaufend produzierenden Schweden der Weg aus einer Depression, wie Licht, das durch die Ritzen von dunklen Mauern bricht - eine zu gleichen Teilen kraftvolle wie sensible Mischung aus delikaten Ambientsounds, perlendem Piano und vereinzelten Drum'n'Bass Beats, mit einer Extraportion Wärme spendenden Lichts der Mitternachtssonne und dem sich niemals verdunkelnden Himmel des schwedischen Sommers. Hoffentlich geht Ludvigs Wunsch, "Illuvia" auf Vinyl zu veröffentlichen, noch in Erfüllung. Die digitale Version gibt es hier auf Bandcamp.
Erschienen auf Eternell, 2017.
Platz 23 - MR JUKES - GOD FIRST
Von Pitchfork erwartbar böse runtergesaut, von Fans geliebt: das Debut des Bombay Bicycle Club Frontmanns unter dem neuen Alias Mr Jukes ist ein nimmermüder Husarenritt durch Hip Hop, Soul, RnB, Jazz und die angeschlossenen Funkhäuser, der natürlich mit seinen vielen Kollaborationen (u.a. De La Soul, Charles Bradley, Lalah Hathaway) auf dickes Namedropping schielt, aber für den Hörer hat's ja indes nur Vorteile: die zehn Songs sind kurzweilige und stets abwechslungsreiche kleine Diamanten, die vor allem auf der B-Seite an der Grenze zur Sperrigkeit balancieren und somit für eine wirklich angenehme Langzeitwirkung sorgen. Besonders herausragend ist der emotionale Funkensprüher "When Your Light Goes Out" mit Lianne La Havas am Mikrofon. Man wünscht sich Knicklichter for Life.
Erschienen auf Island Records, 2017.
Platz 22 - MELANIE DE BIASIO - LILIES
Ich hatte an "Lilies" ein bisschen zu knabbern, denn die belgische Sängerin überrascht mit leicht verändertem Sound und einer Art von Helligkeit, die ihren vorangegangenen Platten komplett abging. De Biasios Statement, dass "Lilies" zwar eine Dunkelheit innewohnt, es für sie aber auch, Zitat: "luminous" sei, ist nachvollziehbar. Im Vergleich mit "No Deal" ist die tiefste Nacht mittlerweile vorüber. Vielleicht liegt es an der auf "Lilies" geringer gewordenen Distanz zwischen De Biasio und ihrer Außenwelt, weil die Frau, die bislang mit ihrer sowohl erotischen als auch introvertierten Musik als unnahbarer Sehnsuchtsort diente, sich nun verletzlicher und natürlicher gibt. In diesem Zusammenhang sind Songs wie das aus der 2016er EP "Blackened Cities" entlehnte und mit neuer, atemloser Inszenierung ausgestattete "Gold Junkies" sowie minimalistische Skizzen wie "Let Me Love You", oder "Brothers" - vom Fingerschnippi-Solocrooner "Sitting In The Stairwell" ganz zu schweigen - zunächst irritierend. Die Reduktion der Arrangements scheint zunächst von der glühenden Intensität und der Dramatik ihrer Musik etwas einbehalten zu haben. Das Bild ändert sich jedoch, wenn der Zoom die nur angenehm kurzen 40 Minuten von "Lilies" im Panorama präsentiert: zwischen der bekannten Jazzästhetik, die hier noch dürrer ausfällt, zarter Elektronik und Trip Hoppigem Bassgepumpe ist "Lilies" noch genau so intim wie "No Deal", de Biasio scheint sich lediglich etwas entmystifiziert zu haben.
Das dritte Album des Produzenten Sven Weisemann unter dem Desolate-Moniker könnte das "Dark Side Of The Moon" der Millenials werden, wenn die sich noch ein bisschen um Musik und weniger um "urbane Styles" (Mutter Beimer) und also Kopfbedeckungen kümmern würden: "Lunar Glyphs" ist experimentell, aber nicht abgehoben. Progressiv, aber nicht verkopft. Atmosphärisch, aber nicht cheesy. An den richtigen Stellen eingängig und mitreißend, ohne banal zu werden. Außerdem: Deep wie Fick. Elektronische Musik hatte es abseits der meiner bekannten Obsession für (dubby) Ambientsounds 2017 schwer im Hause Dreikommaviernull, weil mir oft genau jener Ansatz fehlte, den Sven auf "Lunar Glyphs" über einen Zeitraum von fünf Jahren erarbeitet hat: die vernebelte und regennasse Großstadtstraße nebst vergilbter Straßenlaternenbeleuchtung auf meine Wohnzimmercouch zu beamen.
Erschienen auf Fauxpas Records, 2017.
PLATZ 26 ° EARTHEN SEA - AN ACT OF LOVE
Das erste von zwei fast zeitgleich veröffentlichten Earthen Sea Alben des New Yorkers Jacob Long steht auch stellvertretend für sein Pendant "A Serious Thing", hat aber für meinen Geschmack vor allem im Nahkampf die schmissigeren Kicks am Stizzle: "An Act Of Love" bekam ein, zwei Ecken mehr Konturen angetackert, nicht zuletzt durch Tracks wie die schön durch die Wolkendecke pumpenden "About That Time" und "The Flats 1975" bestimmt, und dadurch auch eine titelgerecht weniger deprimierende Aura als das, ebenfalls titelgerechte, ernster erscheinende "A Serious Thing". Dass ich ein Fan von Jacobs Arbeiten bin, steht hier schon seit ein paar Jahren geschrieben - seine Klangreisen durch den Dubtechno und Ambientkosmos sind immer bewegend und inspirierend. Lief vor allem über den Sommer in Dauerrotation.
Erschienen auf Kranky, 2017.
PLATZ 25 ° HALFTRIBE - DAYDREAMS IN LOW FIDELITY
Irgendwie uncool, den im vergangenen Jahr mit dem Album "Luxia" noch auf Rang 9 ins Ziel geschwebten Ryan Bissett dieses Jahr auf Platz 25 zu schieben, und so richtig d'accord bin ich mit der Entscheidung immer noch nicht. "Daydreams In Low Fidelity" war ein Dauergast in meinem CD-Player, tatsächlich hat er seinen Platz seit Februar nicht mehr verlassen - und was ich im letzten März über "Luxia" schrieb, wird hier noch stärker herausgearbeitet: Bissetts Musik ist bei aller Weichheit überraschend crisp, fast intellektuell heruntergekühlt und ein bisschen rough around the edges. Das gibt mehr Raum für Experimentelles und witzige Ideen, gleichzeitig verlässt er die Ambient-Kuscheldecke und sucht die Herausforderung für anspruchsvolleres Storytelling, ohne dabei den Fluss der Kompositionen zu gefährden. Wer seine Stimmung gerne von äußeren Einflüssen manipulieren lässt, freut sich über die Endlosschelife von "Daydreams In Low Fidelity" besonders an regnerischen Frühlingstagen, wenn das Draußenleben aufs Neue wachgeküsst wird.
Ob der Titel des elften Albums des Oud-Visionärs Brahem sich auf den Modus eines Musikstücks in der arabischen und türkischen Musik oder auf die islamische Mystik bezieht, nach der Maqams „Wegstationen“ sind, die ein Gottessuchender auf seinem langen und mühevollen Weg auf der Suche nach Gott zurücklegen muss, bleibt vermutlich nicht ohne Grund unbeantwortet - und es ist bisweilen lohnenswert, "Blue Maqams" unter der Prämisse dieser zwei Interpretationsoptionen zu erkunden. Vor allem dann, wenn man wie ich weder vom einen noch vom anderen auch nur den blassesten Dunst hat. Liest sich gut, ist aber total sinnlos. Musikjournalismus im Jahr 2017, deal with it. "Blue Maqams" ist kein einfaches, weil sehr subtiles und überwiegend leises Album; offenbaren sich die seitens der vier Granden De Johnette, Holland, Bates und Brahem gesponnenen Ebenen doch in erster Linie beim tiefen Eintauchen via Kopfhörer und beim genauen Studium ihrer sowohl tonalen als auch rhytmischen Bewegungen. Es ist eine echte Freude, diesen vier Ausnahmemusikern dabei zuhören zu dürfen.
PLATZ 29 ° THIEVERY CORPORATION - THE TEMPLE OF I & I
Nach dem auf ewig grandiosen Melancholiemonster und Überraschungscoup "Saudade" aus dem Jahr 2014 ist "The Temple Of I & I" eine Rückkehr zum bekannten Thievery Corporation Sound, dieses Mal jedoch ein Spürchen reggaebetonter als gewohnt. Qualitativ bewegen wir uns glücklicherweise wieder oberhalb des "Culture Of Fear"-Niveaus und einer trotz wie üblich großen Schar von Gastsängern/-sängerinnen insgesamt gestiegenen Treue zum roten Faden, der das Album zusammenhält. Es verlangt Anerkennung, dass sie ihren Sound auch 20 Jahre nach den großen Erfolgen eines mittlerweile ziemlich vor sich hin müffelnden, fast möcht' man sagen: gar nicht mehr existierenden Genres immer noch frisch halten können, selbst wenn der Überraschungseffekt mittlerweile (und im Vergleich zum Vorgänger) auf "The Temple Of I & I wieder ausbleibt - und dass sich trotzdessen immer wieder die große Euphoriekammer im Herzen öffnet, wenn ein neues Thievery-Album ansteht. Herausragend: die lasziv-zornige Racquel Jones in "Letter To The Editor" und die beiden Sentimentalsmoothies "Time + Space" und "Love Has No Heart".
PLATZ 28 ° BEACH FOSSILS - SOMERSAULT
Gebt mir noch ein halbes Jahr und "Somersault" steht felsenfest in der Top Ten. Dabei war's ein Beinahe-Blindkauf, weil mich der auf den ersten 20 Sekunden des Openers ausgemachte Gegensatz zwischen dem Verve einer Packeisscholle kurz vor Oldenburg einerseits und dem warmen und watteweichen Sixties- und Seventies-Sound so provokativ und sexy ansprang. Ich fand folgerichtig erst nach ein paar Durchgängen den Zugang zum dritten Album der New Yorker, dann war ich allerdings tatsächlich kurz davor, mir selbst im November-Nieselregen den Mankini anzuschnallen und vor Freude in einen Stadtbus zu urinieren: "Somersault" klingt, als hätten Paul McCartney, Robert Smith, Sam Prekop und Johnny Marr am Strand von Kalifornien gehascht und alle hätten sie vor Ergriffenheit wegen des gemeinsam bestaunten Sonnenuntergangs das Heulen angefangen. Wunderbärchen.