17.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (13) - Sam McQueen - Dreams In Sepia



SAM McQUEEN - DREAMS IN SEPIA

Technisch ist "Dreams In Sepia" kein Kandidat für eine Bestenliste des Jahres 2020, eher einer für die "Beste Reissues"-Aufstellung: das japanische Label Blue Arts Music veröffentlichte das Solo-Albumdebut des Produzenten aus Chicago bereits im Jahr 2019 auf CD und in digitalen Formaten, bevor Ende 2020 das Mojiba-Tochterlabel a.r.tless  aus Berlin mit einer Vinylversion nachzog. Ich schlief leider im übertragenen Sinn auf der colorierten Variante, die mit ihrer farblichen Abstimmung zum sowieso fantastischen Coverartwork von Kilian Eng so herzzerreißend wundervoll ausschaut und vermutlich aus genau jenem Grund schneller ausverkauft war als ich "Piep" piepsen konnte, und musste mich also mit der schwarzen Standardpressung begnügen. Aber alleine das Cover...also...DIESES COVER!

Sam McQueen ist ein Veteran der Technoszene Chicagos; u.a. war er im Duo mit John Beltran und als Co-Produzent an dem Klassiker "Indio" des gleichnamigen Projekts aus dem Jahr 1999 beteiligt, das übrigens im vergangenen Jahr vom spanischen Subwax Excursions Label ebenfalls erstmals auf Vinyl veröffentlicht wurde. Auf "Dreams In Sepia"...ich würde jetzt gerne weiter schlau daherreden, von den Anfängen des UK-Techno zu Beginn der 1990er Jahre, vom Berlin-Sound der Mittneunziger, Detroit Techno und früher Ambient-Produktionen, aber ich sag's jetzt einfach wie's ist: ich habe keine Ahnung, was hier passiert. Es ist kein Techno, es ist kein House, es ist kein IDM, kein Broken Beat, kein Ambient. Es ist all of the above. 

"Dreams In Sepia" ist so beruhigend wie aufgeputscht, so pastell wie neon, so träumerisch und melancholisch wie dynamisch und funkelnd. Dazu höllisch komplex - wenn ich noch einmal höre, elektronische Musik sei monoton und flach, bekomme ich einen Schreikrampf: die mehrschichtigen Beat-Verdichtungen, die entgegen aller Vernunft wie blindlings eingeworfenen Basslines, die flächigen Sci-Fi-Ambientstreicher, die sich mit den scheinbar unendlich weit aufgezogenen Melodiewolken einen neuen Fluchtunkt nach dem anderen bauen. So entstehen Momente voller "Sonnenaufgang am Sandstrand"-Euphorie wie in "Fathoms", vom Leben berauschtes After Hour-Geflimmer in "Wicker Park Sunrise", das verspielt-verdaddelte Freigeist-Gezippel in "Then And Now" und das im Orionnebel herumschwebende "Awaken From A Dream". Und darüber hinaus Momente, die manchmal so unwirklich, so surreal, so weit in der Zukunft zu liegen scheinen, dass der Science Fiction-Film, der als Untermalung für diese Musik dienen soll, erst noch erdacht werden muss. 

"Dreams In Sepia" ist beeindruckend - weniger im Sinne eines technischen Gefuchtels, als viel mehr in der Idee der Vereinigung, des kollektiven Bewusstseins in und durch Raum und Zeit. 

Ich glaube, man wird über dieses Album noch viel nachzudenken haben.


   


Erschienen auf Blue Arts Music, 2019/a.r.t.less, 2020. 


15.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (12) - Sraunus - Dance Alone



SRAUNUS - DANCE ALONE

Die meisten Schmerzen bei den vorgenommenen Streichungen für die 2020er Bestenliste hatte ich möglicherweise bei "Dance Alone" von Sraunus. Das elfte Album des Produzenten aus Litauen steht in meinen (digitalen) Hörstatistiken bei last.fm tatsächlich in den Top 100 der meistgehörten Alben aller Zeiten (!) - und das ist bemerkenswert für eine Platte, die erst im Frühjahr 2020 erschienen ist.

Bemerkenswert (ein echter Delling!) sind auch die Ideen für die Ausgestaltung seiner Musik: Sraunus vermischt die dunkel schimmernden, manchmal klaustrophobisch wirkenden, ambrierten Merkmale des Dubtechno mit weitläufigen Ambientflächen und legt einen Schleier aus raffiniertem IDM-Elektrogefummel über die oberste Sphäre seiner Songs. "Dance Alone" ist introvertiert und selbstreflexiv, es zeigt sich in einem immer weiter ausbreitenden Geäst von Erfahrungen und den daraus entstandenen Brüchen, diesen Verschleißerscheinungen, die das Leben kälter werden lassen. Manchmal scheinen sich in erster Linie die Gefühle von Einsamkeit zu spiegeln, die nach innen gerichtete Version der Einsamkeit; die, die keinen Platz für Überwärmtes und andere Sentimentalitäten hat. Vielleicht war es insbesondere ebenjene Wahrnehmung in Zeiten der Corona-Isolation, die "Dance Alone" zu einem solch treuen Begleiter werden ließ. Hätte definitiv in meine Top 20 gehört. Aaaand I fucked this up. Again. 

P.S.: Sraunus stellte vor einigen Jahren einen isolatedmix für das Ambientlabel A Strange Isolated Place zusammen. Mehr Informationen und den Mix zum Download gibt es hier:



 


Self-Released, 2020.

11.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (11) - Armored Saint - Punching The Sky




ARMORED SAINT - PUNCHING THE SKY


Es wäre zu viel gesagt und gemeint, diese legendäre US Metal-Band zur "Banda non grata" im meinem Plattenschrank zu erklären, dafür sind mir ihre Alben nach dem 1991 erschienenen Klassiker "Symbol Of Salvation" alle zu sehr ans Herz gewachsen. Aber die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten hatte auch im Fall von Armored Saint ein paar für mich kaum zu ignorierende negative Folgen: Schlagzeuger Gonzo Sandoval outete sich als beinharter Anhänger des orangeheaded fuckweasels und sorgte mit eindeutigen Posts auf seinen Social Media Kanälen für einige Irritationen Kotzkrämpfe im Hause Dreikommaviernull. Also schaltete ich folgerichtig und hinsichtlich aller Neuigkeiten aus ihrem Camp auf sturen "Ignore"-Modus, selbst nachdem Bassist Joey Vera mir auf Instagram tatsächlich schrieb, Gonzo spreche damit AUF GAR KEINEN FALL für den Rest der Band. Bon. 

Steht aber ein neues Album auf dem Plan, kann ich im Prinzip kaum widerstehen, zumindest mal ein Test-Öhrchen zu riskieren. Die erste Single "End Of The Attention Span" war zwar gefällig, ließ sich aber dank des peinlichem Boomer-Texts und -Videos über die Abgründe dieser neumodischen Kommunikation über dieses "Internet" (o.s.ä.) noch schmerzfrei wegdrücken, bei der zweiten Auskopplung "Standing On The Shoulders Of Giants" brach jedoch die so sorgfältig hochgezogene Mauer im Schädel zusammen: eine geradewegs geniale Hookline, kraftvoll-frisches Songwriting "vom Fass" (Matthias Breusch), ein immergrüner John Bush, dessen Stimme einfach nicht altern will - eine Blaupause klassischen Heavy Metals mit implantiertem Jungbrunnen-Gen für die Ewigkeit. Ein Wahnsinn! "Punching The Sky" musste also trotz einiger moralischer Bedenken zunächst ins Warenkörbchen und anschließend auf den Plattenteller. 

Rein taktisch ist die Songreihenfolge ein cleverer Schachzug: die beiden erwähnten und mit Abstand stärksten Tracks des Albums brennen gleich zu Beginn ein wahres Endorphin-Feuerwerk ab, danach reicht's jedoch allenfalls noch für ein paar LED-Lichterketten aus dem Sommerkatalog von Tchibo. Der Band gehen ab dem dritten Song hörbar das gute Songmaterial und die traditionell herausragenden Hooklines aus. Ausnahme ist das gute "Fly In The Ointment", für das aber auch Steve Harris angerufen hat und seine Akkordfolge zurückhaben will, er hätte da ein Copyright oder Patent oder dicke Backen oder was weiß ich. Was die Platte insgesamt rettet ist das nach wie vor umwerfende Energieniveau einerseits und die taufrische Inszenierung desselben andererseits - beides nicht zuletzt unterstützt von einer sensationellen Produktion, die perfekt zwischen modern-kraftvoll und klassisch-leger balanciert. "Punching The Sky" wirkt befreit und befreiend, sogar bisweilen hedonistisch. Muss man mit Mitte 50 auch mal hinbekommen.   

Für eine Truppe, die so lange im Geschäft ist und wirklich so gar niemandem mehr etwas beweisen muss, ist das eine ziemlich große Leistung. Vermutlich ist "Punching The Sky" aus diesem Blickwinkel betrachtet insgesamt mehr als die Summe seiner einzelnen Teile - und darf daher zurecht in dieser Liste auftauchen.

 

Erschienen auf Metal Blade Records, 2020.

10.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (10) - Lucy Gooch - Rushing



LUCY GOOCH - RUSHING

Das US-amerikanische Spezialistenlabel Past Inside The Present hatte 2020, und damit im vierten Jahr seines Bestehens, einen ganz außergewöhnlichen Lauf. Es liegt nahe, das vor allem an einer Platte festzumachen, die aus nicht ganz offensichtlichen Gründen die Ambient-Nische verließ und sich plötzlich selbst auf dem Radar derer aufhielt, die bislang keine Ahnung davon hatten, diese Musik in ihrem Leben zu benötigen: zaké & 36s "Stasis Sounds For Long​-​Distance Space Travel" übersprang im Juni dieses Jahres tatsächlich die Grenze von 2000 Käufern alleine auf Bandcamp, sicherlich auch von den mittlerweile zig Vinylversionen und -farben angeschoben, aber es ist klar, dass dieses Werk eine ganz besondere Saite bei den Menschen angeschlagen hat - und weiter anschlägt. 

Von diesem so schönen wie überraschenden Erfolg bestärkt, folgte eine wahre, ich bin bin versucht das Wörtchen "unüberschaubare" in diesem Kontext einzuflechten, Flut von neuen Releases - und es ist vielleicht nicht allzu utopisch anzunehmen, dass damit auch größere Aufmerksamkeit auf Künstlerinnen wie Lucy Gooch gelenkt wurde, die mit der EP "Rushing" ihr Labeldebut gab. Ihre so hymnischen wie ätherischen Kompositionen tupfen das eigene Bewusstsein in einen transzendentalen und luziden Traum hinein: seidige Transparenz und surreal zerklüftete Landschaften lassen zwischenweltliche Räume entstehen, Orientierungslosigkeit und Kontrollverlust auf der einen, Geborgenheit und Vertrautheit auf der anderen Seite. Ihre wasserklare Stimme dient dabei gleichermaßen als Fixpunkt des Außerweltlichen und als Rückzugsort für eine Idee von Popmusik, die eher Laune an künstlerischer Dehnung, denn an kompatibler Komprimierung hat. Im Höhepunkt "Sun" klingt es, als hätten sich die drei Seelen von Lucy Gooch, Zola Jesus und Lisa Gerrard in einem unterirdischen Höhlenlabyrinth miteinander verschmolzen und ein hell blitzendes Energienetz über die Erde ausgerollt und es ist herzerwärmend, diesen Song zu erfahren. 

Zerrissen zwischen Pop, vergeistigter Klassik und spiritualisiertem Folk, zwischen Einsamkeit und Empathie; im Prinzip der Sound einer ganzen verdammten Generation. Wir müssen einfach lernen, besser zuzuhören.

 


Erschienen auf Past Inside The Present, 2020.




04.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (9) - Deadbeat & Paul St. Hilaire - Four Quarters Of Love And Modern Lash



DEADBEAT & PAUL ST. HILAIRE - FOUR QUARTERS OF LOVE AND MODERN LASH

Vier (grob) viertelstündige Dubtechno-Elegien auf dem zweiten Teamwork-Album von Deadbeat und Paul St.Hilaire massieren das Basis-Chakra und blasen beruhigenden Kräuterduft aufs dritte Auge. 

Bei 35°C im nicht ganz optimal gedämmten Hinterhaus, frischer Wassermelone und einer Elefantendosis Novalgin (der Rücken, das Alter, es ist nicht schön) bummst einem der nach einigen Minuten einsetzende Bass im Opener "War Games" glatt aus der glorreich-glühenden Unnerbüx - ein Hoch auf die echten Könner, die sich für dieses Album um das Vinylmastering kümmerten. 

Dunkel, hypnotisch, manchmal gar wie entfesselt groovend - ich möchte das auf einer pechschwarzen Tanzfläche in einem pechschwarzen Club hören. Mit meinem Kopf im Basshorn und einer 8 Hektar großen Grasplantage in den Bronchien.

    



Erschienen auf Another Moon, 2020.



16.05.2021

Sonst noch was, 2020?! (8) - Inhmost - Everything Is New



INHMOST - EVERYTHING IS NEW

Ein magisches Album - das leider sehr unmagisch viel zu spät im Sossenheimer Kiez landete und für die Jahresliste 2020 nicht berücksichtigt werden konnte. "Everything Is New" hätte die Top Ten andernfalls im Sturm genommen. 

Es beginnt beim umwerfenden Artwork der ukrainischen Künstlerin Anna Liberté, geht über das Berliner Qualitätslabel La Luna, über eine fantastisch reich und voll klingende sowie absolut fehlerfreie Pressung und endet bei der Musik von Simon Huxtable (u.a. auch als Aural Imbalance und Kloor unterwegs), dem Soundtrack eines märchenhaften Traums. 

Die Vibes auf "Everything Is New" sind subtil. Vibrierende Synthiefäden flimmern über den Horizont, die wie schwerelos in der leichten Brise schwingenden Beats sind gleichermaßen lush wie crisp, die melancholischen Melodien bauen die Gehirnchemie um und stellen den Schalter im Dachgeschoss wie von Zauberhand auf "Das Leben Ist Schön". Und unter all dem hat Huxtable den eigentlichen Nährboden ausgerollt: sein Storytelling reicht von mystisch und entrückt bis hin zu dramatisch und expressiv, von isolierter Introvertiertheit bis zur Sehnsucht nach Verbindung und Gemeinschaft - und skizziert damit die Kulisse dieses Albums: Aufbruch, Mut, Zweifel - und das vielleicht Wichtigste: Vertrauen. 

Aufgefüllt und zu Leben erweckt werden jene Skizzen mit einer gelassenen "Keine Termine und leicht einen sitzen"-Atmosphäre im dämmernden Licht eines Sonnenuntergangs am abgelegensten und einsamsten Sandstrand des Universums, ketamingeschwängertem Downtempo-Swing, reichaltigem Ambient-Farbauftrag und sich durch das gesamte Album ziehende Texturen; feine Variationen, die immer weiter am Überbau von "Everything Is New" arbeiten, während sie selbst wie Farbtropfen im Wasser stets neue Gestalten annehmen - und sich zum Schluss verbinden und Eins werden.

"Everything Is New" wird bleiben. An solche Alben erinnert man sich ein Leben lang, und ich weiß jetzt schon, dass ich sie in ein paar Jahren in die Hand nehmen werde und mich etwas sagen höre, das klingt wie "Das ist eine ganz, ganz tolle Platte."


 



Erschienen auf La Luna, 2020. 

04.05.2021

The Story Of thOught industry

Meine leider etwas holzig formulierte Lobeshymne auf eine der interessantesten, mutigsten, vielseitigsten, technisch versiertesten und scheißrein, ich sag's jetzt: besten Bands der 1990er Jahre ist schockierenderweise beinahe volle 12 Jahre alt, und es ist einer jener Texte, bei denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie etwas später geschrieben. Es zeigt sich wiederholt, dass zwischen "gut gemeint" und "gut gemacht" zwei bis drei Enden der Welt liegen können; zumindestens gilt das für die frühen Texte des "Flohihaan" (Monaco Franze) - und manchmal sogar immer noch für das aktuell Erbrochene. Sad.

Inhaltlich gibt es indes nur wenig zu mäkeln, auch wenn meine Ergebenheit gegenüber ihrer Musik im Jahr 2021 sicherlich noch größer ist und im Falle eines heute geschriebenen Textes eine nochmal bedeutend euphorischere Wortwahl verwendet werden müsste. thOught industry stehen in meiner Realität in jener Reihe großer Bands, denen der "OK, Boomer!"-Sticker mit der Aufschrift "Solche Bands werden heute nicht mehr gebaut" bestens zu Gesicht stehen würden. Und verfickt nochmal, ich sag's jetzt nochmal, und zwar laut:


SOLCHE BANDS WERDEN HEUTE NICHT MEHR GEBAUT!!!1111eins1


Ich habe mich über die Jahre sehr oft gefragt, was die ehemaligen Mitglieder wohl heute so treiben mögen und auch wenn ich darauf immer noch keine Antwort habe, kam ich dem Mysterium dieser Irren kürzlich ein bisschen mehr auf die Schliche: Der Youtube-Kanal STAUNCH T.V. hat tatsächlich den früheren Gitarristen Christopher Lee Simmonds ausfindig gemacht und ihn eine knappe dreiviertel Stunde über die Geschichte der Band erzählen lassen. Es bieten sich so faszinierende wie abstoßende Einblicke in die Welt der thOught industry. Die wichtigsten Erkenntnisse, erstens: man muss nicht miteinander befreundet sein, um großartige Musik zu machen. Zweitens: Metal Blade waren (?) offenbar mal ein totaler Saftladen. Drittens: Suff und Drogen killen jede große Band, es ist schlicht erschütternd. 

Wer die Band bislang nicht auf dem Radar hatte und nun Lust auf ihre Musik bekommen haben sollte: es ist egal, welches ihrer Alben man anwählt - sie sind alle (!) großartig. Kein Witz. Isso.


 


 

01.05.2021

Sonst noch was, 2020?! (7) - Wardown - Wardown




WARDOWN - WARDOWN

Das Debutalbum von Wardown war einen Tick zu spät dran, um noch in die Liste zu rutschen. Ende 2020 auf dem gleichnamigen Label der Drum & Bass-Institution Blu Mar Ten veröffentlicht, hatte ich das Gefühl, ich müsse zunächst noch mehr Zeit mit dieser Platte verbringen. Und ganz ehrlich gesagt: alles, was mir bei der Auswahl für die Top 20 mit einer halbwegs guten Entschuldigung keine schlaflosen Nächte bereitet, ist immer gern genommen. Dabei war es schon im November des letzten Jahres nach wenigen auf Bandcamp gehörten Songs entschieden, dass die Platte zumindest den Status eines neuen Mitbewohners erhalten wird. Fast ein halbes Jahr später ist ebenso klar, ein paar Worte über dieses bemerkenswerte Album verlieren zu müssen. 

Wardown ist das Projekt von Pete Rogers, einem Teil des Drum & Bass-Duos Technimatic, und auch wenn meine Lebensrealität noch nie eine erwähnenswerte Schnittmenge mit Drum & Bass aufwies, ich also ausnahmsweise nicht über Gebühr mit Sentimentalitäten zu kämpfen habe, traf "Wardown" schon nach wenigen Sekunden einen Nerv - denn mit den übrigen Sentimentalitäten, die Rogers auf dieser Platte aufwühlt und verarbeitet, kenne ich mich aus: "Wardown" ist ein Tagebuch verwischter Erinnerungen an seinen Heimatort Lutons, in dem er aufwuchs. "An account of physical, temporal, familial, musical and sentimental dislocation." - und da werden meine regelmäßigen Leser über meine just an dieser Stelle gespitzten Ohren eher unterrascht sein, denn: this hits home, wie Peter Griffin sagt. Hier schreibt immerhin der Fachmann für derlei Nostalgie. 

Rogers hat "Wardown" aus Aufnahmen alter Mixtapes aus seiner Kindheit zusammengeschnippelt und mit Sprachaufzeichnungen mittlerweile verstorbener Familienmitglieder und Field Recordings aus dem Zentrum der Nahe London liegenden Stadt garniert und dabei das deutsche Wort im Fokus gehabt, für das es im Englischen nur unzureichende Übersetzungen, allenfalls eine Kombination aus ähnlichen Begriffen gibt: Sehnsucht, "an inconsolable longing in the heart for we know not what". Die Produktion passt sich dieser delikaten, sensitiven und überaus persönlichen Ausrichtung an: wo vor allem frühe Drum and Bass Sounds oft krude und schroff erschienen, ein stilistisches Relikt aus alten UK Jungle-Zeiten, wirkt  "Wardown" sanft und fließend, ohne dabei den Weichzeichner zu bemühen: die Konturen sind klar und crisp, und wenn im Opener "Culverhouse" nach ein paar Minuten die erste D'n'B-Abfahrt beginnt, fegt mich der Druck der Basslines fast aus dem Sessel - was nicht zuletzt auch an der tollen Pressung liegt. Der über diesem Album liegende Schleier von Traurigkeit, in diesem Zusammenhang sei auf den perfekten Blend aus elegischem Ambient und D'n'B-Beats im großartigen "Susurration" verwiesen, entwickelt sich in erster Linie aus dem Vibe des Verpassten, des Vergessenen, des Vergänglichen, den Rogers herausgearbeitet hat. 

Ein bemerkenswert persönliches und emotionales Wunderwerk elektronischer Musik.
 

   



Erschienen auf Blu Mar Ten Recordings, 2020.

22.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (6) - Korgüll The Exterminator - Sharpen Your Spikes




KORGÜLL THE EXTERMINATOR - SHARPEN YOUR SPIKES


Die Redaktion von 3,40qm freut sich ganz besonders, Ihnen heute eine Leseprobe des mittlerweile aus den Katalogen gestrichenen Zukunftsromans "2021 - Gedanken im Nachttopf" des Gelsenkirchener Autors Schlötz Kügelründ aus dem Jahr 1994 vorstellen zu dürfen. Das 116 Seiten starke Manifest ist das zentrale Werk im Schaffen des streitbaren Toast Hawaii-Liebhabers und frivolen Felgenbürsters und gilt unter Fachleuten als Klassiker im immer noch unterschätzen Genre der WC-Literatur. Weitere Bestseller des Kügelründ sind "Trendkacke. Braucht kein Schwein", eine einfühlsame Erzählung über Körperhygiene, Elektrizität und Brennessel-Knoblauch-Smoothies im urbanen Brennpunkt Olpe und "Hexenpisse", eine Biografie über die westdeutsche Ulknudelkapelle Rave Zigger mit einem Vorwort von Flips Bolzenkahl-Kahlenbolz. Und nun wünschen wir viel Spaß mit der folgenden Leseprobe aus dem Roman "2021 - Gedanken im Nachttopf".

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"Achtung, "Real-Talk": Es gibt keine schlechtere Musik als schlechten Heavy Metal. Schlechter Metal ist die furchtbarste, peinlichste, absurdeste, verschissenste Musik auf diesem Erdball. Ich würde mir lieber freiwillig eine Platte von Bob Marley anhören oder den Eurodance-Remix von "Ob-La-Di, Ob-La-Da" von den verdammten Beatles in Endlosschleife, als eine Minute schlechten Metal. Schlechter Metal ist unecht. Gespielt, aufgesetzt, künstlich, kommerziell endverwertet, aufgeblasen, over-confident, muskelbepackt. Er trieft vor Testosteron, riecht nach Reihenhausküche, er spricht "Mutti ist die Beste" und denkt "Frauen an den Herd", er fährt einen SUV von Volkswagen, in dem es jeden August auf "Wackööön" geht, abfeiern und danach wählt man die CDU. Eine Linie. Eine fucking Linie.  

Der US-amerikanische Produzent Mick Realo, der im Jahr 2021 als "You Tube Influencer" Bekanntheit erlangte, einer sich zur Mitte der 2010er Jahre entwickelnden und auf den Leichenbergen der postdekadenten Generation Z tanzenden Lebensform, stellte kürzlich die Top Ten der meistgestreamtengespielten Metal-Songs auf Shitify vor, und wenn es danach geht, muss man sich um den Herrn Heavy Metal wirklich so rein gar keine Sorgen mehr machen; der liegt nämlich schon mausetot in der Kiste - und wenn man diesen überproduzierten Kitschkackhaufen, diesen substanzlosen Einheitsbrei, diese leidenschaftslose und bis zum blanken Kotzen glattpolierte Fickpisse hören muss, kann man nur sagen: Glück gehabt! Aber es sind nicht nur die jungen Bausparer, die sich so schamlos an der Idee der einst so rebellischen Subkultur vergehen - die ließen sich in einem Paralleluniversum schließlich noch mit der unvermeidbaren Degenerierung im Zeichen von Weiterentwicklung und der damit verbundenen turbokapitalistischen Komplettverwertung von Kultur durchwinken und also  wegfloskeln. Bedeutend schwerer fallen jene ins Gewicht, die sich aus der schwermetallischen Ursuppe der späten 1970er und 1980er Jahre emporwürmelten, die mit unbekümmerter Naivität, echter Lebensfreude und authentischem Krach zu Vorreitern und Fixpunkten einer ganzen Generation junger Heavy Metal-Fans wurden - und sich 30 Jahre später von neureichen Businesskaspern als gut getarnte Zirkuskapelle am mittlerweile rostigen Nasenring durch die Manege schleifen lassen und ihre wie Gebirgsmassive zerklüfteten Hackfressen in Hochglanzvideos zeigen müssen, in denen sie ihre auf 340 Gigapascal hochgepeitschte leere Hülle einer ehemaligen Ahnung von Heavy Metal im Vollplayback vortanzen. Solche mausetot klingenden und bis zur Unkenntlichkeit durchgestylten Alben von Bands wie Onslaught oder, Gott steh' mir bei: den ehemaligen Alleskönnern von Heathen, die mittlerweile wohl nicht nur ihre Musikproduktionen, sondern gleich die ganze Bandbesetzung am vielzitierten Reißbrett entwerfen lassen, sind das eigentliche Ende des Heavy Metal, wie wir ihn mal kannten. Eine tieftraurige und gleichzeitig quietschfidel inszenierte Vollverarsche "von Behämmerten für Behämmerte" (Holger Stratmann) - das ist schon kein potemkinsches Dorf mehr, das ist ein ganzer verschissener potemkinscher Planet. 

Es braucht ein Gegengift. Ein starkes Gegengift. Ein stark rumpelndes Gegengift."

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Wir beamen uns zurück in die Gegenwart. 

Wenn sich eine Band nach einem alten Song der Science Fiction-Metallegende Voivod benennt, ist das schonmal ein guter Anfang für eine möglicherweise sehr tiefe Freundschaft mit meinem Herzen, und wenn ihr hysterisch hackender Black/Thrash Metal dann auch noch so klingt, als würden Venom seit 30 Jahren die längste Treppe der Welt herunterfallen und dabei ununterbrochen von einer manischen Sabina Classen angebrüllt werden, dann ist das wenigstens charmant - und manchmal sogar ein bisschen mehr als das. Das katalanische Quartett kann modernen Metal genauso wenig ab wie unser eben zitierter Schlötz Kügelründ und spielt sehr kompromisslos nur das, auf was es Bock hat, als Hobby. Dahinter steckt kein großes Label, ehrlicherweise nicht mal ein mittelgroßes, dahinter steckt auch kein ausgeklügelter Marketingplan, der mit den Extremen protzen muss - Korgüll nehmen einfach seit 2008 stoisch ihre Musik auf, die fürs sanftgebettete Mainstream-Pack völlig unzugänglich, kaputt und derb klingen muss: "Sharpen The Spikes" steht auf Bandcamp bei nur 85 Menschen in der Sammlung, auf dem Plattensammlersupergiganerdportal Discogs sind's gerade mal 25 Besitzer. Aber man ahnt auch ohne ausgefeiltes Studium dieser Platte, dass ihr räudiger Mix aus 1980er Patronengurtgeballer und 1990er Black Metal-Mystik entweder etwas für den fortgeschrittenen Kenner oder aber für den zurückgebliebenen Kartoffelficker ist. Die "Meddal-Midde" (Birne) hält sich die Ohren zu.  

"Sharpen The Spikes" ist ein durch und durch echtes, rebellisches, in Teilen kakophonisches, irre (IRRE!) treibendes Lets-Fetz-Gehacke aus dem Bilderbuch, schwer behängt mit Nietenarmbändern und mariniert in billigem Bier, hinsichtlich der Intensität eventuell mit einer zugekoksten Version der Mitt/Endneunziger Blackthrash-Urgesteine von Defleshed vergleichbar, nur lässiger, wilder und noch roher. Das geht logischerweise nicht immer klar in meiner Realität, und die Herzallerliebste lässt nach dem ersten, auf selbstredend infernalischer Lautstärke abgespieltem Urschrei von Sängerin Lilith Infernal Punisher nur ein trocken-bedrohliches "Is' klar!" in den Raum gleiten, aber in manchen Momenten kalibriert mir dieser primitive Chaoshäcksler die hohle Denkmurmel so aufs Vortrefflichste wieder auf NormalNull, dass ich mich diesem Zauber des wahren, echten, reinen, unverfälschten und unkaputtbaren katalanischen Superstahls einfach nicht entziehen kann. 


Kills all fucking posers on fucking contact.


 



Erschienen auf Xtreem Music, 2020. 



 

17.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (5) - Psychotic Waltz - The God-Shaped Void




PSYCHOTIC WALTZ - THE GOD-SHAPED VOID

Da waren Psychotic Waltz für sage und schreibe 23 Jahre weg vom Fenster und veröffentlichen ihr erstes Album seit 1997 nach jahrelangem und schier endlosem Warten ausgerechnet im Februar 2020, und damit kurz bevor Covid-19 die Welt zunächst stoppen und dann vermutlich langfristig verändern sollte - hier von "schlechtem Timing" zu schreiben, wäre eine geradewegs unanständige Untertreibung. "The God-Shaped Void" wäre ähnlich wie "Long Day Good Night" von Fates Warning unter normalen Umständen ein sicherer Kandidat für meine Top 20 des Jahres gewesen und wie es die geneigte Leserin, der geneigte Leser (nicht) lesen konnte: es kam schon wieder anders. 

Ich weiß schon: es herrschen nicht erst seit gestern schlechte Zeiten für Mut und Experimentierfreudigkeit im Heavy Metal, ganz besonders gilt das für Bands älteren Semesters, deren Wiederbelebung klassischerweise auf die paar Handvoll Fans zugeschnitten ist, die von früher übrig geblieben sind. Als Psychotic Waltz im Sommer 2017 eine kleine Europatournee aufzogen, fanden sich im Frankfurt Club "Das Bett" optimistisch geschätzte 150 Leute ein, die unter Garantie allesamt bereits 1997 in der Offenbacher Hafenbahn zur Tour des damals aktuellen "Bleeding" Albums anwesend waren, das verrieten die gleichermaßen ausgeblichenen und verkrumpelten Bandshirts und Gesichter. Dass jene Gruppe in aller Regel nicht (mehr) zu den Draufgängern zählt, den musikalischen zumal - im Alter wird man erstens komisch und zweitens erschütternd oft konservativ - ist wenig überraschend. Hinzu kommt im Falle der Anhänger von Psychotic Waltz sicherlich auch der Umstand, in einem von großen musikalischen Verwerfungen gezeichneten und damit stark polarisierten Jahrzehnt wie den neunziger Jahren aufgewachsen zu sein; ein Jahrzehnt, in dem alles, was sich auch nur einen Nanometer von der reinen Metallehre entfernte, in der Wahrnehmung der Fangemeinde automatisch zu Dreck wurde. Und es benötigt vermutlich auch kein Studium der Wirtschaftspädagogik, um nachvollziehen zu können, dass eine Band, die die Rückkehr nicht mehr als zwingendes Lebenselixier, sondern lockere Feierabendsause unter Freunden begreift, sich nicht in ihre Einzelteile zerreißen wird, um ein künstlerisch ambitioniertes Statement zu veröffentlichen, das die Zuhörer schlimmstenfalls verwirrt; da sollen bitte nach einer Tournee noch dreifuffzig im Portemonnaie landen. Ist alles geschenkt, ich weiß das, ich versteh' das. 

Nun nehme ich bereits mit meinen 43 Jahren erschreckenderweise bereits ziemlich ungute Entwicklungen im Sinne eben/oben genannter Parameter bei mir selbst wahr, habe mir aber immerhin meine Abenteuerlust in Sachen Musik behalten können - paradoxerweise ebenso bestimmt von den 1990er Jahren, nur vice versa: der Anything Goes-Vibe ist für mich noch immer über alle Maßen attraktiv. Und um ehrlich zu sein, falle ich damit aus der Zielgruppe für "The God-Shaped Void" raus. Plumps. 

"The God-Shaped Void" ist ein gutklassiges, wenn auch leicht antiquiert wirkendes Metalalbum geworden, das die Verspult-, Verrückt- und Verspieltheiten vergangener Zeiten konsequent vermeidet. Was das immerhin in Originalbesetzung auftretende Quintett anbietet, ist für Waltz'sche Verhältnisse äußerst konventionell und gemütlich geraten, wenngleich sich stilistisch zu den beiden Vorgängern "Mosquito" und "Bleeding" gar nicht mal so viel geändert hat: dicke Grooves, dezent heruntergedimmtes Powerchord-Riffing, ausladende Melodiebögen und spacig-bekifftes Abtauchen in Synthieglitter gab es in hochkonzentrierter Form schon nach ihrem deutlichen Stilwechsel zur Mitte der neunziger Jahre zu hören. Wofür man 1997 aber lediglich drei Minuten benötigte, dauert heute fast immer fast doppelt so lang, und das Konzept geht nicht nicht so richtig auf: natürlich lassen sich auf "The God-Shaped Void" immer noch herausragende Momente entdecken, die sich nur diese Band ausdenken kann,. Wo jedoch früher die Ideen superverdichtet wurden, um sie in kleine funkelnde Diamanten zu pressen, zieht sich heute so manches wie Kaugummi. Hier eine Wiederholung, da noch eine Wiederholung, zweites Solo, drittes Solo, und warum zur Hölle nicht nochmal der Refrain zum Schluss? Ein Track wie "Sisters Of The Dawn" hätte zweifellos auch auf "Bleeding" stehen können - nur eben drei Minuten kürzer, knackiger. interessanter. fokussierter. Über Vergleiche zu den ersten beiden Sternstunden ihrer Karriere "A Social Grace" und "Into The Everflow" müssen wir im Jahr 2020 endgültig nicht mehr reden. Genausowenig übrigens wie über den Fremdscham-Text von "While The Spider Spins", der mit nachdenklichen Hinweisen alter Männer über die Mediendiät junger Menschen referiert. Sweet baby jesus, srsly? Hat da irgendwer mal auf den Kalender geschaut? 

"The God-Shaped Void" ist ein gutes, bequemes Alterswerk. Ich freue mich wirklich, nochmal neue Musik von einer meiner absoluten Lieblingsbands hören zu dürfen, aber ein bisschen mehr Mut und Mumm hätten wirklich nicht geschadet.


 


Erschienen auf Inside Out, 2020.



12.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (4) - The Slow Dancing Society - The Disappearing Collective Vol. I


THE SLOW DANCING SOCIETY - THE DISAPPEARING COLLECTIVE VOL.I


Manchmal zeigt sich der Charakter eines Albums erst spät. Oder präziser formuliert: manchmal erkenne ich den Charakter eines Albums erst recht spät. Das ist logischerweise ein Unterschied. Es ist natürlich viel romantischer anzunehmen, die Musik selbst stelle sich mir nix, dir nix auf diese eine bestimmte Lebensrealität von Flohihaan Blödkommadoofienull ein und verändert sich, transformiert eigenständig die Frequenzen und Schwingungen und trifft genau den richtigen, haha: Ton zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort. Dann schreibt man sowas ins Internet wie "Die Musik hat mich gefunden.", weil man ihr eine Intelligenz zugesteht, ein Eigenleben, ein Bewusstsein - und weil es natürlich wie nix feststeht, dass die Musik damit AUSGERECHNET!^111einself zu einem selbst kommt, dem Mittelpunkt von allem, der Mutter aller Wahrheiten und Weisheiten. Ob's auch 'ne Nummer weniger theatralisch geht, hab' ich gefragt? 

"The Disappearing Collective Vol.I" des US-Amerikaners Drew Sullivan zog im Frühjahr 2020 über einige Wochen hinweg seine eleganten Kreise durch den Westflügel meines Anwesens, und obwohl sie mich nicht umgehend mit prachtvoller Erektion aus dem Sessel feuerte, blieb die Platte verdächtig lange im "Neu Eingetroffen"-Fach des guten schwedischen Pressspanregals einsortiert. Besondere Platten verbleiben aus unterschiedlichen Gründen bisweilen sehr lange in diesem Fach; es ist vielleicht das untrüglichste Zeichen einer durch was und wie auch immer bewegenden Musik, sie immer wieder hören zu wollen. Immer wieder von ihr angezogen zu werden, weil sie das Leben bereichert, es schöner, bunter, intensiver macht. Oder weil man möglicherweise etwas von ihr lernt. 

Es mag sich nicht sofort erschließen, aber ich lerne vor allem mit und wegen solcher Musik viel über mich selbst, über Menschen, über Liebe, Ängste, Demut. Über Schönheit. Und darüber, Schönheit zu erkennen, sie nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern sie zu verstärken und zu wertschätzen. Das geht fast immer ohne Worte, fast immer ohne darunter liegender Message, fast immer ohne Erklärung. Man fühlt diese Musik. Sie wird zu einem Baustein für das eigene Verständnis, einem Puzzleteil für die eigene Idee von Leben. 

Well, die Idee von Leben...manchmal ist da Chaos, manchmal ist da Einsamkeit, manchmal ist da Angst. Sind wir ehrlich: fast immer ist da Angst. Und plötzlich ist da inmitten dieses tosenden Sturms jene berühmte nächste Ebene in dieser Musik spürbar, denn das Gesetz der Anziehung gilt ja nicht nur für Licht und Liebe allein: ich habe sie gefunden. Das sind erhebende, aber leider sehr flüchtige Momente, in denen man vielleicht für wenige Sekunden mehr von diesem irren Ritt versteht, mehr von sich selbst, mehr von der Welt, mehr vom Universum, mehr von der eigenen Bedeutungslosigkeit - und stattdessen plötzlich alles über Einheit. 

Alles ist vergänglich. Nichts bleibt. 

“The things we love will one day disappear - first slow and then so quick.”
(Matthew Ryan) 

 



Erschienen auf Past Inside The Present, 2020 


11.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (3) - Huerta - Junipero




HUERTA - JUNIPERO


Das hier ärgert mich ein bisschen. Ich bin nach dem stets auszehrenden Kampf mit der Bestenliste am Ende eines Jahres normalerweise völlig im Reinen mit mir und dem Ergebnis, zumindest mit der eigentlichen Auswahl - die Reihenfolge wird sowieso immer noch ein bisschen hin und hergeschoben. Für 2020 war das wegen eines Falls anders und das liegt an "Junipero". Und es ärgert mich wirklich ein bisschen. "Junipero" hätte in der Top 20 auftauchen müssen. I fucked this one up. 

Umso wichtiger ist es nun, das Debutalbum des in Los Angeles geborenen und mittlerweile in Berlin lebenden Produzenten Steve Huerta in der "Sonst noch was, 2020?!"-Reihe vorzustellen. Denn es ist wirklich eines der schönsten Werke des Jahres. 

Inspiriert von der amerikanischen Westküste ist "Junipero" sonnenlichtgetränkte, zart funkelnde Electronica, eingerahmt von sanft schwebenden Ambient-Texturen, einem ätherischen, subtilen Spiel mit Beats und psychedelischen Tauchgängen in die Unterwasserwelt. Das Album wich mir über die Sommermonate nicht mehr von der Seite. Es schenkte Zuversicht und aurale Sonnenstrahlen für den ersten Kaffee am Morgen und beruhigte am Abend; es war beinahe, als würde dieser Sound die Umgebung in einen Aura-Kokon einhüllen, wie ein Schutzschild für den Rückzugsraum, für Introspektion. Auf Bandcamp schreibt User benjj:

In the early, especially uncertain days of quarantine in NYC my roommate and I spent nights listening to this and watching the empty subway cars go by our window. such a comforting, transportive album.

...and I can feel that. 

"Junipero" klingt, als hätten die Boards Of Canada nicht wie üblich im kalten und erschütternd tristen Schottland der 90er Jahre gekifft und dazu dünnen Filterkaffee getrunken, sondern am Strand in Malibu bei 34°C, Dauersonnenschein und eingeweicht in eiskalten Caipirinha wochenlang MDMA gezogen. 

Wenn diese Beschreibung nicht attraktiv genug ist, um nicht sofort auf Bandcamp den "Kauf ich!"-Button zu klicken, weiß ich auch nicht mehr weiter. 


   



Erschienen auf Voyage Recordings, 2020.

 

09.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (2) - Shabaka And The Ancestors - We Are Sent Here By History




SHABAKA AND THE ACENSTORS - WE ARE SENT HERE BY HISTORY

Neuer Jazz stand 2020 nicht hoch im Kurs im Hause Dreikommaviernull. Ich habe von neuen Veröffentlichungen tatsächlich nur sehr wenig mitbekommen - das liegt an meiner Ignoranz und nicht an dem Mangel neuer Musik, just sayin' - und die neuen LPs von Nubya Garcia oder Nubiyan Twist stehen immer noch auf dem Einkaufszettel, anstatt bereits (ausgiebig gehört) im Schrank. Der Fotograf und Betreiber der Jazzpages Frank Schindelbeck kommentierte letztes Jahr auf Twitter, für sein Bankkonto sei es überaus erfreulich, dass ich so selten über Jazz schreibe - und mich machte das wirklich etwas betroffen. Nicht weil ich mich über Gebühr um Franks Bankkonto sorge, sondern weil Jazz auf dreikommaviernull.de seit ein paar Jahren tatsächlich stark unterrepräsentiert ist, und das ist vor allem hinsichtlich der sich über das letzte Jahrzehnt entwickelten Renaissance der Jazzszene im Vereinigten Königreich beinahe ein kleiner Offenbarungseid - das gilt selbst unter Berücksichtigung des fehlenden Anspruchs dieses Blogs, über aktuelle Ereignisse oder Strömungen im Sinne eines Magazins zu informieren. Das war nie der gedachte Sinn von all dem geschriebenen Unsinn (sic!), aber ich hätte mich schon ein bisschen mehr anstrengen können, bon.

Es ist vor diesem Hintergrund gleichfalls verstörend, mit Shabaka Hutchings einen der bedeutendsten Protagonisten jener florierenden Szene lediglich zwei Mal auf diesem Blog namentlich erwähnt zu haben, anstatt auch über seine Werke zu schreiben. Das im Jahr 2016 erschienene "Wisdom Of Elders" (noch auf Brownswood Recordings erschienen) hätte bereits in die damalige Top 20 gehört und ähnliches könnte ich auch über das 2018er Durchbruchsalbum "Your Queen Is A Reptile" seines Projekts Sons Of Kemet schreiben. "We Are Sent Here By History" ist nun das zweite Album des Tenorsaxofonisten mit seinen Ancestors, ein herausforderndes, manchmal verwirrendes, manchmal erleuchtendes Monument des Jazz, das künftigen Generationen als Zeitkapsel dienen wird, um sich über den Zustand der Welt im Jahr 2020 zu informieren. Aufgenommen in Johannesburg, wo die Ancestors zu Hause sind, vibrierend vor Spannung, drückend. Köpfe in den Wolken, geerdet im Zerfall. 

Meine persönlich gezogenen Linien zwischen dieser Platte und der Zeit, in der sie entstand und wirkte, beziehen sich vor allem auf die globalen Black Lives Matter-Proteste aus dem Mai des vergangenen Jahres, die in den USA mit der Ermordung von George Floyd begannen und sich von dort aus zu einem globalen Phänomen ausweiteten. Der Schmerz, die Verzweiflung und der bebende Zorn derer, die jahrhundertelange Unterdrückung plötzlich so klar wie nie zuvor sehen konnten auf der einen, und die wohl noch nie so stark gespürte Anerkennung der eigenen Schuld und Verantwortung auf der anderen Seite, vereinigten sich zu einer mitreißenden Bewegung, die für mich das Jahr mindestens so bestimmte wie die Covid-19-Pandemie - und unter diesem Eindruck des Aufruhrs, der Erweckung, aber auch der Verbrüderung hörte ich "We Are Sent Here By History" als weitere Stimme dieses Chors, als Aufschrei, als Weckruf. Die Worte von Autor und Dichter Siyabonga Mthembu begleiten die Band dabei auf ihrem Weg durch das Album, sie untermalen und untermauern das thematische Konzept eines neu gedachten Humanismus nicht nur, sie stehen ganz zentral für Veränderung: 

"We are sent here by history/The lighter gave fire, and was present at the burning/The burning of the republic/Burnt the names, burnt the records, burnt the archive, burnt the bills, burnt the mortgage, burnt the student loans, burnt the life insurance/An act of destruction became creation."


Hutchings selbst sagt:

"'We Are Sent Here by History’ is a meditation on the fact of our coming extinction as a species. It is a reflection from the ruins, from the burning; a questioning of the steps to be taken in preparation for our transition individually and societally if the end is to be seen as anything but a tragic defeat. For those lives lost and cultures dismantled by centuries of western expansionism, capitalist thought and white supremist structural hegemony the end days have long been heralded as present with this world experienced as an embodiment of a living purgatory."

Was die Musik dieses Sextetts (unter anderem mit dabei: Schlagzeuger Tumi Mogorosi, über dessen Debutalbum ich vor einigen Jahren schrieb) so drastisch und expressiv macht, ist die authentische Wucht des Vortrags einerseits, ein tosender, entfesselter Sturm aus einer Million Kehlen und Lungen, andererseits die tief verwurzelte Spiritualität der Gruppe, ihre Geschichte, ihre Verbindung zu ihrem Land und ihren Menschen. Aus diesen zwei vornehmlichen Strömungen in dieser Musik entsteht eine Wahrhaftigkeit, eine Überzeugung darüber, dass Veränderung unausweichlich ist. 

Man antizipiert den Schmerz, man hört geradewegs das Auseinanderreißen alter Strukturen, die Zerfaserung, das Splittern. Man schmeckt die Tränen. Alle gemeinsam für ein neues Morgen.


 


Erschienen auf Impulse Records, 2020.