08.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (3): Jonathan Jeremiah - Horsepower For The Streets

 




JONATHAN JEREMIAH - HORSEPOWER FOR THE STREETS


Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her? 

Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!

Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden. 

Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger  ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein. 



Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)






Erschienen auf Pias, 2022.

01.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (2): Voivod - Synchro Anarchy

 




VOIVOD - SYNCHRO ANARCHY


Uff, das wird nicht leicht. Den scharf denkenden Scharfdenker*innen mag aufgefallen sein, dass im letztjährigen Bestengetümmel ausgerechnet jene Band fehlte, die ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit als die beste Metalband aller Zeiten bezeichne. Und das, obwohl das kanadische Ensemble im Jahr 2022 sogar ein neues Album herausbrachte - nicht, dass der Umstand zwingend notwendig ist, um in die Bestenliste zu rutschen - für Voivod würde ich immer einen Weg finden; notfalls erfinde ich einfach eine Platte, mir doch egal. 

Lösen wir hiermit also wenigstens dieses Rätsel (des süßen Nichts), dass uns alle (niemanden) schon so lange (noch nie) so beschäftigt (langweilt). 

Nun erschien "Synchro Anarchy" also im Februar 2022 und ich hörte und hörte und hörte und hörte und hörte - und es bewegte sich absolut gar nichts. Nada. Rien. "Nassing!"(Olaf "ohne Deutschland darf nie wieder ein Krieg ausgehen" Scholz). Das war schockierend. Noch ein kleines bisschen schockierender war es, dass sich daran auch im weiteren Verlauf des Jahres nichts änderte. Die Band klingt auf "Synchro Anarchy" zum allerersten Mal in ihrer Karriere blutleer und bräsig. Ich kann beinahe nicht glauben, dass ich das wirklich öffentlich schreibe, aber sogar das Schlusslicht ihrer Diskografie "Infini" hatte noch eine Handvoll mehr Lebensgeister in den Plattenrillen stecken. In erster Linie muss ich das wohl der Produktion von "Synchro Anarchy" ankreiden, der wirklich jeder Esprit, jede Energie, jedes Leben abgeht. Das Album klingt, als wäre es in einem sterilen 4x4 Meter großen und komplett gedämmten Raum aufgenommen worden, in dem der Band vor dem Drücken der Aufnahmetaste all das operativ entfernt wurde, was sie für gewöhnlich ausmacht: Spielfreude, Spritzigkeit, Luft, Raum, Heaviness, die Lust am Wahnsinn. Vor allem Chewys Gitarre klingt so verdammt clean und gedrungen wie ein Gitarrenvideo von Peter Bursch aus dem Jahr 1986. 

Vor dem Hintergrund meiner früher getätigten Einlassungen, die Band in den aktuelleren Mark VI/Mark VII-Besetzungen immer dann am besten zu finden, wenn sie die Haudraufundschluss-Ästhetik für psychedelischere und insgesamt leicht zurückgenommene, luftigere Momente ausfranst und nicht auf Teufel-komm-raus den Kuttenheinzies mit der x-ten Neueinspielungen ihres "Killing Technology"-Albums gefallen möchte, könnte man jetzt mit leicht schnippischem Unterton darauf hinweisen, dass "Synchro Anarchy" doch jetzt genau solche heruntergedimmten Elemente vorweisen würde - und jetzt wär's mir also auch wieder nicht recht? Ich bin kognitiv in der Lage, den imaginären Einwand nachzuvollziehen und vielleicht verstehe ich das ja alles auch nicht mehr, zu alt, zu doof, lebendig begraben unter der Last der Erwartungshaltung, aber: mit "zurückgenommen" meine ich nicht "ausgeblutet". 

"Synchro Anarchy" ist mir ein Rätsel. Es macht überhaupt keinen Spaß, diese Platte zu hören. 



Vinyl: Meine Version auf silberfarbenem Vinyl ist flach (no pun intended) und hat keine gröberen Hintergrundgeräusche. Die Schallplatte rettet den plattgequetschten Sound der Aufnahme aber leider auch nicht. Außerdem: bedrucktes Inlay mit Texten und ein beiliegendes A2-Poster. (++++)


 


Erschienen auf Century Media, 2022. 

12.08.2023

Sonst noch was, 2022?! (1): Mystic AM - Cardamom & Laudanum

 




MYSTIC AM - CARDAMOM & LAUDANUM


Astral Industries-Gründer Arlo Faharano und Rod Modell begeben sich auf "Cardamom & Laudanum" auf eine nächtliche Reise durch den Orient, nisten sich in unseren Köpfen ein, schalten die Kameras an und das Licht aus - und lassen Geschichte passieren. Außerkörperliche Erfahrungen in der Wüste, nächtliches Treiben auf den Basaren, kostbare Seide, feine Gewürze, opulente Parfums. Der Puls der Nacht, die Anspannung vor dem Unbekannten in schwüler, stickiger Luft. Ein Unbehagen auslösendes, obskures Geflüster in einem Meer aus Stimmen, aus der Tiefe der Dunkelheit dringt schamanisches Getrommel, am Horizont lodern die Feuer von den Stämmen in den Bergen, Rauch schleicht sich in den klaren Sternenhimmel. Und du bist mittendrin, saugst alles auf, beobachtest. Wo bist Du? Wer bist Du? Und warum bist Du hier? Und - was bedeutet das denn überhaupt..."hier"? 

Ein berauschender, mystischer, aufregender, spektakulärer Fiebertraum.


Vinyl: Astral Industries lässt traditionell bei Optimal pressen und dort kann normalerweise nicht so irre viel schief gehen. Es gibt Gegenbeispiele, aber das Presswerk in Brandenburg gehört sicherlich zu den qualitativ zuverlässigeren Herstellern. So ist es auch hier: ich habe keine Beanstandungen. Die klassischen AI-Coverartworks von Theo Ellsworth sind von den Hüllen des britischen Labels nicht mehr wegzudenken. Gatefold-Cover. Kein Download. (+++++)


 



Erschienen auf Astral Industries, 2022

29.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 1: Eternell - Mira




ETERNELL - MIRA


Meine treuen Leser*innen wissen es seit langer Zeit: Ich schreibe gerne mal irgendeinen Schwachsinn ins virtuelle Tagebuch hinein, sei es, weil ich der irrlichtenden Meinung bin, etwas sei besonders "lusdisch" (Heinz Schenk), kontrovers, deep, iNtElLeKtUeLl oder weil mir schlicht die kognitiven Fähigkeiten für etwas Schlaueres fehlen; und manchmal, wenn der innere Drang nach Vermittlung und Präzision beinahe unaushaltbar intensiv und wie Tazman auf Crack rebelliert und also kurz vor der Kernschmelze steht, folgt ein zwar stilloser aber dafür immerhin leidenschaftlicher Bandwurmsatz nach dem anderen, irgendein chaotisches und zwanzig Zeilen langes, mit Ego und Hybris aufgeladenes kapriziöses Gebläse, für dessen Dechiffrierung man entweder selbst einen veritablen Hirnknick sein eigen nennen oder ein abgeschlossenes Psychologie- und Germanistikstudium im Lebenslauf stehen haben sollte (#schnittmengen) - weil's eben einerseits mit maximaler Begeisterung raus muss und weil's andererseits auch hier am besten mit Verdichtung i.S.v. Konzentrierung gelingt. Wenngleich Konzentrierung in diesem Kontext lediglich bedeutet, so viele Wörter wie möglich in eine halbwegs stimmige Hirnschlagsgrammatik zu pressen, von Inhalten spricht heute ja kein Mensch mehr, und mit Verlaub, manchmal muss man ja fast schon dankbar dafür sein. In diesen so besinnungslosen wie begeisterten Momenten fühlt sich das Komma- und Semikolon-Massaker auch immer total richtig an, aber spätestens wenn die Herzallerliebste nach dem Durchlesen des Textes lapidar kommentiert, den könne ja kein Mensch verstehen oder auch nur verstehen wollen, das sei alles viel zu verschachtelt, kompliziert, unklar und gespreizt formuliert, kommen Zweifel. Zweifel, die mein Innerstes gerne mit einer Mischung aus Arroganz und meinerseits geäußerter Verständnislosigkeit quittiert, denn wer sich nicht mal für fünf Minuten anstrengen will, durch den profunden Wortsalat zu staksen, soll's meinetwegen lassen und gleich RTL2 einschalten. Es ist ein freies Land. Et ce n'est pas mon problème!

"Jetzt...warum sag' ich ihnen das?" (Polt)

Ich schreibe das ganze Gekröse hier so nonchalant hin und rein, weil ich's erstens: kann! Das ist klar. Zweitens aber, und das ist viel wichtiger: ich muss rekalibrieren, resetten, relaunchen. Für das, was jetzt gleich kommt, muss ich Relationen herstellen, Erwartungen zurechtrücken und 16 Jahre weitgehend hilfloses Blog-Gestammel ausbalancieren. 

"Mira" ist der bisherige Höhepunkt im Schaffen des Ludvig Cimbrelius. Der Satz hat angesichts meiner früheren Einlassungen zu seinen Arbeiten Tragweite. Ich weiß das. Und doch verewige ich ihn hier nicht leichtfertig. 

I fucking mean it. 

Es gibt eine kleine Geschichte zu "Mira", und ich schwöre, es ist das letzte Mal, dass ich über den fehlenden Bestenlisten-Countdown des Jahres 2021 lamentiere. Am 23.Dezember 2020 veröffentlichte Ludvig "Cove" als digitales Album auf seiner Bandcamp-Seite. Mehr als zwei Stunden Musik verteilt über fünf unterschiedliche Inkarnationen des Titeltracks, wobei alleine "cove (underwater expanse)" mit über 67 Minuten Spielzeit die längste Version ist. Auch wenn das Album sofort eine tiefgreifende Wirkung auf mich hatte, war meine Bestenliste für das Jahr 2020 schon längst in Stein gemeißelt - aber hey, alles easy: Das Album wurde Ende Dezember 2020 veröffentlicht, "ich werde es einfach in der Aufstellung für 2021 erwähnen." Und weil ich 2021 dann schlussendlich so gar nichts erwähnen sollte, blieb "Cove" - zumindest auf 3,40qm - unverzeihlicherweise auf der Strecke. 

Was nicht auf ebenjener blieb, sondern sogar noch tiefgründiger, enger, emotionaler wurde, ist die spirituelle Verbindung zu dieser Musik. Über die letzten zweieinhalb Jahre entwickelte sich "Cove" zu einem beinahe ständigen Begleiter. Es verging keine Woche, in der ich nicht mindestens einen Titel des Albums spielte, manchmal lief das Album in Endlosschleife über ganze Wochenenden hinweg. Der Klang trifft mich direkt ins Herz. Es ist die friedlichste, hellste, erfüllendste Musik, die ich kenne. Ich schrieb vor einigen Jahren, dass Ludvig ein "fucking Wizard" sei, und wenn es eine erneute Bestätigung dafür benötigte, dann ist "Cove" das vielleicht finale Zeugnis seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten. Ein Klang wie aus Gold. Feinstofflich, kostbar, so luxuriös wie demütig, unmittelbar identifizierbar, selbst bei niedrigster Lautstärke, manchmal nicht mal mehr als ein Geschmack in der Luft, durchdringend, bewegend und von einfach überwältigender Schönheit. 

𝑖𝑛 𝑡ℎ𝑖𝑠 𝑜𝑐𝑒𝑎𝑛
𝑎𝑙𝑙 𝑐𝑜𝑚𝑒 𝑡𝑜 𝑎𝑛 𝑒𝑛𝑑
𝑜𝑢𝑡 𝑜𝑓 𝑡ℎ𝑖𝑠 𝑜𝑐𝑒𝑎𝑛
𝑎𝑙𝑙 𝑎𝑟𝑒 𝑏𝑜𝑟𝑛 𝑎𝑔𝑎𝑖𝑛

Was bislang fehlte, war ein physischer Release dieses Wunderwerks. Und dann kam der Januar 2022 und mit ihm kam "Mira", ein Doppel-CD-Set mit einer Spielzeit von mehr als zwei Stunden, dazu Artwork, Kunst und Logos von Nikita Coulombe, Liz Bratton und Alexander Lux. Sechs Tracks auf der ersten CD, darunter der über 18 Minuten lange Titelsong, die insgesamt einer ähnlichen Klangästhetik folgen wie dem Herzstück auf CD2: neben "cove (presence)", einer für die CD-Veröffentlichung remasterten Version, die Ludvig offenbar ganz besonders ans Herz gewachsen ist - "It seems to touch the core of how alive this music can be for me as it swirls around my inner world." - bekommen wir eine ebenfalls remasterte Version von "cove (underwater expanse)" in voller epischer Länge, Breite, Höhe - und Tiefe. 67 Minuten auraler Sternenstaub. 

Mit dem Release von "Mira" war in Bezug auf das Jahr 2022 klar, was auf diesem Blog passieren würde: hier ist meine Nummer 1. Eingebaut in meine DNA und aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Unentbehrlich. Unersetzlich. 

The Healing Colours Of Sound. 


Vinyl: Bitte gehen Sie weiter, es gibt hier leider nichts zu sehen. "Mira" erscheint als digitaler Download und als exquisite Doppel-CD auf Ludvig's Label LILA लीला:

𝓕oundational to LILA लीला is the view that we are all in this adventure of eternal life together. As a reflection of this, a part of the income from music releases will always be going towards trusty organizations who work towards bringing better conditions of Life to all inhabitants of this beautiful Earth, our home in the Universe. As LILA लीला grows, all parts grow.





Erschienen auf LILA लीला, 2022  

22.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 2: ASC - Original Soundtrack




ASC - ORIGINAL SOUNDTRACK


Wenn ich hin und wieder meiner Bewunderung und Faszination über das Veröffentlichungstempo von Brock van Wey aka bvdub aka Earth House Hold Ausdruck verleihe und mich gleichzeitig frage, wer denn die ganze, pardon: Scheiße kaufen, geschweige denn hören soll, dann haben wir noch nicht mal damit begonnen, über James Clements zu sprechen. Der britische Produzent veröffentlicht seit über 20 Jahren seine Musik unter zahlreichen Pseudonymen und Projektnamen mit einer beachtlichen stilistischen Bandbreite: von seinen Drum'n'Bass und Jungle-Wurzeln über Techno, abstrakte Electronica und IDM bis hin zum Ambient beackert der Mann das weite Feld elektronischer Musik durchgängig mit hochklassigen und universell geliebten Sounds auf den einschlägigen Labels - von denen er selbst Auxiliary nebst etlicher Sublabels (u.a. Spatial) leitet. 

Wo unsereins also schon beim Gedanken an einen durchschnittlichen Workload eines Tages im Leben des James Clements die Dosis Tavor dezent nach oben schraubt, um die einsetzenden Panikattacken in den Griff zu bekommen, macht ASC einfach weiter. Nach zwei Alben unter seinem IDM-Markennamen Comit auf A Strangely Isolated Place (hier ist ganz besonders das Debut "Remote Viewing" sehr empfehlenswert), kehrt ASC mit "Original Soundtrack" auf mein Lieblingslabel zurück - und überrascht erneut mit einer Erweiterung seines musikalischen Spektrums. Waren seine früheren Ambientwerke, nicht zuletzt die legendären Alben auf Silent Season, aber auch die Kollaborationen jüngeren Datums mit Inhmost, geprägt von weiten, ausufernden Klangflächen, mit einem ätherisch auftretenden, oft nur zu erahnenden Puls, ist "Original Soundtrack" nicht nur introvertiert, sondern damit auch ungewöhnlich emotional.

Die Basis von "Original Soundtrack" sind warme, weichgezeichnete und tief ins Klangbild eingebettete Pianoloops, die eine ausgegraute melodische Struktur für die atmosphärische Synthiewatte liefern, die den Vibe des Albums entzündet und die in Zeitlupe entstehenden schwarz-weiß-Bilder zum Leben erweckt. Auch wenn "Original Soundtrack" lediglich für einen fiktiven Film die Musik liefert, ist ihr cinematischer Aspekt offensichtlich. Überblendungen von Detailaufnahmen auf die Vogelperspektive, weit aufgezogene  Kamerafahrten über Landschaften, weite Felder, Flüsse, Wälder; Natur sowieso als wiederkehrendes Leitmotiv, stellvertrend für das Weite, Ferne, Offene, Freie. Es wäre ein Film mit deutlich schwermütigen, elegischen Grundtönen, der Bilder des Zerfalls und des Vergangenen zeigen würde. Mit Trauer und Verlust aufgeladene Reminiszenzen an ein gelebtes und geliebtes Leben, undeutlich und verschwommen - und gleichzeitig so unmittelbar und nachempfindbar, weil die Stimmung sich sofort mit der eigenen Realität und der eigenen Verletzbarkeit verbindet. 

Ich empfand "Original Soundtrack" bereits beim Erstkontakt als ambivalent. Aus der Verbindung der sanften, tröstenden  Pianominiaturen, die das Milieu und seine Struktur mittels Komprimierung greifbar machen können und des weit aufgerissenen Horizonts aus sich stets ausbreitenden Klangflächen entstehen Momente, deren Kolorite so niederschmetternd trostlos und leer erscheinen - und die doch so präzise die Schönheit der Hoffnungslosigkeit und der Unschuld herausarbeiten. Emotional verheddert im Trümmerhaufen aus Erinnerungen, Wundpflastern und einer übergroßen Faszination am Leben, drückt "Original Soundtrack" solange sämtliche Knöpfe bis es einem egal ist, ob's jene für die finale Auslöschung oder die finale Erlösung sind. 

Hingabe, und zwar die totale. 


Vinyl: Error, Error, Error, Send Help. "Original Soundtrack" erscheint als Digipak-CD in klassischer A Strangely Isolated Place-Ästhetik und als Download. 


   



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022. 


19.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 3: Lav - A New Landscape


LAV - A NEW LANDSCAPE


Ein Album wie ein Mikrokosmos. 

Der schwedische Produzent Lav aka Christopher Landin ist auf diesem Blog bereits mehrfach mit überschwänglichem Lob bedacht worden. Das liegt vor allem an "A State Of Becoming", das mit Beteiligung von Purl aka Ludvig Cimbrelius entstandene Meisterwerk aus dem Jahr 2017, das in meinem Buch zu den drei besten Ambient-Alben aller Zeiten zählt. Nach einigen weiteren Veröffentlichungen auf so illustren Labels wie Dewtone, deren Homepage-Radio ich nur allerwärmstens empfehlen kann, Amone Recordings und natürlich A Strangely Isolated Place (das eigene 9128-Radio ist ebenfalls überaus lohnenswert), ist "A New Landscape" Lavs zweites vollständiges Album - und das erste ohne eine erweiterte Zusammenarbeit mit anderen Musikern. 

Lav lebt mit seiner Familie auf der schwedischen Insel Gullholma und betreibt dort autarken okölogischen Landbau, über den er regelmäßig mittels Videoaufnahmen berichtet - jedenfalls glaube ich das, denn ich verstehe kein Wort: meine Kenntnisse über die schwedische Sprache sind überaus übersichtlich ausgebildet. Er könnte somit auch über Kartoffeldruck und Atomphysik sprechen, aber weil öfter Zucchinis als Brennstäbe im Bild zu sehen sind, gehe ich von Gemüseanbau aus. Darüber hinaus scheint ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Interesse für Pilze zu bestehen. Das Coverartwork von "A New Landscape" zeigt beispielsweise den Schleimpilz Badhamia utricularis, der in seiner Lebensweise Eigenschaften von Tieren und Pilzen gleichermaßen vereint, biologisch aber zu keiner der beiden Gruppen gehört. Das Foto wurde von Lav nur einige Gehminuten von seinem Haus entfernt gemacht. 

In diesem Zusammenhang erscheint es klug, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen:

"To me this album is about perception. Every day we pass over them, without seeing. Fungi, slime molds and other small beings issue an invitation to dwell for a time right at the limit of our ordinary perception. All it requires of us, is attentiveness. Look in a certain way and a whole new landscape can be revealed."


"A New Landscape" ist Natur. Ein kalter, feuchter Waldboden. Die Baumrinde jahrhundertealter Tannen. Der Blick über sich im Wind schaukelnde Baumwipfel. Das Panorama aufs offene Meer. Der Geschmack von Gebirgsluft. Die Sonne auf der Haut. Lavs organischer Ambient Techno, mal technisch nach vorne treibend wie in "Under The Microspope", mal rhythmisch verschachtelt und mehrdimensional wie in "Collaborative Survival", mal ohne jeden Beat und mit gröberer Auflösung operierend in "Below The Forest Floor", fordert und fördert Vergegenwärtigung, Empathie und Demut. 

Das gelingt einerseits durch die Musik, also über den reinen Klang mit viel Atmosphäre und tief versunkenen Flächensounds und andererseits mittels der Bilder und Stimmungen, die auf der Reise ein- und ausgeblendet werden - es fühlt sich manchmal so an, als würde man mit dem Elektronenmikroskop in die Vergangenheit reisen und dem Leben beim Entstehen in Zeitlupe zuschauen. Oder wie mit beiden Händen in Mutterboden zu stecken und eine spirituelle Verbindung aus einer anderen Galaxie gechannelt zu bekommen. Die Auseinandersetzung mit dieser Musik entwickelt das ganz natürliche Bewusstsein, sich mit spielerischer Faszination diesen verborgenen Welten zu nähern, sie als Realität für andere Lebewesen wahrzunehmen und den eigenen Platz in dieser Welt zu erkennen, aufmerksam und -gerichtet zu sein. Die andauernde Lärmbelästigung, die Diarrhoe der Sensation, des Tumults, das ständige Bombardement der Empörung - "'s ist doch wurscht." (Schmidt) - braucht einen Krampflöser. Es wird Jahre brauchen, den Dreck aus unseren Systemen zu spülen. 

Das braucht Ursprung. Nullpunkt. Reset. 


Vinyl: Das stimmungsvolle Cover-Artwork ist eine Sensation und zusammen mit dem Vinyl in *checks notes* Marigold zum Dahinschmelzen schön. Ungefütterte Innenhülle, Bandcamp-Downloadcode. Die Pressung ist nicht perfekt, aber ordentlich. (++++)


 


Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.





13.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 4: bvdub & james bernard - departing in descent



BVDUB & JAMES BERNARD - DEPARTING IN DESCENT


Der Sprung von Toxik's Ausflug in die Nervenheilanstalt auf Platz 5 zu "departing in descent" könnte kaum größer sein. Da muss sich der Kopf erstmal wieder rekalibrieren. 

Der Konsum der Musik von bvdub kann problematisch sein. Das hat indes keinerlei Auswirkungen auf mein Konsumverhalten, und angesichts der schieren Menge seines Outputs möchte sich mein Kontostand beinahe zu einem gewimmerten "Leider!" hinreißen lassen. Denn so ist das eben als gelernter Metaller: Loyalität geht wenn nicht über alles, dann doch über verflixt vieles. Die Probleme beziehen sich folgerichtig auch weniger bis gar nicht auf die eigentliche Musik, sondern auf meine Rezeption derselben. Oder besser, auf die periodisch auftretende Unfähigkeit, sie emotional verarbeiten zu können. Ich habe über die letzten 13 Jahre so oft über seine Musik geschrieben, dass meine dreikommavier treuen Leser*innen, die bis hierhin durchgehalten haben, sicherlich gleich in den Dörnröschenschlaf fallen werden, so oft sie das schon lesen mussten, aber für meine neue Future-Fanbase, die gleich tausend- ach was: millionenfach von TikTok und meiner geträumten Guest-Appearance bei Fantano auf diese 3,40qm gespült werden, darf ich es nochmal kurz anreißen. bvdub kann einem unangenehm auf die Pelle rücken, wenn das zerebrale und seelische Harmonienetz außer Balance geraten ist. Das wird zu groß, es kommt zu nah, es ist "too close to home", und die Zeiten, in denen sich der kleine(re) Florian in Melancholie und tiefer dunkler Agonie regelrecht suhlen wollte, weil das Leben zu hart und so überwältigend erschien, sind öfter vorbei als sie es nicht sind. Sich in solchen Zuständen komplett in seine unerbittlich aufschäumenden Gefühls-Monstrosität fallen zu lassen, erfordert entweder Mut oder dumpfe Ignoranz. Andererseits hat seine Musik gerade in diesen Situationen eine nicht von der Hand zu weisende kathartische Wirkung, been there, done that, aber wir wissen alle: einfach ist das nicht. Und manchmal hat man auch einfach keine andere Wahl, atmet tief durch, macht den ersten Schritt in seine Welt und erlebt jede noch so subtile Körnung der Musik wie eine neue Realität, ein neues Leben. Das sind kolossale, lebensverändernde Momente.

Die Musik von James Bernard habe ich vergleichsweise spät kennengelernt. Meinen Erstkontakt hatte ich mit seinem A Strangely Isolated Place-Debut "Atwater" im Jahr 2019, eine Liveaufnahme seines Sets vom 'Modular On The Spot’-Festival im North Atwater Park in Los Angeles. Durch die darauf aufbauenden Recherchen fand ich heraus, dass ich wirklich sehr spät zur Party kam. James veröffentlicht seine Musik seit 1994 und wildert durch Ambient, Techno, IDM und Acid-Terrain. Als er 2006 sein Profil auf Discogs erstellte und das dortige Ambientforum betrat, bearbeiteten ihn die übrigen Nutzer so lange, bis er seine frühen und unveröffentlichten Tracks aus den Jahren 1994 bis 1999 auf 25 CD-Rs brannte und die Drei-CD-"Boxen" eigenhändig an die Community verschickte. Sven Väth spielte sein "Dreamscape" in seinen Sets und im Radio, Rising High Records-Gründer Caspar Pound holte ihn auf das Sublabel Sapho, und in der Neuzeit rollte ihm Ryan Griffin, Labelchef von A Strangely Isolated Place den roten Teppich aus: zwei Jahre nach "Atwater" veröffentlichte das Label die ersten beiden "Unreleased Works"-Editionen auf gleich zwei Doppel-LPs. "Acid Dreams" und "Elemental Dreams" sind beeindruckende Werkschauen von einem der profiliertesten Produzenten der Szene. Hier haben wir auch gleich noch ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer mein Aussetzen der Bestenliste 2021 wirklich wiegt - das wären leicht & locker Top 10-Platten und damit Top 10-Reviews gewesen. 

"departing in descent" ist die erste Zusammenarbeit der beiden Musiker; für Brock ist es gleichzeitig das Labeldebut auf zakés Past Inside The Present Label. Für Brock hatte die Kollaboration eine besondere Bedeutung, wie er in seine Post auf Instagram klarstellte:

"On a day like any other in 1994 James Bernards 'Atmospherics' – ordered by mistake by my local house record store - would shape my view of music and my place in it for decades and a lifetime to come. It became, has been, still is, and always will be my favorite ambient album of all time. It changed what music was. Who I was. And the bridge between the two was rebuilt in a way that would stretch to today and beyond.

(...)

James Bernard has been my hero for 28 years.
Somehow, decades later, our musical paths converged.
Somehow, decades later, I have the fortune to call him a friend.
Somehow, decades later, I have the honor to call him family."


Ich den letzten sechs Monaten habe ich keine Platte öfter gehört als "departing in descent". Das ist deshalb bemerkenswert, weil die weiter oben geschilderten Ausnahmesituationen vor allem mit Brocks Musik hier offenbar keine Rolle spielten. Ganz im Gegenteil: ich kam zur Familie, wenn Trost und Beistand notwendig waren. Nicht zur Reinigung, nicht zum Eros der Verzweiflung, sondern zur Umarmung. "departing in descent" ist ein Refugium. Dabei sind die Merkmale ganz deutlich zu erkennen, denn das ist unwidersprochen eine bvdub-Platte mit all seinen Signature Sounds, den Vocal-Samples und den typischen Breaks, dem Pathos und der sich in dem Himmel schraubenden Dramatik. Es ist aber gleichzeitig eine emotionale Entzerrung, mit einer wahrnehmbaren menschlichen Komponente, die nicht das Drama vergrößert, sondern die Entgrenzung kontrolliert. Brock und James haben zumindest in Teilen das Monster gezähmt - sicher nicht hinsichtlich der Spieldauer, denn die überlangen, acht, neun, zehn, elf Minuten dauernden Schallgebirge dürfen immer noch beliebig ausufern. "departing in descent" ist spielerischer, leichtfüßiger und irgendwie heller als ich das zunächst erwartete. Die engelshafte Stimme von marine eyes in "harmonies in hesitation" beispielsweise taucht den Raum in das durchsichtigste Weiß der Welt, alles wird Zeitlupe, alles schwebt. Entschleunigung. Durchatmen. Fallen lassen. 

Ein Effekt fällt dadurch besonders ins Gewicht, und ich kann nur spekulieren, dass der Grund hierfür die Beteiligung von James Bernard ist. Denn wo sich Brocks Musik in erster Linie darum kümmert, möglichst weit zu expandieren, sich auszudehnen bis das Intensitätsniveau kurz vor der finalen Sprengung von Körper, Seele, Geist liegt, erscheint mir die Introspektion, die Konzentration von Klang und Aura die große Kompetenz von James zu sein. Diese Verdichtung, dieses nach Innen gekehrte Element des Albums kreiert einen sicheren Raum, wenn er notwendig ist. Ich kann die Ferne spüren, die Melancholie, den Schmerz, das Tosen der Gedanken. Aber ich gehe nicht unter. 


Vinyl: "departing in descent" kommt in der Vinylfassung als "Mystery Color", das heißt: die zwei LP's haben unterschiedliche Farben und die Farbgebung und Zusammenstellung erfolgten komplett nach dem Zufallsprinzip. Die Stückzahlen sind ebenso unbekannt. Das hat natürlich einerseits den Charme, dass die Sammelnerds, die wegen Limitierung und also Verknappung Schnappatmung bekommen, in die Röhre gucken. Dazu ist es nicht unspannend, die Platte aus der Folie herauszuehmen und zu schauen, was man denn nun bekommen hat. I like. Andererseits kann es natürlich auch vorkommen, eine Kombination zu bekommen, die ästhetisch möglicherweise ein wenig Diskussionsbedarf mit sich bringt. Das sind alles Luxusprobleme. Das Cover-Artwork ist bezaubernd, meine Farben sind toll und die Pressung ist wie gewohnt von PITP: mal Licht, mal Schatten, insgesamt aber völlig in Ordnung. Bevor allerdings wieder die verbale Panzerfaust regiert, sollten alle Hi-Fi-Nerds vielleicht zuerst die Digitalversion hören, denn Brock und James haben absichtlich einige Verzerrungen, Kratzer und Noises in ihren Sound eingewebt und einige Stellen durchaus "hot" produziert. Das ist kein Problem der Pressung. Und ist es nicht völlig plem-plem, dass man sowas heute extra erwähnen muss? (++++)


 



Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.





01.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 5: Toxik - Dis Morta



TOXIK - DIS MORTA


"Dis Morta" ist das beste Metal-Album des Jahres. Und auch ziemlich locker das beste Metal-Album seit dem "Winter Ethereal"-Meilenstein von John Arch und Jim Matheos aus dem Jahr 2019. Große Worte, je sais. Mais puis, ca m'est égàl.

Kleine Geschichtsstunde mit Florian: Toxik ist keine neue Band. Die Truppe aus dem Umland New Yorks erschien Mitte der 1980er auf der Bildfläche und veröffentlichte mit "World Circus" (1987) und "Think This" (1989) zwei Studioalben über Roadrunner beziehungsweise Roadracer, die beide mittlerweile zu den Kultalben der zweiten Speed/Thrash Welle zählen. Vor allem das im Vergleich zum eher progressiven Zweitwerk leichtfüßigere und speedigere Debut ist zurecht gefeiertes Material für die Ruhmeshallen des Heavy Metal. Toxik wurden zunächst wegen der enttäuschenden Verkaufszahlen von "Think This" angezählt und dann final vom Alternative-Boom der neunziger Jahre ausgeknockt. Seit 2013 ist die Band im veränderten Lineup wieder aktiv. Von der Originalbesetzung ist lediglich Gitarrist Josh Christian noch mit von der Partie. "Dis Morta" ist somit erst das dritte Album von Toxik - und das erste seit 33 Jahren. 

Wer sich noch an meine Einschätzungen zu so manchem Comeback meiner alten Thrash Metal-Helden der letzten 15 Jahre erinnert, wird eine Ahnung haben, dass ich nicht gerade mit dem Laden der Konfettikanone zu tun hatte, als "Dis Morta" angekündigt wurde. Zerfledderte Besetzungen, kein Feuer, keine Leidenschaft, Dienst nach Vorschrift, grauenhafte und künstlich aufgepumpte Produktionen, Marketing über Substanz - die Liste großer Enttäuschungen ist lang und reicht von Heathen über Forbidden und Testament bis hin zu Sacred Reich. Von kompletten Knallchargen wie Agent Steel oder Onslaught will ich erst gar nicht reden. Aber meine alte Metal-Loyalität verpflichtet eben. Also, Toxik! Make my day!

Und, FUCK ME - wie arg sie meinen Day machten! Von der ersten Sekunde des Openers und Titelsongs bis zum Rausschmeißer "Judas" gibt es auf dieser Platte KEINE! EINZIGE! LANGWEILIGE! SEKUNDE! 

"Dis Morta" gibt alles. Volle Pulle. Volle Möhre. Volles Rohr. Die! Ganze! Fucking! Zeit! 

Ich hatte in den letzten Monaten versucht, ein angemessenes sprachliches Bild für dieses gnadenlose Gehacke zu finden, und als ich eines gefunden hatte, schrieb ich es in meiner Begeisterung gleich an zwei Stellen in dieses Internet hinein. Weil mir seitdem nichts Besseres eingefallen ist und mir außerdem sowieso gar nichts mehr peinlich zu sein scheint, schreibe ich es hier zum dritten Mal: 

"Maximaler Stress. Permanentes Gefühl der Überforderung. Als würde man bei 300 Sachen auf der Autobahn den Kopf aus dem Fenster halten und das Grünzeug vom Mittelstreifen ins Gesicht geballert bekommen."
 
Und um alles noch viel schlimmer zu machen, klopfe ich mir jetzt auch nochmal auf die Schulter und sage: "Dis Morta" klingt genau so! Das Intensitätslevel kurz vor der Kernschmelze. Ein bisweilen völlig außer Kontrolle geratener Speed, den Lord Helmchen sehr akkurat mit "wahnsinnige Geschwindigkeit" beschreiben würde; vor allem "Sharp Razor" überdreht sich sogar manchmal über die Grenze zur Parodie hinaus. Die Songs schlagen Haken wie Mike Tyson in voller Blüte, sind kompliziert und progressiv - es geht rauf und runter, hin und her. In einem der Höhepunkte "Creating The Abyss" (uargh, diese Riffs!) channeln die Verrückten die Mitt- bis Spätneunziger-Phase von Nevermore in nie dagewesener Perfektion. Mit Ron Iglesias hat die Band zudem einen Sänger in ihren Reihen, der mit extrem hoher Stimme und maximaler Kontrolle durch die waghalsigsten musikalischen Stromschnellen marschiert, die ihm die Instrumentalabteilung im Hintergrund zwischen die Stimmbänder wirbelt, und der dabei noch die abgepfiffensten Gesangslinien wie in "Hyper Reality" aus dem Hut zaubert. Er ist jederzeit der absolute König jeder noch so verzwickten Situation. Und scheißrein: Josh Christian hat sich solche gleich säckeweise ausgedacht. Die ganze Band bewegt sich technisch auf allerhöchstem Niveau. 

Werfen wir einen Blick auf die bisherigen Teilnehmer in meinem kleinen Jahres-Countdown, stellen wir eine gewisse stilistische Diskrepanz zu "Dis Morta" fest. Von meiner Lebensrealität im Hier und Jetzt ist so eine Platte ganze Universen entfernt, und ich habe mich hier in meinem virtuellen Musikzimmer nicht erst einmal darüber ausgelassen, wie sehr ich Ruhe und Einkehr als Gegenpol zu all dem Getöse um mich herum schätze, und wie sehr vor allem das Hören introvertierter elektronischer Musik mein Leben verbessert. Und doch gibt es nun hier diese besinnungslose Lobhudelei über "Dis Morta" zu lesen? Dazu zwei Einlassungen. Erstens: ich kann nicht aus meiner Haut. Ich liebe progressiven und abgedrehten Metal, ich liebe Thrash Metal, ich liebe geile Sänger über alles, ich liebe die Intensität, die Wucht, den Wahnsinn. "Dis Morta" drückt sämtliche Knöpfe bei mir - und dass es das im Jahr 2022 noch schafft, ist eine Grenzerfahrung in sich. Das bringt uns zu zweitens: "Dis Morta" ist im aktuellen musikalischen Klima des Metal ein geplatztes Furunkel am Arsch der Gleichmacherei und des stromlinienförmigen Formatmetals, den die ganzen Angsthasen und Nixkönner einer im tiefsten Koma liegenden Szene unentwegt ins Gesicht kotzen. Würde es heutzutage mehr Metalbands geben, die so mutig, so tollkühn, so virtuos und so kraftvoll klingen wie Toxik auf "Dis Morta", ich wäre mit einem Wimpernschlag wieder in der allerersten Reihe. 


Vinyl: Sorry, aber bei dem erbarmungslosen Geschrote ist alles scheißegal, sogar die ungefütterte Innenhülle und die sehr schmale Aufmachung. Immerhin gibt's einen Einleger mit Texten. Sieht gut aus, klingt gut. Fertig. Bitte einfach nur kaufen, lieben, umarmen und bitte keine weiteren Fragen stellen. (+++++)


 



Erschienen auf Massacre Records, 2022. 


29.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 6: Joachim Spieth - Terrain




JOACHIM SPIETH - TERRAIN



Schuldgefühle. Das Auslassen meiner Jahresbestenliste für das Jahr 2021 ließ einige Platten im Regen stehen, die eine detaillierte Aufarbeitung wirklich verdient gehabt hätten. Es gäbe so viel nachzuholen. Das Problem: es fehlen Energie, Kraft und Zeit. Dabei waren die Titel und ihre Platzierungen schon fertig ausgearbeitet, ausgeknobelt und unter den üblichen starken Schmerzen versiegelt. Daher weiß ich auch immer noch, dass "Ousia", das vierte Album des Produzenten und Labelgründers von Affin Joachim Spieth, meine Nummer 1 gewesen wäre. Ich habe im Jahr 2021 vermutlich keine andere Platte so oft gehört wie "Ousia", ein von aquatischen Motiven durchzogenes Album, das eine warme Klangwelle nach der anderen über den Körper spült und den Geist immer weiter in einen unendlich erscheinenden Raum entlässt. Es ist ein Erlebnis, mit "Ousia" auf Reisen zu gehen. Sollte das bis hierhin noch nicht klar geworden sein, möchte ich explizit eine Kaufempfehlung für dieses kleine Wunderwerk aussprechen. 

Nun sind wir im Jahr 2022 und ich bin hocherfreut, endlich über den Nachfolger "Terrain" schreiben zu dürfen. "Terrain" erschien Ende Oktober des letzten Jahres und fiel damit genau in jene Zeit, in der sich der Gesundheitszustand unseres Hunds Fabbi immer weiter verschlechterte, und ich für eine Weile praktisch aufhörte, Musik zu hören. Ich war emotional so ausgelaugt, so stumpf und leer, dass Stille das einzige zu sein schien, womit ich noch halbwegs umgehen konnte. Die Auseinandersetzung mit "Terrain" begann also mit einiger Verzögerung, aber es war in vielen Bereichen das Rettungsseil, mit dessen Hilfe ich mich aus diesem Loch wieder befreien konnte. Das ist auf den ersten Blick nicht selbstverständlich, denn viel Licht ist hier nicht zu finden. Ich sage das, weil ich allzu Abgründigem, Dunklem, Kaltem bekanntermaßen mit einiger Skepsis begegne und es mir oft nicht leicht fällt, einen Zugang zu solchen Sounds zu finden; noch herausfordernder wird es, wenn ich selbst seelisch angeknackst bin. 

Was die Beschäftigung mit "Terrain" indes so lohnenswert macht, ist die Wahrnehmung des Raums, den es kreiert und die Gegensätze, die aus unterschiedlichen Perspektiven entstehen. Wo "Ousia" den Lebensmittelpunkt in flüssigem, bewegten Wasser fand, empfinde ich "Terrain" als erdig, zerklüftet und verwittert. In der Großaufnahme wirkt es, als würden Kontinentalplatten sich im Zeitraffer grob übereinanderschieben und sich verkanten, ausgelöst und angetrieben von einem sonoren, mächtigen Bassdröhnen, der sich wie ein endlos ausklingender Pulsschlag in der Erdatmosphäre ausbreitet. Ein bedrohliches Szenario, weil jeder Versuch der Kontrolle unter gigantischen Massiven bedeckt wird. Das Makro-Panorama, das "Terrain" in der Folge auffächert, löst diese Gefahr wieder auf und lässt im Kontext mit dieser unnachgiebigen Kraft eher ein Gefühl der Ergebenheit entstehen und entschlüsselt damit auch den nächsten Raum dieses Albums: Die Vertiefung.

"Terrain" entwickelt einen erheblichen Sog ins Innere, bis in die winzigsten Verästelungen von Raum und Zeit. Es durchdringt Materie und öffnet die Brennweite bis in unterste Schichten, vergrößert Strukturen und macht sie sichtbar. Insofern trügt der erwähnte erste Eindruck, hier sei kein Licht. Wir erleben eher ein Wechselspiel der Blickwinkel und der sich daraus ergebenen Gegensätze von Licht und Schatten. Je tiefer und kraftvoller uns die Strömung mitreißt, desto deutlicher - und heller - wird das Terrain in uns. 


Vinyl: Das beeindruckende Coverartwork von Markus Guentner unterstützt den "erdigen" Charakter von "Terrain" perfekt. Ungefütterte Innenhülle, kein Bandcamp Downloadcode. Die Pressung ist einwandfrei. (++++)

 


Erschienen auf Affin Records, 2022. 

23.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 7: Pablo Bolivar & Sensual Physics - Details Am Rande




PABLO BOLIVAR & SENSUAL PHYSICS - DETAILS AM RANDE


Das zweite Album aus dem Hause Seven Villas Music in meiner Bestenliste des Jahres 2022 kommt immerhin zur Hälfte vom Chef persönlich. Pablo Bolivar betreibt das Label in der Region Kantabrien an der Nordküste Spaniens und veröffentlicht mit beeindruckender Stilsicherheit elektronische Musik im Spannungsfeld zwischen Deep House, Ambient und Dubtechno - mal schmissiger, mal mehr laid back, aber der Vibe spannt sich über alle Veröffentlichungen von Seven Villas: warm, maritim, organisch, elegisch. 

Eine Beschreibung über Pablos Zusammenarbeit mit Sensual Physics (aka Jörg Schuster; u.a. bekannt als LUFTH und Digitalverein) auf "Details Am Rande" könnte an dieser Stelle bereits in die Zielgerade einbiegen, denn mit "warm, maritim, organisch, elegisch" wäre im Prinzip alles gesagt. Und wenn solche elektronischen Sounds auch Dein mesolimbisches System fröhlich und quietschvergnügt mit Dopamin fluten, könnte die Lektüre ebenfalls hier und jetzt abgebrochen werden, damit der Mailorder Deines Vertrauens mit dem Verpacken beginnen kann, und die Post möglichst schnell zwei Mal klingelt. Manchmal ist es wirklich so einfach. "Details Am Rande" klingt genau so. 

Die Synthie-Melodie-Pads watteweich und seidenfein, die trippigen Dub-Flächen erzeugen Raum und Tiefe und Umspielen die verästelten perkussiven Elemente spielerisch und zärtlich, der Sound ist lückenlos gefüllt mit Sonne und schwüler Hitze. Es riecht nach Orangenblüten aus Valencia und die Brise, die vom Atlantik herüberströmt, befreit Seele, Herz und Geist endgültig von jeder auch nur entfernt gräulich-schimmernden Wolke. Atmosphärisch bewegen wir uns eher in the heat of the night, aber mein über Wochen sorgfältig austariertes Testszenario ergab, dass auch das Hineingleiten in einen neuen Tag mit Morgenlatte und dazu gehörendem -kaffee bedeutend erträglicher, um nicht zu sagen: lustvoller, wird, dreht sich "Details Am Rande" auf dem Plattenteller.

Wer es nicht ganz so gut mit mir meint und außerdem mit eintätowiertem Binärcode durchs Leben geht, also zwischen Nullen und Einsen keinerlei Differenzierung und Abstufung existieren, könnte jetzt meine oftmals geäußerte Abneigung gegenüber als zu glatt und steril empfundener Musik ins Spiel bringen. Der Kniff von "Details Am Rande" liegt aber genau in dieser vermeintlichen Sorgenfalte: diese Musik pulsiert, atmet, tanzt, sie ist verführerisch, sexy und einnehmend. Ihr Substrat ist Expansion. Es ist vielleicht nicht zwingend im Erstkontakt zu begreifen, aber das Album nimmt seit Monaten jeden Lebenswinkel in Beschlag. Die Welt ist ein bisschen besser, wenn "Details Am Rande" im Dämmerlicht seine Kreise zieht. 


Vinyl: die Pressung der Doppel-LP auf schwarzem Vinyl ist fehlerfrei, das wunderbare Cover-Artwork spiegelt die Atmosphäre der gesamten Produktion wider. Leider kein Bandcamp-Downloadcode inklusive, dafür aber bereits direkt vom Label mit 40 Euro (plus Versand aus Spanien) unangenehm - ich bin versucht "unangemessen" zu schreiben - teuer. Andererseits klemmt man sich einfach den nächsten lieblos hingerotzten Universal-Majordreck für 50 Euro und schmeißt die Kohle lieber in Richtung der echten Basis. Das Album gehört auf Vinyl gehört. Klingt nach prätentiösem Scheißdreck aus der Redaktionsstube der MINT, aber ich kann das jetzt auch nicht ändern. Your call!


 



Erschienen auf Seven Villas Music, 2022.

17.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 8: Earthen Sea - Ghost Poems


EARTHEN SEA - GHOST POEMS


Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, welcher Teufel mich ritt, Jacob Longs letztes Album als Earthen Sea "Grass And Trees" nicht in die Bestenliste des Jahres 2019 aufzunehmen, weiß aber immerhin noch, dass ich mit dem Werk anfangs tatsächlich etwas fremdelte. Long hatte seinen Sound bereits in den vorangegangenen Jahren Schritt für Schritt mehr in die Abstraktion geführt, die Dub Techno-Elemente zurückgefahren, oder besser: verschleiert, und stattdessen mit viel Raum und Tiefe experimentiert - und das kann schon mal an mir vorbeilaufen, wenn es mich auf dem falschen Fuß erwischt. Je eingehender ich mich indes mit "Grass And Trees" auseinandersetzte, desto klarer wurde mein Zugang für den überarbeiteten Ansatz. Heute würde "Grass And Trees" mit großer Sicherheit in den Top 20 landen. Das nur zur Rehabilitation - und obendrauf ein zwar ungefragter aber nichtsdestotrotz überaus lieb gemeinter Tipp, denn das ist eine tolle Platte. 

"Ghost Poems" hatte keine Probleme hinsichtlich einer länger andauernden Findungsphase, das Album brachte sofort alle Nervenbahnen zum Schwingen und das hat Gründe. Long hat seine Melodien ins Zentrum dieser Produktion gestellt; sphärische, softe Miniatur-Loops, die in der ständigen Wiederholung stets die Perspektiven wechseln können und einen hypnotischen, psychedelischen Effekt auf die Wahrnehmung haben. Irgendwann glaubt man, die Töne stehen kreiselnd im Zentrum des Raums und ziehen dort die Beats an wie ein Supermagnet. Schnipser, Kratzer, Hölzer, Wischer - alles findet seinen Weg in die Aura dieser Songs. Genau hier entsteht das Fundament von "Ghost Poems", das Spiel zwischen Isolation und Intimität, zwischen Überwärmung und Distanz. Die gleichzeitige Verschmelzung und Abtrennung von Intellekt und Intuition ist der Kern von "Ghost Poems". 

Entstanden ist das Album in New York während des ersten Covid-Lockdowns. Das Zurückgeworfen-Sein auf das eigene Selbst, die private Sphäre, die Kontemplation, ist auch drei Jahre später noch die Nährflüssigkeit, aus der "Ghost Poems" das Gefühl der Entgrenzung, der Entwurzelung zieht. Im gleichen Augenblick, und das gilt besonders aus heutiger Sicht für so viel Kunst, die in jener Zeit entstanden ist, ist das Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammenhalts, die Idee der Vereinigung immanent. Es ist in diesem Sinne auch eine Erinnerung an die Chance, uns selbst als einheitliche Entität zu erkennen, als Schicksalsgemeinschaft. Das wird dauern. Aber vielleicht ist auch der Weg das Ziel. 

Mit "Ghost Poems" auf den Ohren könnte es allerdings etwas schneller gehen. 


Vinyl: Kranky-Pressungen waren in der Vergangenheit oft ein Lotteriespiel und als ich "Ghost Poems" zum ersten Mal aus der natürlich immer noch ungefütterten Innenhülle zog, war mal wieder mit einer Niete zu rechnen: schmutzig, staubig und voller Schlieren. Aber ich sollte eines Besseren belehrt werden, denn die Pressung ist komplett einwandfrei. Keine non-fills, keine Knackser, flach, zentriert. Kein Downloadcode, aber dafür ein wunderbares Cover-Artwork. Empfehlenswert. (++++)

 


Erschienen auf Kranky, 2022. 

13.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 9: Cool Maritime - Big Earth Energy



COOL MARITME - BIG EARTH ENERGY

Das Cover kam, ich sah, und alle siegten. Ich musste nicht mal vorab in "Big Earth Energy" reinhören.

Beziehungsweise eben doch, aber - ich schwör's! - nur ganz knappe dreikommavier Sekunden und eigentlich auch nur, um sicherzustellen, nicht mit Reggae, Schrebergartenmetal oder tätowierten Karohemden-"Punk" für Bausparer zunächst über- und dann unterrascht zu werden. Über die Stilfrage hinaus musste ich mir indes keine Sorgen machen. Und ich kann meinen Leser*innen versichern, dass auch über ihren Köpfen nur die rosaroteste Wolke schweben wird, wenn diese Platte sich auf dem Plattenteller dreht. 
 
Vielleicht ist die Wolke aber auch eher grünlich (pun intended) anstatt rosarot, denn "Big Earth Energy" ist...grün. Von oben nach unten, rechts nach links, Westen nach Osten, Norden nach Süden: grün. Es klingt grün, es riecht grün, es schmeckt grün, es fühlt sich grün an. Es ist grün. Was es außerdem ist: voller Leben, voller Wärme, voller Wunder, voller Kraft und voller Bilder. 

Wir tauchen ein in einen tiefen, dichten, unberührten Urwald. Regenzeit. Über den Baumkronen räkeln sich Dunstfelder und wirken in den diffusen Sonnenstrahlen wie eine funkelnde Aura, eine Schutzschicht. Darunter tobt Leben, tausendfach, millionenfach. Eine Reizüberflutung aus Reflexen, Bewegungen, Intuitionen, Fluchtpunkten. Zur gleichen Zeit findet man in diesem tosenden Wirbel zur eigenen Mitte, spürt die Atmung, den Puls, den Herzschlag. Spürt den Boden unter den Füßen. Setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, und entwickelt mit jedem Schritt diese fremde, mystische Welt von Neuem. Das Erleben ist unmittelbar. 

Der Kalifornier Sean Hellfritsch hat mit "Big Earth Energy" die vergegenwärtigendste Musik der letzten Jahre erfunden. Zwischen New Age und progressiver elektronischer Musik der 1980er Jahre tänzeln warme, perlende Synthie-Arpeggios wie Glühwürmchen durch die Nacht und setzen mit den lebhaften perkussiven Elementen kristalline Akzente voller Verve und Seligkeit. Darüber breitet sich ein Vibe aus, der mit melancholisch nur unzureichend beschrieben ist - es ist eher ein Innehalten, die Wahrnehmung von Zwischentönen, ein Aufsaugen, eine Verdichtung der Existenz. Eine Art universeller "What a time to be alive!"-Moment zwischen Euphorie, Demut, Empathie und Pathos. 

Das Universum sind wir. 



Vinyl: Obwohl bei der Pressung offenbar GZ Media die Griffel im Spiel hatte, ist meine grüne Vinylversion tadellos. Das Cover-Artwork, ganz besonders in Verknüpfung mit der grünen Schallplatte gehört zum Schönsten, was ich seit "A State Of Becoming" von Lav und Purl gesehen habe. Bekommt einen Ehrenplatz in der Sammlung. Gebe ich nie wieder her. (+++++)


 


Erschienen auf Western Vinyl, 2022.