Platz 1: LAV & PURL - A STATE OF BECOMING
“When we bring our full attention to the act of listening, new worlds emerge that we wouldn’t even notice if we were just passing by, distracted by thoughts”
— Lav & Purl
Nicht zum ersten Mal schreibe ich indes über jene Momente, die auch für einen passionierten Musikhörer und umtriebigen -sammler selten sind, die dann andererseits den Grund dafür liefern, warum ich mich jeden Monat stundenlang in virtuellen Plattenläden aufhalte; klickend, hörend, suchend, sortierend, fast schon manisch. Weil es da etwas geben muss, was auch heute noch jene Freude und jene lebensverändernde Begeisterung in mir auslöst, wie es meine großen musikalischen Meilensteine in den letzten 30 Jahren taten. Ich wollte nie zu denen gehören, die Bereicherung ausschließlich im Gewesenen finden. Wo sich mein heutiges Leben in erster Linie in sicheren Bahnen zwischen Familie, Lohnarbeit, Volkswagen und Rewe City abspielt und aufgrund charakterlicher Unzulänglichkeiten doch auch bitte genau dort abspielen muss, ist mir dieses Konzept bei Musik fremd. Da gibt es auf den ersten Blick außer ein paar Euros auch nichts zu verlieren - vielleicht noch den Glauben, aber den habe ich, von offizieller Seite bestätigt, bereits vor 15 Jahren an der Gaderobe abgegeben und seitdem nicht wieder abgeholt. Auf den zweiten Blick jedoch würde ich nichts weniger als mein Leben verlieren, und damit immerhin eines, das ich mir vor ebenfalls 15 Jahren mit harter Arbeit wieder zurückerkämpfen musste. Denn das habe ich mir verdient: das Privileg, die Neugier, die Inspiration und die Spannung immer wieder mit neuer, niemals zuvor dagewesener Musik füttern zu dürfen. Im Grunde ist das jedes Mal das Feiern des Lebens.
"A State Of Becoming" ist die Belohnung für all das - auf jeder Ebene. Die Musik der beiden schwedischen Produzenten Christopher Landin (Lav) und Ludvig Cebrelius (Purl), eine betörende Mischung aus Lavs in Griechenland aufgenommenen Fieldrecordings - Vogelgezwitscher, fließendem Wasser, Bienensummen, durch Bäume rauschender Wind - und Purls Pianoimprovisationen, tiefem, dubbigen Bass und weichen Ambientflächen ist das eine tolle, großartige, lebensbereichernde. Ihre Musik strahlt sowohl die Energie eines neuen Tages mit seinem sanften, euphorischen Hauch des Glücks aus, als auch die besänftigende Ruhe der Dämmerung, der Nachhall eines warmen Sommertages in der Natur - zu gleichen Teilen Beruhigung und Einkehr wie auch Fokussierung und Antrieb.
Das andere tolle, großartige, lebensbereichernde, ist das umwerfende Artwork von Noah MacDonald. MacDonald hat den Spirit dieser Musik, eine tiefgehende, spirituelle Verbindung zur Natur nebst beinahe überschäumender Lebensfreude, eingefangen und seine Kunst nicht nur auf dem Albumcover platziert, sondern auch über die Innenseite des Gatefoldcovers ausgebreitet und sie damit dem Fluss der Musik angepasst. Zusammen mit den in altrosa gehaltenen Schallplatten, ist "A State Of Becoming" in der gesamten Komposition ein einmaliges Kunstwerk und vielleicht das beeindruckendste Stück meiner Sammlung. Jedes noch so kleines Teilchen dieser Produktion ist durchdacht, jedes bildformende Mosaik ist wichtig, jeder Ton scheint wie selbstverständlich mit der eigenen Umwelt zu verschmelzen.
In der hier demonstrierten stilistischen Kohärenz ist das mehr als nur eine Schallplatte. "A State Of Becoming" ist das schönste Innehalten, die schönste Reflektion, die schönste Inspiration, das schönste Leben.
Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2017.