17.09.2016

Tout Nouveau Tout Beau (18) - Schwanzrock Revisited



CYCLE SLUTS FROM HELL - CYCLE SLUTS FROM HELL


Die Cycle Sluts From Hell aus New York erhielten zu Beginn der neunziger Jahre sogar über die Grenzen ihrer Heimatstadt New York hinaus eine gewisse Aufmerksamkeit. Zum einen ging man mit Motörhead auf große Europatournee, zum anderen schloss sich der frisch bei Overkill ausgestiegene Bobby Gustafson der Frauenband an. Und weil die Cycle Sluts durch unzählige Konzerte im Großraum New York sich bereits ein großes Following erspielt hatten, wurde mit der Epic gar ein Majorlabel auf die Truppe aufmerksam - was nebenbei die Videosingle "I Wish You Were A Beer" mit entsprechender Heavy Rotation auf MTV zum kleinen Gassenhauer machte. Vielleicht war die Band mit Künstlernamen wie Venus Penis Crusher und Honey 1%er und Texten wie im erwähnten "I Wish You Were A Beer" oder "By The Balls" die erste richtige feministische Metalband. Als Begleitmusiker spielten übrigens mit Scott Duboys und Chris Moffett zwei Typen bei den Cycle Sluts, die später Warrior Soul in deren "Space Age Playboys"-Phase am Schlagzeug und an der Gitarre unterstützen sollten. Musikalisch ist das leider einzige Album der Cycle Sluts From Hell eine solide, punkige, straighte und teils rotzige Heavy Metal Platte. Macht Bock.




Erschienen auf Epic Records, 1990.








DOKKEN - UNDER LOCK AND KEY


Für viele das kompletteste und beste Dokken-Album aus einer ganzen Reihe starker Werke aus den 1980er Jahren und tatsächlich: "Under Lock And Key" ist bestes Hardrockfutter und selbst heute ist das Songwriting, ignoriert man die dezente Staubschicht, die bei solcher Musik eben auch dann anfällt, wenn man den Plattenschrank täglich aussaugt und abstaubt, in Sachen Dynamik und Melodik immer noch state of the art und ganz bestimmt auf einer Stufe mit den besten Alben der Konkurrenten von damals. Dabei macht es Sinn, die Spreu vom Weizen zu trennen. Dokken hatten alleine wegen des Spiels von Gitarrenheld George Lynch, ähnlich wie beispielsweise Mark Kendall bei Great White, einen bluesigeren Ansatz und waren ganz besonders exzellent darin, starke Hooklines mit einem relaxten Sonnenuntergansdrive zu verbinden. Dokken waren nicht überdreht wie Poison oder Mötley Crüe, die die zumindest am Beginn der Karriere fehlende musikalische Substanz mit allerlei Schabernack auf und abseits der Bühne kompensieren mussten. Die Kehrseite der Medaille ist in diesem Zusammenhang eine dezent wahrzunehmende Spießigkeit der Band, aber 31 Jahre später bleibt eigentlich nur die herausragende Qualität dieser Songs übrig. Und apropos Great White: deren Genie Michael Lardie war am Mix von "Under Lock And Key" beteiligt und es ist daher auch nur ein bisschen seltsam, dass "The Hunter" ziemlich exakt nach Great White klingt. 




Erschienen auf Elektra, 1985.







L.A. GUNS - L.A. GUNS



Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten - das Debutalbum der L.A. Guns ist eigentlich keine große Sache: ein knappes Dutzend drei- bis vierminütige Hardrocksongs von der Stange, guter Drive, leicht rebellisch angehaucht. Eine jener Platten, wie sie zur damaligen Zeit an den Bäumen wuchsen. Angesichts der heutigen Ödnis im klassischen Hardrock, der Peinlichkeit von Ganzkörpervollidioten wie Steel Panther, Airbourne oder fucking Volbeat, erscheint "L.A. Guns" indes als beinahe lebensnotwendiges Gegengift. Dabei hatten die Jungs damals auch nicht mehr alle Latten am Zaun (und damit waren sie ganz sicher nicht alleine), bei Texten wie "Sex Action" windet sich der halbwegs mit wachem Geist ausgestattete Mensch gar vor schlimmen Schmerzen, trotzdem hat das alles viel mehr Charme als der heutige - Pardon! - Scheißdreck, und mit dreißig Jahren Abstand außerdem ein angemessenes Augenzwinkern. Ich hatte die Truppe um Tracii Guns schon im letzten Jahr wegen ihres "Hollywood Vampires" Albums in höchsten Tönen gelobt und bin versucht, es für das Debut schon wieder zu tun. Ich laufe hier wirklich nicht vor Begeisterung die Wände hoch, aber mit ein paar Gläsern Gin Tonic lässt sich ein Sommerabend mit der Platte ganz prima bestreiten. Again: no small mercies these days.

Am Wegesrande: ich habe die US-amerikanische Pressung auf ziemlich dünnem Labbervinyl und die klingt immer noch drölf Mal besser als so mancher 180g Repress aus 2016. Ich wollt's nur mal gesagt haben.




Erschienen auf Vertigo, 1988.



11.09.2016

Der Sound der großen weiten Welt




SAD & THE SOULDOGS - SLOW


Wenn sich auf dem Backcover einer Platte die Politik und das Kapital einklinken, mit der Abbildung des Stadt- und  Gemeindewappens oder dem Logo eines Handelskonzerns beispielsweise, wenn also darauf hingewiesen werden möchte, dass die Platte, die man gerade in den Händen hält, durch Politik und Förderwettbewerbe multinationaler Großkonzerne subventioniert wurde, dann muss ich sehr reflexhaft wenigstens mit den Augen rollen oder gleich über die nächste als kritischer Journalismus getarnte Apple-Werbung in unseren Tageszeitungen reihern. Im Punk und Hardcore ist das natürlich noch eine Spur witziger, wenn die tätowierten Superrebellen in Text und Interview gegen Staat, Bullen und Kapitalismus gröhlen, aber dann ein paar Schrauben aus der Halterung für's Weltbild fallen, wenn das Kulturdezernat der Gemeinde mit 200 Schleifen wedelt. Kann man ja auch mal drüber nachdenken.

Rapper und Produzent SAD dürfte hingegen noch alle Schrauben beisammen haben, und ich will ihm die aufgedruckten "Kultur Bern", "Migros Kulturprozent" und "Burgergemeinde Bern"-Logos nicht zwingend zum Nachteil auslegen. Es war und ist schwer für Musiker, und ein solches Projekt stemmt sich nicht mal eben so zwischen Lohnarbeit, Kindererziehung und dem Zurechtrücken der Baseballkappe. Dezent vorgespannt bin war ich aber trotzdem, als ich "Slow" auflegte. Man sieht's mir bitt'schön nach.

Glücklicherweise gibt es fast kein besseres Gegengift, um Spannungen, und seien es auf jeder denkbaren Weise nur die pubertären, zu lösen als "Slow", und ähnlich wie bei Kayos "A Thousand Months" hätte die Zielgruppe für solche Sounds bereits das Plattenpresswerk stürmen müssen. Ein extraentspannter Souljazz-Mix mit der tollen Stimme der Bieler Sängerin Djemeia und Raps von T3 und Young RJ von Slum Village aus Detroit (J Dilla, anyone?), eingespielt von einer echten Liveband, die sich aus der Riege der besten Musiker der lokalen Soul- und Funkszene zusammensetzt. Das liest sich nicht nur ausgesprochen verlockend, das hört sich auch so an; in den besten Momenten fallen mir gar die großen Namen der US-amerikanischen R'n'B Szene zu Songs wie dem sowohl brilliant gesungenen als auch gespielten "Hold Me Down" ein - sehr reduziert mit einer Wah Wah-Gitarre durchs balladeske Arrangement wabbelnd, dazu eine Familienportion Dramatik zum krönenden, aufgetürmten Ende. Die Raps von Slum Village, nebenbei: die Jungs machen hier bestimmt auch nicht nur für zwomarkfuffzich und einen Teller warmer Suppe mit, lockern "Slow" an den richtigen Stellen auf und geben dem Klangsmoothie den nötigen Biss. 

"Slow" kennt praktisch kein Mensch, aber daran kann man ja arbeiten. Eine feine, kleine und erfreulicherweise auch nicht zu lange Platte. Und irgendwie ist es ja recht ungewöhnlich, sowas aus der Schweiz auf den Plattenteller gelegt zu bekommen, aber wegen mir kann das genau so gerne weitergehen. 

Clubtour bitte jetzt buchen.





Erschienen auf Mouthwatering Records, 2016.


04.09.2016

Herzschlag




CHARLIE HADEN & ANTONIO FORCIONE - HEARTPLAY


Beeindruckende Momente der Tiefe, der Einkehr und der Schönheit. Auf diesem im Jahr 2006 aufgenommenen Album spielen sich Bassist Charlie Haden und Antonio Forcione an der Gitarre in einen waren Tiefenrausch. Wer mal die Zeit anhalten will, vorzugsweise nachts gegen drei Uhr bei einer Tasse Kaffee und in gedimmten Licht, der hört "Heartplay" - dessen Faszination umso größer wird, hört man den beiden Musikern aufmerksam zu. Das mag gespreizt und prätentiös klingen, aber wie so oft bei Jazz steigt jedenfalls meine beinahe extatische Begeisterung, wenn ich die Wege der Musiker genau verfolge, ihr Zusammenspiel, die Raffinesse, das Einfühlvermögen. In solchen Momenten erscheint plötzlich sehr vieles, was sich im heimischen Plattenschrank vor allem unter dem Moniker "Uff, Rockmusik!" tummelt als fad, eintönig und there I said it: stumpf. Das ist im Grunde kein Problem für mich, schließlich mag ich es auch gerne stumpf, genau genommen bin ich sogar schon stumpf aufgewachsen, "ich weiß, wovon ich rede."(Polt), jedenfalls: der Reichtum von "Heartbeat" wächst exponentiell mit der Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbringt. 

Forciones Talent für gleichzeitig in der emotionalen Ansprache üppige wie in der Ausführung sparsam eingesetzte Melodik konnte ich erstmal 1994 im Neuen Theater in Frankfurt-Höchst bewundern, als er mit seinem Partner Marcial Heredia unter dem Programm "Flamencomedy" eine abendfüllende Mischung aus Musik, Artistik und Humor präsentierte. 

Teil 1:





Teil 2:





Die an diesem Abend erstandene CD, Forciones "Acoustic Revenge", zählt seither zu den unumstößlichen Grundpfeilern meiner musikalischen Adoleszenz, ganz besonders zeigt der Abschlusstrack "Heart Beat" die ganze Palette seines Könnens. Forcione bearbeitet in seinem Spiel jeden Quadratzentimeter seiner Gitarre, nutzt Boden, Decke, Hals und selbst die Mechanik als perkussives Instrument und lässt gleichzeitig viel Raum für die Entfaltung von Melodien und Stimmungen. 






Über Kontrabasslegende Charlie Haden muss man indes nicht mehr so irre viele Worte verlieren. Der 2014 verstorbene Bassist war einer der einflussreichsten Musiker der letzten 50 Jahre, dazu ein kritischer, politischer, aktiver Geist, der nicht zuletzt mit seiner Beteiligung an Ornette Colemans "Free Jazz" und seinem Meilenstein nebst namengebendem Projekt "Liberaton Music Orchestra" stilprägend für folgende Musikergenerationen sein sollte. Außerdem ist mir sein Album "Nocturne" seit Jahren ein treuer Begleiter in warmen Sommernächten.






Acht Kompositionen stehen auf "Heartplay", vier davon stammen aus der Feder des italienischen Gitarristen, drei von Haden, dazu gesellt sich eine Coverversion von Fred Herschs "Child's Song". Hadens bekannte Stilistik, eine Mischung aus Verweigerung und Vereinfachung von Ton und Technik und dabei einer Haltung wie jener von Pianist Thelonious Monk nicht unähnlich, erhält hier eine neue Blaupause. Ganz besonders in Forciones Songs entwickelt Hadens fast schon stoisches Herumschlurfen einen ganz speziellen Puls, eine subtile, unterbewusst wahrnehmbare Rythmik - und Forcione reagiert darauf mit seinem ausgeprägten Gespür für Melodik und Raum. Die Ballade "Snow" und das folgende "Nocturne", die beide gegen Ende so leise und ätherisch werden, dass sie beinahe auseinanderfallen, sind Paradebeispiele für die Ausrichtung von "Heartplay". 

Ein weises, introvertiertes, sparsames Album für Nächte im flackernden Kerzenschein. Klischees my ass. 




Erschienen auf The Naim Label, 2015.


P.S.: Die Aufnahmen wurden in den Londonder Abbey Road Studios speziell für die Veröffentlichung auf Vinyl gemastert - leider ist die Pressung auf 180g Virgin Vinyl zumindest auf meinem Exemplar nicht frei von Problemen, was sich an durchgängigem, zwar sehr dezentem, aber eben doch wahrnehmbarem Knistern zeigt. Mich persönlich stört das nicht, manchmal gar ganz im Gegenteil, und ich würde die Langspielplatte auch nachwievor uneingeschränkt empfehlen, aber wer sich von der oben stehenden Lobhudelei genötigt fühlt, die LP-Version von "Heartplay" zu erstehen und dabei einen ausgeprägten Reinraum-Soundfimmel hat, ist hiermit leise vorgewarnt. 

27.08.2016

Kleini (1999 - 2016)



"...und wir müssen uns darauf einstellen, dass es irgendwann vorbei sein wird. Sie sind schon alt. Wie viele Jahre haben sie noch...vielleicht zwei, drei, wenn es gut geht?! Ich möchte gar nicht darüber nachdenken."

Und dann nickten wir uns mit Sorgenfalten auf der Stirn und zusammengepressten Lippen zu. Und 10 Minuten später, als wir die dunklen Gedanken zur Seite geschoben hatten, waren wir wieder im Hier und Jetzt, schauten uns um - und im 95qm großen Haus versammelten sich die beiden Katzen und der Hund auf den 3qm Sitz- und Liegefläche auf der Couch um einen herum. Kuscheln und schnurren, anlehnen, zusammen sein. Nähe spüren.

Seit heute Morgen ist ein großer Teil unseres gemeinsamen Lebens nicht mehr bei uns. Kleini war in den letzten zwei Wochen krank. Sie konnte nichts mehr essen und erbrach sich ständig. Die kleine runde Knutschkugel, eine herzensgute, unfassbar niedliche, stets vergnügte Katze veränderte sich - sieht man davon ab, dass sie immer noch mit unglaublicher Penetranz ihr Essen einforderte, obwohl sie es dann, als es vor ihr stand, nicht mehr essen wollte oder konnte.

Kleini begleitete uns 17 Jahre durch unser gemeinsames Leben. Alina bekam sie im August 1999, als sie noch in Nürnberg wohnte. Da kannten wir uns schon zwei Monate virtuell, aber wir hatten uns noch nicht gesehen. Seitdem ich sie im Dezember 1999 erstmals besuchte, kannte ich Kleini - und verliebte mich nicht nur in Alina, sondern auch in diese Katze. Eine Glückskatze. Zu der es unzählige Anekdoten zu erzählen gäbe, und wer Alina und mich persönlich kennt, kennt auch diese Geschichten. 

Wir haben immer gesagt, dass unsere Haustiere unsere Kinder sind. Heute früh ist eines unserer Kinder gestorben. 

Wir lieben und vermissen Dich, Kleini.




21.08.2016

Colour & Hope




PETE JOSEF - COLOUR


"Colour" ist wieder mal ein formidables Beispiel für die heutige Berichterstattung in Musikmedien: Irgendwer hat sich den berühmten Waschzettel für das Label ausgedacht, die bisherigen Stationen Josefs, seine Kollaborationen und die Verbindungen zum Berliner Label Sonarkollektiv aufgeschrieben und dazu jeden Genrefetzen, der mit seiner Musik auch nur im Entferntesten verbunden sein könnte aufs Blatt erbrochen - und jeder, wirklich jeder hat's übernommen. Egal ob auf Englisch oder auf Deutsch, es steht überall der gleiche Kram. Manchmal direkt und eins zu eins kopiert, ein anderes Mal mit einem bisschen Füllmaterial aufgehübscht. Da fragt man sich schon, wer sich die Platte eigentlich noch angehört hat. Andererseits: so kann man auch wirklich nichts mehr falsch machen. Auf keiner Seite. 

Multiinstrumentalist aus Bristol, best known for dings und bums...hier...na?! ex-Underworld, genau. White Lamp, dazu irgendwas mit Soul, in sepia getaucht, Berlin, na logo -- ditte is meen Ballin, wa? Butterweiche Stimme, Multiinstrumentalist, wohnt jetzt auf dem Land. Multiinstrumentalist ist er übrigens auch, hatte ich noch nicht erwähnt. EY! MULTIINSTRUMENTALIST! AUF DEM LAND!


Cut. Schnitt. Pause. 


Ich habe mich etwas vor dieser Platte gedrückt und das lag nicht daran, dass der in Bristol aufgewachsene Multiinstumentalist...*dampf*...das lag jedenfalls nicht daran, dass die Musikpresse sich mal wieder selbst am eigenen Schwachsinn berauschte. Ich will ehrlich sein: mir war der Name des Multiinstrumentalisten aus Bristol gar nicht geläufig, aber wie schon ungefähr öchtzig Mal auf diesen Seiten erwähnt - oh the irony! - partiet (sic!) Herr Dreikommaviernull like it's 1993 und lässt sich also von den entzückenden Coverartworks das Portemonnaie und die Hose öffnen; außerdem erscheint "Colour" auf dem Berliner Label Sonarkollektiv - und das kann dann in der Kombination wirklich nicht mehr schlecht sein. Was ich dann zunächst hörte, kitzelte Klischeebilder im Familienpack aus mir heraus: bestimmt ein total smoother Multiinstrumentalist aus Bristol, sexy, urban, trägt bestimmt geraffte Schals und Strickjacken (auch im Sommer) und Zwanzigjährige posten sich auf Instagram um die Reste des Verstands, die den Ausgang trotz Biermix und Döner für zwofuffzich auf irgendeinem superhipmegaabgefahren Festival - im Grünen, am See, an der Müllverbrennungsanlage, is' eh schon alles egal - noch nicht gefunden hatten, alles schön im Sepiafilter, mit glitzernder Sonne und geöffneter Raviolidose im Hintergrund. 

Nun arbeitet Herr Siebenkommafünfacht aber auch gerne an sich und vor allem am ständigen Abbau der eigenen Unzulänglichkeiten, wo nicht Vorurteile, zumal den zu schnell gefällten, und legte "Colour" immer und immer wieder auf. Das soll nicht heißen, dass ich mich mit einer glühenden Peitsche aus sich frisch ergossener Lava zum Plattenspieler prügeln musste - ich mochte die Musik des 23-jährigen Mulstiinstramentulizsten aus Bristol: ein extrasmoother Mix aus mundgeblasenem Indiesouljazz, der selbst in den etwas rassigeren und mit Latintouch ausgekleideten Momenten im besten Sinne behutsam bleibt. Melodisch überaus virtuos, atmosphärisch hingegen weichgezeichnet, ohne auch nur ein Eckchen und Käntchen herausgucken zu lassen. Für den Style, den roten Faden, die Idee. Das ist stark. Und je länger und öfter und aufmerksamer ich "Colour" verfolgte, hörte und in mein Leben hinein ließ, desto schneller verschwanden die Klischees in meinem Kopf. Ich war geheilt. Ich kann wieder sehen, ich kann wieder gehen. 

Während das Album bereits im Oktober 2015 veröffentlicht wurde, erschien die limitierte Schallplattenpressung im schicken Gatefold und wie bereits angesprochen mit tollem Coverartwork im März diesen Jahres, und die Chancen stehen gut, dass ich über "Colour" im Jahresrückblick 2016 erneut einige warme Worte verlieren werde. Mache mir die Welt, widdewiddewie sie mir gefällt, est. 1977.


Sollte man kennen.









Erschienen auf Sonarkollektiv, 2015/2016.



17.08.2016

The Blue Moods Of Josh




SPAIN - CAROLINA


Es ist derzeit praktisch unmöglich, das sechste Album von Spain zu hören, wenn die Herzallerliebste im selben Raum ist. "Carolina" kratzt mit seiner teils sehr plakativen Auskostung von Depression, Untergang und Leid selbst mir bisweilen gehörig an den Nerven, Frau Dreikommaviernull hingegen hat sich mittlerweile für den ein oder anderen Song auf "Carolina", auf dem sich Sänger und Bassist Josh Haden ganz besonders tief in der Verzweiflungssuppe suhlt, Alternativtexte verfasst und trötet mir ebenjene ins Ohr, wenn ich die Platte mal wieder aufgelegt habe:

"Ich war zuhause und es ging mir schleeeeeecht,
dann bin ich raus gegangen und mir ging's immer noch schleeeeeecht."

Ich kann nicht sagen, dass ich es ihr verdenken kann. "Carolina" beispielsweise an einem sonnigen Sommermorgen auf dem Weg zur Arbeit im Auto zu hören, ist eine Herausforderung, die ich schon mehr als nur einmal verloren habe. Andererseits hat Josh vor zwei Jahren seinen Vater Charlie verloren und sagt zum ersten Album nach dessen Tod:

The album has a decided Americana/Alt-Country feel and includes songs I wrote for my dad, for my childhood, for you, homesteading time-travel, the Great Depression, Timothy Leary, a historic U.S. Revolutionary War battle, couples breaking apart and getting back together, a mining disaster, and Mother Earth. The front cover also features an image of me. In other words, a little different from past Spain albums.“

Und im Grunde stimmt das alles, "Carolina" ist tatsächlich anders - es ist näher, intimer, bohrender und an einigen Stellen wirklich prädestiniert für einen Griff ins Tablettenfach der Hausapotheke, Abteilung "Koma". Und auch wenn die vorangegangenen fünf Alben der Band nun wirklich keine ausgelassene Abrissparty feierten, so hat "Carolina" eine deutlich trübere Grundstimmung und zeitgleich eine klarere Ansprache - und für diese Kombination muss ich in Stimmung sein. 

Vor einigen Tagen war es offenbar endlich mal soweit. Es war schon halb elf am Abend, das Wohnzimmer hatte sich dank Temperaturen um die 30°C ordentlich aufgeheizt, der Ventilator quirlte die Miefsuppe ordentlich durch und sorgte wenigstens für ein bisschen Abkühlung, das Licht war heruntergedimmt, das Fenster zum Hof war weit geöffnet - selbst den beiden Katzen war es zu anstrengend, auf die Fensterbank zu springen und mich mit in die Fliegennetze gehackten Krallen zu ärgern. In dieser Situation lief "Carolina" in angemessen hoher Lautstärke auf dem Plattenspieler, beschallte gleich meine angrenzende Hood mit und bekam die finale "Approved"-Medaille. Wenigstens von mir, die Herzallerliebste bleibt nach wie vor skeptisch. Was ich aber eigentlich schreiben wollte: es braucht bisweilen etwas Überwindung, aber gegen die immer noch grandiosen Kompositionen Hadens wie "Station 2", "Lorelei" "Starry Night" oder "Battle Of Saratoga" kann ich mich dann am Ende des Tages, literally, auch nicht mehr wehren. 






Erschienen auf Glitterhouse Records, 2016.

13.08.2016

Die unglaubliche Leichtigkeit




BROKEN SOCIAL SCENE - BROKEN SOCIAL SCENE


Sie hatten ein Lächeln auf dem Gesicht, ganz bestimmt. 

Das Künstlerkollektiv aus dem kanadischen Toronto demonstrierte mit seinem Magnum Opus aus dem Jahr 2005 wie schon auf dem Vorgänger "You Forgot It In People" die unglaubliche Leichtigkeit des Indierocks. Und das zu einer Zeit, in der es um das Genre gar nicht so gut stand - ich kann auch nicht sagen, dass sich das bis heute grundlegend geändert hätte. Wer will schon „indie“, frei und unabhängig sein, wenn die halbe Welt sich innerhalb musikalischer Plattenbausiedlungen einen goldenen Hintern verdient? Wer will denn im Gegensatz dazu sein Zelt in einem Haufen Matsch aufstellen? Und wie gerne würde ich ab und zu mal Matsch hören!

Die kanadische Szene zur Mitte der 2000er Jahre, ein Auffangbecken für urbane Intellektuelle und Avantgardisten, die den Muff in ihren Betonblöcken nicht mehr aushielten, brachte zur Mitte der letzten Dekade eine Sensation nach der anderen hervor. Broken Social Scene hatten daran großen Anteil, sie gehörten zur Speerspitze und Mitbegründern der damaligen Bewegung. So versammelten sie auf ihrem vierten Album einundzwanzig Musiker, darunter Weakerthans-Drummer Jason Tait, Rapper K-OS und Do Make Say Think-Violinistin Feist, und sie alle bekommen von den beiden Kollektiv-Kapitänen Kevin Drew und Brendan Canning viel musikalischen Auslauf und Freiraum. Da wird drüben bei den "Leicht & Locker"-Kumpels in der Pop Lounge die Cocktailkarte rauf und runter getrunken, dann wackelt man über die Straße zu Sonic Youth und jammt zu schwarzem Kaffee zusammen auf Mandolinen, Trompeten und Posaunen, bevor man beim legendären Postrocklabel Constellation vorbeischaut und sich beim schweren Roten die Köpfe heiß redet. Am Ende des Tages treffen sich alle wieder beim Pop und lassen ihrer Unbeschwertheit freien Lauf. Federleicht, beinahe ätherisch gleiten die Songs an einem vorüber. Soviel Raffinesse und Fingerspitzengefühl für die richtige Melodie und die richtige Stimmung gab es nicht mehr auf einer Platte seit...ja, seit wann eigentlich nicht mehr? 

Manch einer wird zwar besorgt nachfragen, ob sich die ganze Meute nicht hier und da mal verlaufen und eher Kopf anstatt Herz benutzt hat, aber nach vier oder fünf Rundgängen auf dem Broken Social Scene-Parcours findet man sich zurecht und weiß das einzuordnen. Ganz klar: "Broken Social Scene" benötigt bei aller souveräner Lässigkeit einen ganzen Batzen Aufmerksamkeit. Pech für Dich, wenn Du zu busy bist, um zuzuhören - es gibt hier einfach soviel zu entdecken. Falsche Fährten, Geheimtüren und chaotische Labyrinthe aus Trilliarden übereinander gelegter Stimmen, Gitarren, Harmonien und Melodien. Wer bis zum Ende durchgehalten hat, wird mit dem zehnminütigen "It’s All Gonna Break" belohnt, das sämtliche noch offenen Fragen beantwortet und endgültig die Sonne auspackt: Da stehen wir im Licht, lassen uns von diesen wunderbaren Melodien (die Trompeten! Mein Gott, DIESE TROMPETEN!) das Herz wärmen und erkennen: es macht alles Sinn. Alles ist an seinem richtigen Platz. Alles ist in bester Ordnung. 






Erschienen auf City Slang, 2005.

06.08.2016

Heavy California




ORGONE - BEYOND THE SUN


Okay, okay - ich habe mich geirrt. I was wrong. I was sogar fucking wrong. Aber, das sei zu meiner Verteidigung erwähnt: "Beyond The Sun" ist kein einfaches Album. 

Das liegt zu einem nicht zu kleinen Teil am Vorgänger "Cali Fever", über den ich schon im Jahr 2012 auf diesem Blog phantasierte, auch mal ein paar Worte verlieren zu können, und wo ich es in vier Jahren schon nicht explizit hinbekam, dann doch eben hier: "Cali Fever" war ein dreckiges, ultracooles Funk- und Fusionalbum mit ungeschlagenem "Die Straßen von San Francisco"-Feeling, enormem Drive und dieser sich aus Freiheit, Abenteuerlust und dem US-amerikanischen Lebensgefühl speisenden Sexiness. Kurz: ich wurde zum Fan, der die Band seitdem mit ausgesprochen überschaubarem Erfolg auf Twitter und Instagram wegen einer wahrscheinlich völlig unmöglichen Deutschlandtournee belästigt. 





Als "Beyond The Sun" im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, wäre das eigentlich ein Blindkauf gewesen, allerdings war das Album zunächst nur als Download oder als CD mit gar nicht mal so ansprechendem Artwork erhältlich, und weil ich manchmal bei all meiner dezent durchscheinenden Kontrollsucht ein "Spürle" (Oettinger) balla-balla bin, riskiere ich in einem solchen Fall dann eben doch erstmal ein Öhrchen, bevor ich die 9 Schleifen für zwei Handvoll Dateien bezahle - für das Vinyl hätte ich ohne mit der Reinhör-Wimper zu zucken glatt das dreifache gezahlt. Ich sage nicht, dass ich noch alle Schellen an der Rassel habe, stattdessen sage ich: "Beyond The Sun" konnte mich bis auf das gute Quasi-Titelstück "People Beyond The Sun" so gar nicht überzeugen. Dabei wollte ich die Platte wirklich unbedingt gutfinden, fast um jeden Preis, und jeder der unzähigen Versuche endete im Fiasko: viel zu glatt produziert, den Songs fehlen Tiefe und Seele, so sexy wie Volker Bouffiers Zahnbelag. Keine Hooklines, kein Drive - Was zum fickenden Fick ist denn mit dieser Band passiert? Ich gab entnervt auf, viel zu spät, aber ich ich bin Lieblingsbands gegenüber eben loyal. Alte Heavy Metal Schule. Da kauft man traditionell (pun intended) noch jeden Scheiß seiner ehemaligen Helden, weil die vor 30 Jahren mal ein gutes Album aufnahmen. 

Absurderweise war die Geschichte an dem Punkt noch nicht ausgestanden, denn ich wurde herausgefordert. Die Kalifornier veröffentlichten "Beyond The Sun" im März des Jahres 2016 auf Vinyl. Mit wunderschönem Artwork. Auf zwei mit unterschiedlichen Farben colorierten LPs. Mit Aufklappcover. Gut. Wenn das so ist: Visier runterklappen, Kopfhörer aufsetzen, nochmal reinhören. Jetzt MUSS sie gut sein. Komm schon! Ich will die jetzt gut finden! Und wo ist meine Rassel?

Ich fand "Beyond The Sun" auch dann immer noch nicht gut. 

Und es tat echt weh. 

Zu den Akten legen. 

Weitermachen.


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Ich könnte jetzt sich das mit pathetischem Donnergrollen ankündigende Schicksal bemühen, dass also irgendeine dunkle, aber grenzenlos starke Macht, Oma Meume oder Didi Hallervorden oder scheißrein: der Wurst-Sepp aus Berchtesgaden, unbedingt einen Endgegner wollte - ob für oder gegen mich ist eh schon bumsegal, aber "Beyond The Sun" sollte zurückschlagen können. Und siehe da, es schlug zurück: da "Beyond The Sun" ein deutscher Vertrieb fehlte, gab es das Vinyl entweder nur über den direkten Kanal zur Band, also in Kalifornien, oder auf US-amerikanischen Mailorders, mit Versandkosten nach Europa, die mittlerweile locker den eigentlichen Wert der Schallplatte übersteigen. Bei sehr ausgesuchten deutschen Verteilern konnte man auch wenige Stücke finden - da allerdings immer für den sehr stolzen Preis von 30 Euro plus X - und alleine damit war das Thema ja im Prinzip schon durch. Und weil es bei mir so durch war, war die Platte in hiesigen Gefilden irgendwann ausverkauft. Während ich also schlussendlich noch darüber frohlockte, dass mir die Entscheidung ja jetzt doch sehr unblutig abgenommen wurde, flatterte mir eines Tages die Email meines Lieblingsmailorders auf den Rechner: "Beyond The Sun" sei jetzt wieder im Lager und also SOFORT VERSANDBEREIT! 

So ein Kurzschluss im Oberstübchen kann manchmal eine beinahe reinigende Wirkung haben und ordentlich den Brägen freipusten: keine dreikommavier Minuten später wurde die Platte wohl schon zum Versand vorbereitet und war auf dem Weg ins Last Exit Sossenheim. 

Nun kommen wir wieder zum ersten Absatz meiner erneut viel zu lang geratenen Einlassung zu "Beyond The Sun" - ich lag falsch. Und ich weiß nicht genau, woran es lag, aber ich schiebe es einfach mal auf den ganzen unerotischen, sacköden Reinhörscheiß. Das konnte nichts werden. Denn kaum lag die Scheibe auf dem Plattenteller waren alle Sorgen begründeterweise weggeblasen und meine Hosen hingen über dem Türrahmen: die Produktion ist glatter, aber trotzdem heavy und pfundig (die Pressung ist in diesem Zusammenhang übrigens auch super) die Songs sind abwechslungsreicher, melodisch verstrickter und zeitgleich in der grundlegenden Ausrichtung straighter - und sie sind immer noch tanzbar. Dem Groove von Songs wie "Loosin' You" oder "When Someone's Love Is Real" kann man kaum wiederstehen, und die Sexiness zeigt sich unter anderem in der Rufus Coverversion "I'm A Woman (I'm A Backbone)". 

Dazu kommt das erwähnte unschlagbare Coverartwork und die wunderbar aussehenden farbigen Vinyle, das große (und großartige) schwarzweiße Live-Foto im Innencover. 

Je ne regrette rien. 

Das ist einfach eine coole Band. 





Erschienen auf Colemine Records, 2016.


31.07.2016

Return To L.A.




BADLANDS - VOODOO HIGHWAY


Das zweite Album dieser All-Star Band um die ehemaligen Ozzy/Black Sabbath Mitglieder Jake E. Lee und Ray Gillen ging nach ihrem durchaus erfolgreichen Debut aus dem Jahr 1989 aus verschiedenen Gründen leider ziemlich unter. Einerseits war die gesamte Rockszene zu Beginn der 1990er Jahre gerade in einer großen Umbruchphase, die zum weltweiten Siegeszug des Alternative Rocks führen sollte, andererseits war das Bandgefüge wegen der Eskapaden der beiden Platzhirsche schon während der Aufnahmen so deformiert, dass das zuständige Label Atlantic kurz nach Veröffentlichung von "Voodoo Highway" die Reißleine zog, die Band feuerte und die Promotion für das Album einstellte. Zwei Monate später zog "Nevermind" den Stöpsel aus dem Sammelbecken der traditionellen Hardrock Bands. 

Es ist vor diesem Hintergrund nur eine kleine Überraschung, dass die zu jener Zeit entstandenen Alben der Hardrock- und Hair Metal-Acts in Sachen geschenkter Aufmerksamkeit mit in den mit Pudelfrisuren vollgesifften Abfluss gezogen wurden und in den jeweiligen Diskografien, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle spielen - dabei sind sie im Vergleich mit den Megasellern nicht selten die interessanteren Werke. Als Beispiele lassen sich "Hollywood Vampires" von den L.A. Guns oder das brilliante "Heartbreak Station" von Cinderella in den Ring werfen - oder eben "Voodoo Highway". 

Natürlich war das selbstbetitelte Bandlands-Debut kein schwaches Album, ganz im Gegenteil gilt es heute unter Kennern als absolute Sternstunde des klassischen Hardrock und selbst der Zahn der Zeit hat nicht so furchtbar viele Stellen gefunden, "Badlands" diesen Stellenwert abzunagen. "Voodoo Highway" geht hingegen stilistisch in eine andere Richtung, ist rauher, basischer, erdiger, echter. Alleine der Sound mit einer im Prinzip total runtergefahrenen, fast schon nackten Bühne, auf der sich eine Hand voll Wüstensand mit ein paar Gläsern Tennessee Whiskey vermischt, ist ein echter Hinhörer, denn er setzt zusammen mit dem Artwork den Maßstab für die Stimmung der Platte: Dämmerung, schwül, sandig - und zwischendurch haut man sich alle vier Sekunden auf den feuchtgeschwitzten Hals, um die Moskitos zu bekämpfen. Die Songs sind konsequent bluesiger als auf dem Debut, verschwunden sind dessen bombastische Hitmagneten, jetzt steht der Blues vor der Tür. Ein bisschen verstrubbelt und runtergerockt, ohne auch nur eine zu viel gespielte Note, kompakt und mit viel Drive und Verve inszeniert - Anspieltipps sind "Soul Stealer" und das wahnsinnige Uptempomonster "Heaven's Train".

Dazu singt mit dem im Dezember 1993 verstorbenen Ray Gillen ein absoluter Meister seines Fachs und veredelt die neue Ausrichtung der Songs mit großer und großartiger Stimme - eine Stimme, die soviel Lust und Freude und meinetwegen die Mischung aus Eskapismus und Hedonismus ausstrahlt, dass ich es mir von meiner Couch in Last Exit Sossenheim in voller Pracht und Blüte vorstellen kann, wie halb Los Angeles im Sommer 1991 in den Bars und Clubs und Hausparties zu dieser Musik feierte, tanzte, lachte und sich in den Armen lag. Das ist über Songs und Sound hinaus das eindrücklichste, was ich dieser Platte mitgeben kann, wenn nicht muss: es macht irrsinnigen Spaß, "Voodoo Highway" zu hören. Es ist gerade 1 Uhr morgens, ich dimme jetzt das Licht, schenke mir einen Bourbon ein und drehe die Platte nochmal um. 

Ihr seid immer auf der Suche nach vergessenen Perlen? Hier habt ihr eine gefunden. 

Für die empfehlenswerte Vinylausgabe ist mittlerweile leider ein ganzer Batzen Geld auf den Tisch zu legen, aber ihr wisst ja: Keep calm and your eyes open.





Erschienen auf Atlantic, 1991.

26.07.2016

Learn How To Feel One Note


Eine Premiere nach neun langen Jahren 3,40qm: ein Gastbeitrag. 

Ich freue mich sehr darüber, dass Freund Jens, aufmerksamen Lesern dieses Blogs längst durch Erzählungen über gemeinsame Streifzüge durch Stuttgarter und Frankfurter Plattenläden, indische Restaurants und Weindekanter bestens bekannt, die Einladung annahm und in seinem Text auf sein geteiltes Leben mit dem Talk Talk-Meilenstein "Spirit Of Eden" zurückblickt - und dabei sogar die Kurve zu Metallica (und wieder zurück) hinbekommt.

It's with honor and great pleasure - Hurra & Enjoy! 






TALK TALK - SPIRIT OF EDEN



Ich will Musik spüren. Berührt werden. Musik muss laut sein, Instinkte wecken, in den Bauch treten - und manchmal das Herz kneten. Ich mag keine verkopfte Musik. Dachte ich. Und dann kam Mark Hollis mit seinem Gegenentwurf zum Rock‘n‘Roll. 

Als im September 1988 "Spirit Of Eden", das vierte Album seiner Band Talk Talk, erschien, war ich 16 Jahre alt. Ein Jahr vorher hatte ich das oben angedeutete archaische Gefühlsbeben zum ersten Mal live erleben dürfen: Metallica bei den Monsters of Rock in Pforzheim. An andere Bands dieses Tages habe ich kaum Erinnerungen, aber ich erinnere mich exakt an jenen Moment als das Metallica-Intro über das Gelände waberte. Eigentlich war ich gerade nach hinten gegangen, um mir etwas zu trinken zu holen, plötzlich zog mich etwas in Richtung Bühne. Ich rannte. Ich wollte keine Sekunde verpassen. In den folgenden 45 Minuten zerlegten Metallica das Gelände - und hoben dabei auch meine Welt aus den Angeln. Eine Band auf ihrem Zenit. Hungrig. Gekommen, um die musikalische Weltherrschaft an sich zu reißen. Inzwischen mag ihnen das auf die ein oder andere Weise gelungen sein, ihr Hunger ist dabei definitiv auf der Strecke geblieben. Und nicht nur der. Aber das ist eine andere Geschichte. 

Fast genau ein Jahr später wurde meine kleine Welt musikalisch erneut erschüttert. Nur diesmal ganz anders - vielleicht sogar noch grundlegender. Immer noch knietief in harten Gitarren watend, wurde ich von meiner Mutter gefragt, ob nicht ich diesmal die Quartalsgabe des Buchclubs auswählen wolle. Gelangweilt blätterte ich im Katalog, kein Metal weit und breit, in meinen Augen und Ohren nur uninteressanter Schund. An einem Cover blieb ich hängen: von Talk Talk kannte ich immerhin ihren 84er Hit "Such A Shame". Also los, einer geschenkten Platte schaut man nicht in die Auslaufrille, so schlecht würde das schon nicht werden. 

Little did I know! Kaum eine andere Platte hat mich seither so tief berührt, so viel mit mir angestellt, sich in all den Jahren nicht ansatzweise abgenutzt. Immer wieder neu, immer wieder elementar. Ein Kosmos. So viele Ideen, so viele Ebenen. Wahnsinn. 

Ich habe mich - sieht man von ersten journalistischen Gehversuchen in der Schülerzeitung ab - immer geweigert, über Musik zu schreiben. Vielleicht aus Angst, sie damit für mich zu entzaubern. Ihr durch die Analyse etwas zu rauben, was für mich essentiell ist. Sich ihr auf anderer als der Herzensebene zu nähern, scheint mir unmöglich. Für diesen Text habe ich es noch einmal versucht. Es will mir nicht gelingen. Den ersten Teil habe ich vor Monaten geschrieben - und mich seither darum gedrückt, im zweiten Teil diese Musik, die mir so unendlich viel bedeutet, beschreiben zu müssen. Im Moment läuft die Platte erneut, es gäbe unendlich viel zu sagen, aber ich kann es nicht. 

Sei's drum, zu "Spirit Of Eden" ist in den vergangenen - bald  - 30 Jahren alles gesagt und geschrieben worden. Das Internet ist voll von Lobpreisungen. Ich müsste mich arg wundern, gäbe es nicht irgendwo wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dieser 40 Minuten dauernden musikalischen Offenbarung beschäftigen. Aber wer will das lesen? Ich nicht. Noch immer will ich Musik in allererster Linie spüren und von ihr berührt werden. Und das hat keine andere Platte so grundlegend getan wie diese.

Eigentlich hat aber Mark Hollis selbst alles gesagt, was über dieses Album und Musik an und für sich gesagt werden muss: 

“Before you play two notes learn how to play one note — and don’t play one note unless you’ve got a reason to play it.”

In diesem Interview - einem seiner bis heute letzten - erzählt er noch ein bisschen mehr. Ich finde, es lohnt sich zuzuhören:





Erschienen auf EMI, 1988.


24.07.2016

Love, Peace & Sacred Reich




SACRED REICH - LIVE IN ASCHAFFENBURG
21.7.2016


Seit drei Monaten habe ich mich auf diesen Abend gefreut. Eine meiner allerliebsten Bands des Thrash Metal spielen eine Clubshow im schönen und außerdem schön gelegenen Aschaffenburger Colos-Saal, und dann auch noch im Sommer. Hinzu kommt, dass die Herzallerliebste, als ich sie wie immer vor Konzerten fragte, ob sie denn mitkommen möchte, dieses Mal nicht - wie sonst - umgehend in schallendes Gelächter ausbrach, sondern tatsächlich gegen ein kleines...äh..."Entgegegenkommen" meinerseits zusagte und also mit mir in ein Thrash Metal-Konzert ging und nicht nur das: auch noch über die gesamte Spielzeit am Rande des Moshpits stand. 

Now, how fucking cool is that?





Alles, also so wirklich alles daran schreit nach einem legendären Abend.

Einen solch erlebte ich auch schon im Sommer 2009, als ich extra für die Band nach München fuhr, um sie nach 1991 zum zweiten Mal live zu sehen. Sacred Reich und vor allem ihr Album "The American Way" aus dem Jahr 1990 waren in meiner Blütezeit als Thrash Metal-Fan eine der wichtigsten Bands überhaupt für mich: sie hatten schlaue, gesellschafts- und staatskritische Texte, sangen gegen Umweltverschmutzung, Ignoranz, Rassismus und vor allem gegen den Tunnelblick auch in ihrer eigenen Komfortzone, der Metalszene. Und sie gaben keinen Fick auf das Geheul der Betonköpfe, die entweder keinerlei Politik in ihrem "unpolitischen Metal" duldeten, oder die alles, was keine Doublebass und langen Haare hatte, am liebsten unter den nächsten vorbeifahrenden Bus geschmissen hätten. Sacred Reich waren immer die etwas andere Metal Band.

Das bewiesen sie auch beim Aschaffenburger Konzert am vergangenen Donnerstag. Das Quartett aus dem US-amerikanischen Backofenstaat Arizona, übrigens seit fast dreißig Jahren im gleichen Line-Up zusammen (ausgenommen ein vergleichsweise kurzes Intermezzo mit dem heutigen Machine Head-Trommler Dave McClain, der Originaldrummer Greg Hall kurzzeitig ersetzte), hat längst die Souveränität und Gelassenheit einer Band, die niemandem mehr etwas beweisen muss - und der man das nicht nur anhört, sondern auch ansieht. Vor allem Sympathiebolzen Phil Rind hat über die kompletten knapp 80 Minuten Spielzeit ein Grinsen ins Gesicht getackert, Gitarrist Wiley ist spätestens nach seinen tiefen Zügen aus einem angereichten Joint endgültig ultramegaokay, Jason gibt hauptamtlich den "grumpy Gartenzwerg" auf der rechten Bühnenseite, lässt sich aber hier und da von den euphorischen Reaktionen der 300 Zuschauer zu einem Lächeln hinreißen. Keine aufgesetzte Härte, kein Machoscheißdreck, keine gespielte Bösartigkeit - die vier Typen, die seit ihrer Reunion etwa alle zwei Jahre nach Europa reisen, um ein paar Sommerfestivals und einige handverlesene Clubshows zu spielen, haben ehrlichen und aufrichtigen Spaß an dem, was sie tun. Phil kommt aus den Lobpreisungen und Danksagungen ans Publikum dann auch gar nicht mehr heraus, und just als man sich beim Gedanken ertappt, dass er es jetzt aber wirklich übertreibt, merkt man, dass ihm das unmöglich anzulasten ist: der meint das wirklich genau so. 


"We flew from the fucking desert in Arizona to a place like fucking Aschaffenburg und you guys show up to our show and you are just fucking awesome. Do you realize how crazy that is? Wow."

Nach den ersten vier Songs "The American Way", als Opener immer noch unschlagbar, "Administrative Decisions" und "Death Squad" vom Debut "Ignorance" und dem überraschend in der Setlist auftauchenden "Free" vom 1993er "Independent"-Album, nimmt sich Phil zum ersten Mal fünf Minuten für eine längere Ansage, die darin gipfelt, dass wir alle mehr Liebe und Umarmungen brauchen - also fordert er die Zuschauer dazu auf, sich gegenseitig in die Arme zu nehmen. Und es klappt: der mit bösen, bösen Metallern vollgepackte Colos-Saal liegt sich kollektiv in den Armen und moshte sich direkt im Anschluss mit "One Nation" wieder zurück in den Gig. Sowas habe ich auch noch nicht erlebt. 





Die Setlist überraschte darüber hinaus mit zwei Tracks des von so manchen Fans völlig unberechtigterweise verschmähten "Heal"-Albums aus dem Jahr 1995 - der Opener "Blue Suit, Brown Shirt" und der alles weggroovende und außerdem total fantastische Titeltrack, bot ansonsten das bekannte Programm aus den vielen Klassikern der Truppe: "Crimes Against Humanity", "Ignorance", "Who's To Blame", "Independent", "Love...Hate", das unvermeidliche "Surf Nicaragua" und natürlich  "War Pigs", allesamt arschtight und mit viel Spielfreude auf Champions League-Niveau runtergeholzt. 

Ein brillianter Gig einer der angenehmsten und immer noch besten Livebands aller Zeiten, die übrigens alle Anfragen nach einer neuen Platte seit ihrer Reunion im Jahr 2007 gelassen abblockt. Phil Rind sagt dazu, dass er einerseits nicht daran glaubt, die Truppe könne qualitativ an ihr Klassikererbe anknüpfen, und er es andererseits auch bezweifelt, dass die Fans _WIRKLICH_ neue Musik von ihnen hören wollten; die Frage danach erscheine ihm eher als üblicher Reflex, weil es sich eben so gehöre - aber die Welt habe die letzten 21 Jahre auch ohne ein neues Album von Sacred Reich überstanden. Ich empfinde diese Ehrlichkeit auch in dieser Frage als ausgesprochen wohltuend.

Ich hoffe, dass sie ihr Programm so noch für eine lange Zeit durchziehen können. Eine Metalszene ohne Sacred Reich möchte ich mir nicht vorstellen.






23.07.2016

Urlaub in Ozeanien



OLDTWIG - SEASIDE PT.1


Es gab in den letzten Wochen in der Casa Troispointquatrezero eine außergewöhnliche Dichte an herausragender Musik zu beklatschen, die sowohl trauriger-, als auch überraschenderweise nicht auf Vinyl erhältlich war und wohl auch künftig nicht sein wird. 

Bandcamp mausert sich in diesem Zusammenhang immer mehr zu einem echten Entdeckungsoverkillportal - und nicht nur das: bisweilen ist es tatsächlich die einzige Quelle, um überhaupt an bestimmte Musik heranzukommen. Zumindest dann, wenn sich das Gewissen beim Klick auf den "Kaufen"-Knopf bei Amazon sträubt, oder wenn es andererseits ein gutes Gefühl gibt, die Musiker und Labels direkt zu unterstützen, anstatt eine aufgeblasenen Kette von Vertrieb, Logistik und Marketingsfuzzis durchzufüttern.

"Seaside (Part 1)" ist das zweite Album des in Paris lebenden Produzenten Oldtwig und stellt eine Ode an den Ozean dar; ein auf zwei Alben, 12 Tracks und exakt 60 Minuten angelegtes Projekt, das auf dem ersten Teil sechs Stücke präsentiert, die sich stilistisch zwischen Downbeat, (instrumentalem) Hip Hop und moderner Klassik platzieren und sich darüber hinaus atmosphärisch in einem angegrauten hellblau mit Trockenblumenromantik bewegen. Durch die vor allem im eröffnenden Titeltrack jazzig-angekratzten Beats und die melancholisch schleifenden Streichereinsätze, oder auch die Akustikgitarre im Slowmo-Schunkler "Dunes" freue ich mich tatsächlich ein kleines bisschen auf den Herbst, auf eingekuschelte Sonntagnachmittage und auf diesig-trübes Mistwetter. Also eigentlich gar nicht so weit von dem entfernt, was wir hier seit Mitte April haben. Vielleicht schlägt "Seaside" auch deswegen die genau richtigen Saiten an. 

Wenn wir von Bonobos ruhigeren Momenten den trotzigen Willen zur Tanzbarkeit abziehen und stattdessen mit Herbstlaub und frisch gebrühtem Earl Grey überschütten und wie in "Hourglass" ein Saxofon und den sehnsüchtigen Klang einer Klarinette mit auf die Novemberdepressionscouch holen...ich mach' schon mal die Kerzen an.





Erschienen auf DLoaw, 2016.


20.07.2016

Keep It A Secret




KAYO - A THOUSAND MONTHS


Warum ist der Mann so dermaßen unter offenbar jedem Radar? Warum verkauft sich diese Platte wenigstens bei den üblichen Verdächtigen nicht wie geschnittenes Klopapier? Und warum ist jeder Schrott nach dreikommaviernull Sekunden ausverkauft und nur noch für Fantastrilliarden Euro bei den Discogs-Blutsaugern zu erhalten, wenn dieses Album immer noch zu haben ist?

Ich kann mich davon gleichfalls nicht hundertprozentig davon freisprechen, ab und an die Augen und Ohren etwas zu arg  geschlossen zu halten, denn obwohl ich den französischen Produzenten seit seinem Tribut an Gil Scott Heron aus dem Jahr 2013 in meinem schlauen, wenngleich nur virtuellen Buch in der Rubrik "Artists 2 Watch" stehen habe, verschlief ich die Veröffentlichung von "A Thousand Months" im Herbst/Winter des vergangenen Jahres um ein paar Wochen. Allerdings, soviel Rechtfertigung muss erlaubt sein: ich nutze auch nicht die üblichen Kanäle, um immer und überall auf dem Laufenden zu sein. 

"A Thousand Months" ist ein wunderbar stilvolles Album in der Schnittmenge zwischen smoothem, unaufgeregtem Hip Hop, urbanem Soul - Paradebeispiel für ebenjene Kombination ist der Hit "Words & Language" - und vereinzelten Downbeatblitzen wie beispielsweise in "Tunis Blues Song / Ariana’s Memories". Modern und geschmackvoll inszeniert und niemals ärgerlich maskulin - viel eher klingt Kayos Musik sensibel und überlegt - ist "A Thousand Months" ein Dauerbrenner im Hause Dreikommaviernull. Seitdem ich die Platte im Januar 2016 kaufte, hat sie praktisch nie den Weg ins Plattenregal und damit zum Verstauben gefunden, sondern steht immer griffbereit in der Nähe des Plattenspielers. Wochenendbrunch mit der Herzallerliebsten? Check! Zweiter oder zwölfter Kaffee auf der Couch? Check! Winterabend bei Kerzenschein? Check! Frühlingsabend auf der Terrasse? Doppelcheck! 

Dazu ist die Vinylversion mit Gatefoldcover, auf der Innenseite abgedruckten Texten und dem schicken Clear Vinyl ein echter Hingucker, zudem für schlappe 14 Euro auf seiner Bandcamp Page zu haben. Und nochmal: Warum ist das kein fucking Bestseller? 





Erschienen auf Albatros Music, 2015.


P.S.: In den Liner Notes steht geschrieben, dass man, wolle man die digitale Version von "A Thousand Months" sein Eigen nennen, Kayo ein Bild von sich zusammen mit der LP zuschicken soll. Womit nun auch geklärt ist, was dieser bärtige Mann da oben so lustig in die Kamera schielt.