09.03.2021

Best of 2020 ° Platz 10 ° Bob Mould - Blue Hearts



BOB MOULD - BLUE HEARTS

Goodbye my friends
Goodbye to the money
Adieu to the fuckers that think that it's funny
I just want to turn the lights on
In these volatile times
(IAMX)


Ich darf vorstellen, Bob Mould, Weltkulturerbe. Seit 40 Jahren schreibt niemand sonst solche Songs. Keine andere Gitarre, keine andere Stimme klingt wie seine. Wer würde es angesichts dieser Karriere wagen, nicht alle Hüte zu ziehen?

Ich war zu jung, um Hüsker Dü mitzuerleben, aber ich kam gerade richtig für Sugars "Copper Blue": diese seltsame Mischung aus Melodie und Monotonie, Pop und Punk wurde für mich zu einem der einflussreichsten Alben der 1990er Jahre. Ich lernte viel von dieser Platte. Vielleicht war es für einen, der sich lange im Heavy Metal herumtrieb und seit ein paar Monaten im völlig besinnungslosen Grunge-Fieber war, auch eine der ersten Platten, die sich "Indie" anfühlte. Ich verlor danach Mould für sehr lange Zeit aus den Augen. Erst 2016 mit dem Album "Patch The Sky" stieg ich wieder ein und es gehört zu den eher unverzeihlichen Fehlern dieses Blogs, bislang noch kein Wort darüber verloren zu haben, denn "Patch The Sky" war Türöffner und Auferstehung zugleich: nicht nur verpasse ich seitdem kein neues Album mehr, ich habe auch die Sammlung mit früheren Werken aufgefüllt. Ab dem 2012 erschienenen und sowohl von Fans als auch Kritik gleichermaßen gefeierten "Silver Age" nagelt mir der Mann im Prinzip ausschließlich Hochklassiges auf den Plattenspieler. Für meine Begriffe liegt das nicht zuletzt an seiner Band: Jason Narducy am Bass und Monstertrommler John Wurster am Schlagzeug haben genügend Drive und Punch, um auch manchmal Schaumgebremstes mit Wucht und Spielfreude über die Ziellinie zu kicken, wenn es notwendig ist.

"Blue Hearts" ist Moulds 13.Soloalbum und es ist eines seiner Zornigsten. Trump, Umweltverschmutzung, Rassismus, Republikaner, Scheinheiligkeit, Fanatismus - Mould hat die Schnauze voll, er schreit, er bebt, er tobt. Mit zitternder Stimme singt er in der Einleitung "I wear my heart on my sleeve, don't know who to believe any more". Alles muss raus. Und es geht wortwörtlich Schlag auf Schlag: die Band macht zwischen den Songs praktisch keine Pause. Ein brillanter Pop-Indie-Alternative-Punk-Smash-Hit nach dem anderen batscht mir auf die heruntergeklappte Kinnlade, dazu gibt's die so heiß geliebten Momente der Tiefe wie in "Forecast Of Rain" oder "Password To My Soul", die in dieser Form wirklich nur Bob Mould und seine Band spielen können. Alleine in einem Gitarrenanschlag stecken mindestens dreikommaviernull Millionen Universen an Farben, Tönen, Perspektiven und Emotionen. 

Wenn mir der Trump'sche Irre aus dem Weißen Haus oder die Nazis der AFD und ihre lobotomierten Sackgesichter auf Social Media zu nahe auf die Pelle rücken und mir das Hirn verklebten: "Blue Hearts" war ein hervorragend funktionierendes Antidot.


   



Erschienen auf Merge Records, 2020. 


06.03.2021

Best of 2020 ° Platz 11 ° Downscope - Nature's Canvas III




DOWNSCOPE - NATURE'S CANVAS III

Bring me the snowfall, bring me the cold wind, bring me the winter
(New Model Army)


Downscope macht es mir mit meiner Begeisterung über seine Musik nicht leicht. Der in Washington DC lebende Künstler hat seit Jahren einen Ausstoß an neuer Musik, der mich völlig überwältigt und selbst, wenn ich alles hören wollte, was er produziert und veröffentlicht, ginge es erstens meinem sowieso schon unterirdisch miesen Zeitmanagement und zweitens meinem Konto an den Kragen: seine Bandcamp-Diskografie listet bis Mitte Februar 2021 sage und schreibe 134 Releases, die man zum bereits um 40% reduzierten Preis von knapp 600 Euro in der Komplettsammlung kaufen kann. Hinzu kommen ausgewählte physische Varianten mit zwischen 5 und maximal 30 Exemplaren pendelnden sehr kleinen Auflagen aus vermutlich eigenhändig hergestellten Tapes und CDs. Maximum DIY. Engage. 

Meine erste Begegnung mit seiner Musik fand im vergangenen Sommer mit "Drifting Forward" statt, einer Art Minimal Dub Techno mit überlangen, an seidener Monotonie aufgehängten Tracks für stylisch-urbane Architekten mit Hang zum narkotisierendem Opiumrausch. Und weil ich das Album im Corona-Sommer nicht nur so ausgiebig hörte, sondern dessen beruhigende Qualitäten auch bis heute im Corona-Winter 2.0 sehr zu schätzen weiß, war die Nominierung für die Top 20 Liste im Grunde nur noch Formsache. Aber dann kam "Nature's Canvas III", Bestandteil einer kuratierten Edition von über 5 Stunden Musik: 

"Over five hours of softly rhythmic, ambient dub techno scores for your enjoyment. These pieces were composed as a tribute to mother nature’s lament, smothered by humanity." 

Ich kann mich der Faszination dieses 72-minütigen Herzschlags der Natur nicht entziehen. 

Wer noch nicht im Wachkoma vor sich hin- und also wegdämmert, erinnert sich möglicherweise an meine vor wenigen Wochen hier kurz niedergeschriebene Erzählung von dem gemeinsamen Urlaub mit der Herzallerliebsten und dem plüschigen Fellmonster im norddeutschen Niemandsland. Nach einem Tag am eisigkalten Strand mit Sturmböen und wie Bindfäden herunterfallenden Regens, war "Nature's Canvas III" der Soundtrack zur abendlichen Sauna-Sause, inklusive einer außerkörperlichen Erfahrung zwischen Wach und Schlaf, als dieser stoisch dahinschlurfende Puls das Steuer zu übernehmen schien und mich auf Händen durch Raum und Zeit trug. Er führte mich durch jene Zwischenwelt, die das Bewusste vom Unbewussten trennt, das Erleben vom Ertragen, die Hoffnung von der Aufgabe - und begann nach einiger Zeit damit, die Grenzen einzureißen: die im Inneren amalgamieren, die im Außen expandieren. Schnittstellen werden zu Verläufen, einstige Barrieren werden durchlässig, porös; sie werden zu Filtern, schwingen und vibrieren und adaptieren die neue Ordnung der Unordnung. Es sind diese kurzen und überaus raren Momente des Lebens, in denen Wahrheit und Bestimmung in einem Sekundenbruchteil zu Gestalt werden, sie sich zu einer Formation zusammenfinden, die das Chaos überwindet.

Es spielt keine Rolle, dass sich die Struktur umgehend verflüchtigt. Das Wissen von ihrer Existenz ist mir genug.


   



Self released, 2020.



27.02.2021

Best of 2020 ° Platz 12 ° Quiet Places - Volume 1




QUIET PLACES - VOLUME 1

Flossing gums, then licking bottoms
(Thought Industry)


Okay! Hör' zu! Du hast LSD genommen und stehst in einem Spiegel-Irrgarten. Die Hosen voll (literally!), der Kopf halbleer, die Pfanne mit den Rühreiern: in Flammen. Du bist seit 5 Tagen wach, tripping your fucking ass off. Eier wärn's jetzt, aber vegane, ohne Tierleid. This is your brain on drugs - gelungene und vor allem erfolgreiche Initiativen gegen Drogenkonsum, die dreihundertvierzigste. Schnitt, dann voller Zoom auf die virilen Schmalspurrocker von Placebo. Anruf beim Dealer. Hochdosis, bitteschön. 

Kein Mensch weiß, wo das alles anfing. Der junge Inuk, den ich heute Vormittag beim Rennrodelnachmittag in Oberkassel getroffen hatte, hat mir eben gerade noch sein Einfamilienhaus gezeigt, ein prachtvolles Etablissement aus getrockneten Fettaugen am Rande der Tundra, mit so kleinen Schaschlikspießchen und Zahnstochern, hihi, wie klein die waren! Dann hat er mir frisch gemolkenes Walfett angeboten (mit Maggi; der Kapitalismus schreckt einfach vor nichts zurück!) und im nächsten Augenblick sank ich hinab auf den Meeresboden. Ich glaube, mit dem Maggi war was nicht in Ordnung, seit wann ist die Brühe denn auch bitte grün? Jedenfalls: Wer immer noch behauptet es gäbe keine Außerirdischen, war noch nie vollverstrahlt 8000 Meter unter dem Meer. Manchmal blinkt es einfach nur. Alles. Das flackert alles. Von wegen Dunkelheit, "ist doch taghell" (B.Spencer) - man darf einfach keinen Meeresbiologen glauben, ich sag's seit Jahren, Jacques Sielmann, Heinz Cousteau, die wissen ja auch nichts. Und woher auch?! Haben sie schonmal einen Meeresbiologen gesehen, der sich auf LSD in die Hosen gekackt und mit zerfransten Schwebewürsten aus Alienhausen eine spirituelle Verbindung über eine Außenbeleuchtungs...äh...girlande von Tchibo (9,99€, "für ihren Post-Corona-Gangbang in ihrem wunderschönen Garten") etabliert hat? Blink, blink, blink. Blinkblinkblinkblink. Na?! Naaaa?! Glaubt denen bloß nicht. Hier tobt Captain Picards Unterhose mit sechs Milliarden Jahren altem Amöbenschleim durch die Warp-Spulen! 

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Die Nase blutet, aber gut - ich bin jetzt schon stundenlang gegen diese verfickten Spiegelwände gelaufen. Sehe aus wie dieser Andrew W.K. damals. Ob der sich wohl wirklich auf die fiese Fresse gelegt hat? Oder wurde der etwa...GESCHMINKT?! Ist auch so scheiße hell hier. Ich hasse Helligkeit. Wenn's nach mir ginge, und es geht praktisch nie nach mir, verbringe ich mein Leben im Dämmerzustand, sowohl mental, als auch hinsichtlich meiner Rolladenwahl (schwarzes Blei, wattiert). Helle und kalte Wintertage sind die Höchststrafe. Wenn man mich foltern will, schickt man mich am besten an einem Sonntagmittag bei -5°C und Tschernobyl-Nachglüh-Gedächtnissonnenschein auf ein offenes Feld und lässt mich da einfach inmitten der sehr guten Pflanze Qungilik rumstehen. Arschkalt, scheißhell - aber geile Pflanzenproteine "zwischen die Kiemen" (Manfred Krug) schieben! 

"It's the quietest place." - und Muh macht die Kuh. 

Apropos Kuh: Ich habe eben Bill Drummond und Jimmy Cauta gesehen. Tragen nun auch Vollbärte (untenrum), sagen, 1990 sei die beste Zeit für "Porn" (Mike Pence) gewesen; ich glaube, wegen Bush - hab's aber nicht genau verstanden, die beiden sakrilegen Sackgesichter haben Kühe umgeschubst und das dann irgendwie fotografiert, mit einer Schuhschachtel, oder so. Das war dann auch zu laut, die haben die ganze Zeit mit dem Dean Jones am Telefon rumgestritten und dabei rumgebrüllt, sorry, hab's einfach nicht gehört. War aber auch zu hell. Kennt das eigentlich sonst noch jemand, dass man die Musik leiser dreht, um besser zu sehen? Was ist da eigentlich genau kaputt, weiß man da schon mehr? Sollen ja einen launigen Humor gehabt haben, Drummond und Cauta. Eigentlich kam da ja schon lange nix mehr ran, an diese Platte mit den Kühen. Die hatten sich bestimmt auch früher Maggi reingechillt und danach in die Hosen geschissen. Ich hoffe, es geht ihnen gut.

Heute bleibt die Küche kalt
Gerutscht wird auf den Fliesen
Magnesia ist des Turners Kalk
hätt' ich jetzt gern frische Hosen (zum Genießen)
(Christian von der Morgenlatte, um 1776)


(Das trippigste Album des Jahres. Ich empfehle vehement, sich den einstündigen Album-Mix einzuflößen. Und weil ich auch einen launigen Humor habe, manchmal, stelle ich mir jetzt mal vor, wie jemand den ganzen Quatsch hier in den Google-Translator reinhaut. LOL!)


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2020 



25.02.2021

Best of 2020 ° Platz 13 ° 36 & zakè - Stasis Sounds For Long​-​Distance Space Travel




36 & zakè - STASIS SOUNDS FOR LONG-DISTANCE SPACE TRAVEL

"Just sitting around waiting for this world to end."
(JUD)


Covid-Lockdown-Soundtrack, Teil 1: als im März des letzten Jahres die Situation erstmals so richtig ungemütlich wurde, die Angst das Zepter in die Hand nahm und plötzlich alles aus den Fugen zu laufen schien, war ich emotional in keinem guten Zustand. An meiner eigenen, konkreten Lebensrealität gab es nur wenige wirklich spürbare Veränderungen, aber es machte den Eindruck, als würden die Ängste und Sorgen eines ganzen Landes sich mit den meinen verbinden - und alles wurde gleichzeitig größer und dunkler und unberechenbarer. Die Dynamik aus den Anfangstagen dessen, was gemeinhin unter dem Begriff  "Lockdown" bezeichnet wurde, zusammen mit den minütlich auf allen Kanälen abgefeuerten Informationen, sowie die daraus stets wahrnehmbare Verunsicherung, empfand ich als äußerst unangenehm. Mich beeindruckte das sehr, seelisch wie körperlich. 

"Stasis Sounds For Long​-​Distance Space Travel" war (und ist) Klang gewordener Balsam in jener Zeit und es hat den Anschein, als sei diese Musik für genau solche Situationen gemacht worden. Der ursprüngliche Gedanke des Albums, "intended for the listener to embrace moments of stillness, quietude and reflection", neben einem Sci-Fi-Plot mit der Idee der künstlichen Stase, einem Schlafzustand, in dem man sich durch Raum und Zeit bewegt, ohne Raum und Zeit wahrzunehmen, morphte mit der Angst, sich künftig mit den guten Gästehandtüchern den Hintern abzuwischen, denn die kapitalistische Entsolidarisierung macht eben auch vor Scheißhauspapier nicht Halt, in ein kosmisches Hintergrundrauschen, das beruhigte und die Reise ins Innere, "die Reise ans Ende des Verstandes - für viele von uns nur ein Kurzausflug" (Schmidt) tatsächlich mit Zuversicht und Trost untermalen konnte. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich das verstand - die kaum wahrnehmbare Schwingung, die minimalistische Dehnung in dieser Musik erscheinen zunächst blass, geglättet, sie fordern prima vista auch keine Emotionalität heraus. Erst über die Zeit erkannte ich die Tiefe in der Repetition, die Zuflucht in der Dürre, die Innigkeit des Nichts. 

Es ist überaus bemerkenswert, wie viel Macht Musik haben kann.


   


Erschienen auf Past Inside The Present, 2020. 

21.02.2021

Best of 2020 ° Platz 14 ° GOLD - Recession




GOLD - RECESSION

Your shell is hollow, so am I
The rest will follow, so will I
(Neurosis)


Das letzte Konzert vor dem Virus. Ende Januar 2020 stand ich mit etwa 50 anderen Menschen im erschütternd leeren Colos-Saal in Aschaffenburg und ließ mir von GOLD Blutdruck und Herzfrequenz auf Stufe 11 drehen. Keine Ansagen, keine Zugaben - einfach nur auf die Bühne gehen, alles, aber auch wirklich alles supertight abreißen, und wieder gehen. Ich weiß noch, dass ich nach diesen 60 Minuten völlig euphorisiert und unangenehm laut "So macht man das! Genau so macht man das! NUR SO! EXAKT! GENAU! FUCKING! SO! MACHT! MAN! DAS!" rief und beim anschließenden Merch-Irrsinn sehr eindringlich auf Gitarrist Thomas Sciarone einredete, die Band möge sich bitte von der spärlichen Kulisse und dem fehlenden Zuspruch, dem quantitativen zumal, nicht beeindrucken lassen und für immer weitermachen - und dass, obwohl ich mich mit vermeintlich unangebrachten Reaktion gegenüber Musikern in der Regel sehr zurückhalte, weil ich diesen (und allen anderen) Menschen wirklich nicht auf den Sack gehen will. 

GOLD hatten für 2020 einen gut gefüllten Tourkalender. Die Corona-Zwangspause wurde mit nicht weniger als drei Veröffentlichungen überbrückt, die zunächst digital über ihre Bandcamp-Seite, später im Herbst als Sammelband unter dem Titel "Recession" auf Dreifach-Vinyl erschienen: "The Isolation Sessions", ein Live-Mitschnitt aus dem April 2020 eröffnete den Reigen, gefolgt von den intimen, nur von Sängerin Milena Eva und Thomas Sciarone aufgeführten "The Bedroom Sessions" im Juni und einer Zusammenstellung bislang unveröffentlichter Songs und Demoversionen unter dem Titel "The Archive Sessions" einen Monat später. 

Es war bereits bei dem immer noch aktuellen Studioalbum "Why Are You Not Laughing?" erkennbar, und ich muss es auch angesichts der Sammlung auf "Recession" wiederholen: das Aufregendste beim Eintauchen in den Kosmos von GOLD ist die Offenlegung der zu ihrem Selbstverständnis gehörenden bedingungslosen Verletzbarkeit und der gleichzeitig daraus erwachsenden Kraft - beides elementare Bestandteile ihrer Musik, ihrer Texte und ihres ganzen Auftretens. Es ist jene Ambivalenz, die diese Band so besonders macht und die sie mittlerweile so selbstbewusst und intensiv wirken lässt. Ihre Ideale und Überzeugungen zeigen sich dabei so tosend wie der sich entfesselt aufbauende Orkan aus den so dürr und nervös klirrenden Gitarren und den hypnotischen Schlagzeugfiguren mit Sängerin Milena Eva als Zeremonienmeisterin im Auge des Sturms: so karg und kühl ihr Vortrag an der Oberfläche erscheint, so unerschrocken kompromisslos und unmissverständlich ist ihre Botschaft von "individual empowerment", wenn sie von toxischer Maskulinität singt, von Unterdrückung, von ritualisierten und zementierten Geschlechterrollen, von Verlust, von Depression.  

Die Durchschlagskraft dieser Idee, diesem alles zusammenhaltenden Netz aus Worten und Tönen, dieser Aura von Klarheit und Mut, zeigt sich in jeder Sekunde der drei Eingangs erwähnten Alben, und dabei ist es egal, wie intim, spröde, fiebrig oder überspannt das Flackern ihrer Musik ist. 

Vielleicht die faszinierendste Band, die Rockmusik gerade zu bieten hat.

   


Self-Released, 2020. 


 

15.02.2021

Best of 2020 ° Platz 15 ° bvdub - Ten Times The World Lied



BVDUB - TEN TIMES THE WORLD LIED

It's been so long, it's been so long
(June Of 44)


Mit "Ten Times The World Lied" geht es für knapp 80 Minuten in einen emotionalen Floating Tank. Alle Stressattacken, der Kampf mit der Schwerkraft, Reize wie Temperatur, Lärm und Licht sind perdu. 

In einem Meer aus Ideen und Gefühlen in seiner Musik sind es die außergewöhnlichen kreativen Erfindungen Brock van Weys, die seine Kunst manchmal in einen Bereich katapultieren können, in dem selbst für die ganz Großen die Luft ganz allmählich dünn wird. Das herzzerreißend Sakrale von "The Art Of Dying Alone", die Wucht und Dringlichkeit von "Home", die Selbstisolierung von "Heartless" oder die insomnische Bedrücktheit von "Nights Of Nine Vigils", sowieso eines seiner besten Alben in den letzten zehn Jahren; ein absoluter Skandal, dass ich bislang noch nichts darüber geschrieben habe, brachten mich oft beinahe um den Verstand, ließen mich fliegen, lachen, weinen, frösteln, beben. 

"Ten Times The World Lied" hat sich in über das vergangene Jahr an diese Gruppe angenähert: seit April hat es den CD-Wechsler nicht mehr verlassen und immer, wenn ich das Album hörte, ging mir die Ambiance dieser zehn Tracks ein Stückchen mehr unter die Haut. Mal scharf und grobkörnig verzerrt, mal vernebelt in tiefer Trauer, zaudernd, zweifelnd, auch elegischer als zuletzt, spiegelt dieser immer noch so unnachahmliche Klang mein Inneres, all diese Zerwürfnisse und all diese Verbundenheit, meine Ambivalenz zwischen tief empfundener Lebenslust und sinist'rer Agonie, wie vielleicht nichts anderes. 

Und mit jedem in Schwermut getränkten Pinselstrich erscheint ein Glitzern: die Hoffnung, der Glaube, die Liebe. 

"This album was recorded live in one take, over ten months, on the tenth of each month. Each in memory of a time the world lied." (bvdub)


 



Erschienen auf Glacial Movements, 2020.



13.02.2021

Best of 2020 ° Platz 16 ° Ignacio Tardieu - Shadow Dancer



IGNACIO TARDIEU - SHADOW DANCER

The flat earth society is meeting here today
Singing happy little lies
(Bad Religion)


Dieser aurale Zaubertrank führt Dich in ein unterirdisches Labyrinth mit 52°C Kerntemperatur und einer Luftfeuchtigkeit von 340%. Hypnose. Dunst. Freiheit. Sex. Der Bass schon beim ersten Schritt so tief, das Zwerchfell wird zum Trampolin. Die Orientierung ist außer Funktion. Roter Alarm. 

"Shadow Dancer" ist ein geheimnisvoller Ort. Ebene um Ebene verschluckt es jeden in dieser kilometertief in die Erde gebauten Welt, saugt alles ein, lässt nichts mehr los. Freaks huschen durch schmale, nur von einzelnen Fackeln schwach illuminierten Gänge, es riecht nach verbranntem Holz. An den aufgerauten, porösen Steinwänden flackern tanzende Schatten. Vielleicht schanzen auch tackernde Flatten. Ihre Körper sind unsichtbar, nur ihre Silhouetten bewegen sich zu den tribal-artigen, nie enden wollenden Schlägen und Rhythmen. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich...

...die Welt ist weit weg. Tageslicht hat hier unten niemand gesehen. Schon seit Wochen nicht. Oder waren es Jahre?

BANDCAMP


 


Erschienen auf Odrex Music, 2020. 

07.02.2021

Best of 2020 ° Platz 17 ° nthng - Hypnotherapy




NTHNG - HYPNOTHERAPY

So I'ma build a bunker now
In the underground, surviving with that other sound
(Oddisee)


Techno hat's unter Corona vielleicht so hart getroffen wie kein anderes Genre, denn das, was unter normalen Umständen in den Clubs dieser Welt gespielt wird, ist auch genau für diesen Ort produziert worden. Elektronische Tanzmusik ist zum, Achtung, festhalten: Tanzen gemacht, im besten Fall in einer Gemeinschaft, in einem dunklen, heißen, feuchten Raum; die Hände zum Himmel, Koks von der Klobrille, Herpes vom Mojito, geiles Leben, Feierei. Aber was macht man eigentlich mit Techno, wenn niemand mehr tanzt? 

Na logo: man verwächst zu Hause mit der Couch, baut sich ein Rohrpost-System zum Kühlschrank und legt das ungeliebte Techno-Album auf. Autoren-Techno. Prätentiöser Kackmist, wer will sowas denn hören? Elfmeter ohne Tormann: sicherlich sehr viel mehr, wenn es denn nur mehr richtig gute Platten gäbe. 

nthng kann es jedenfalls. Hat er 2015 mit dem Debut "It Never Ends" auf Lobster Theremin bewiesen, einem konzeptionell überraschend stringent arrangierten, motivischen Album. Seitdem gab es vom niederländischen DJ und Produzenten eine Handvoll 12-Inches (u.a. auf Mörk und Delsin) und nun im Corona-Scheißjahr 2020 mit einem extrem miesen Timing die zweite Sammlung "Hypnotherapy". Eine Tour zum Album kann man sich schön in die Haare schmieren, hinzu kam ein Leak bereits Wochen vor dem offiziellen Release. Wie's so geht? NA, EXZELLENT!

"Hypnotherapy" lebt weniger vom Konzept, ich mag darüber hinaus bezweifeln, dass es überhaupt eines gab, als von erstens: einer unglaublichen stilistischen Bandbreite, zweitens: sehr, sehr starken Einzelsongs und drittens einer über dieser Platte schwebenden Leichtigkeit und Freiheit. Und wenn drittens das Konzept ist: bon, approuvé!

Vom luftigen, von skurrilen "Many Men (Wish Death)"-Sprachsamples durchzogenen und damit die Atmosphäre brechenden Ambient-Einstieg "50 Flower" über Trance-Strahlemänner wie den absoluten Höhepunkt "Heifft" mit seinem halsbrecherischem Tempo, straighten Hits wie "I Just Am" (mit Whitney Houston-Sample) und dem funkelnden "Spirit Of Ecstasy" oder den New Age streifenden Titeltrack mit flächig-bebendem Finale bis hin zum Ambient in "Beautiful Love" und dem weich und entrückt wegdämmernden Abschluss "With You" hat das Album durchgängig Stil, Eleganz und Klasse. Jeder Track ein Hit - und alles funktioniert bestens in den eigenen vier Wänden. 

Liegend - oder zappelnd.

--

Pressung: Vielleicht die ärgerlichste Pressung des Jahres 2020. Die beiden großartigen, subtilen Ambienttracks "Beautiful Love" und ganz besonders "With You" sind ohne Tobsuchtsanfall praktisch nicht zu hören. Ich weiß nicht, wie es mit der schwarzen Vinylversion ausschaut, aber es würde mich schwer wundern, wenn die problemfrei liefe. Abhorrent. (+)

Ausstattung: Die reine Optik der colorierten Version ist zum Dahinschmelzen. Keine gefütterten Innenhüllen, kein Downloadcode. Bei Bandcamp kostet der digitale Download nochmal satte 10 Pfund. (++)


   


Erschienen auf Lobster Theremin, 2020. 


03.02.2021

Best Of 2020 ° Platz 18 ° The Vision Reels - Eyes Open



THE VISION REELS - EYES OPEN

The planet is fine.
The people are fucked. 
(George Carlin)


2020 hätte viel verdient gehabt, zum Beispiel eine vorbehaltlose und uneingeschränkte Selbstauflösung ab sagen wir mal April. Darüber hinaus: eine eigene Digital-Best Of-Liste. Ich habe noch nie soviel digitale Musik gekauft und gehört wie 2020 auf Bandcamp, und die ab März regelmäßig durchgeführten sogenannten Bandcamp-Fridays zur Unterstützung der von Corona und der daraus resultierenden Komplettabschaltung jedes Kulturbetriebs ordentlich durchgeschüttelten Künstler und Labels, haben daran sicherlich einen sehr großen Anteil gehabt. "Eyes Open" von The Vision Reels (aka Adam O'Hara, u.a. Gründer von Groundwork Recordings) rutschte in letzter Minute in meine Top 20, und ist damit auch das einzige Album meines kleinen Countdowns, das nur im digitalen Format verfügbar ist. Das ist ungewöhnlich, weil ich eigentlich vorhatte, solche Formate künftig nicht mehr in Betracht zu ziehen; man sieht mir meine Quatschhaltung in dieser Sache bitte nach. Mein musikalisches Leben und die daran angebundenen Lebenslinien drehen sich nun mal in erster Linie um Schallplatten als künstlerisches Ausdrucksmittel, daher geht es in mir in erster Linie um die Abbildung ebenjener. Manchmal komme ich aber trotz solch prätentiöser Totalverbretterung nicht drum herum - wie eben bei und für "Eyes Open". 

Ich weiß praktisch nichts über Adam O'Hara oder dieses Album. Es war ein ziemlicher Zufallstreffer auf Bandcamp, vermutlich stolperte stöberte ich durch eine Sammlung eines anderes Nutzers und wurde vom tollen, an Astral Industries-Artworks angelehnten Cover (Dima Rabik) angezogen. Und Anziehung ist das Schlüsselwort für "Eyes Open". Ganz egal, wie viel mir wegen Lohnarbeit, Haustier, Corona und geradezu Tonnen anderer Musik um die Ohren flog, kam ich immer wieder zurück zum sanften, nächtlichen Puls dieses Albums. Über den Lichtern der Stadt, leise und elegant fließend, und ein Timing mit beinahe sedierender Wirkung - wenn das Ketamin mal wieder mit (benutztem) Katzenstreu und Palmin gestreckt wurde, programmiert man den Player einfach auf 72 Stunden Endlosschleife und lässt die Nachbarn sich darüber wundern, warum seit Freitagabend die Rollläden nicht hochgezogen wurden. 

O'Hara wählt für sein Debut unter dem Projekt The Vision Reels einen sehr aufgeschlossenen Ansatz, der glücklicherweise keine Gefühlsduselei benötigt. Ich empfinde "Eyes Open" als durchaus emotional, introspektiv, manchmal in der bildhaften Darstellung von objektiver Schönheit geradezu betörend, insbesondere zu hören beim funkelnden Titeltrack, bleibt dabei aber erstaunlich zurückgezogen, ja fast nüchtern. Nicht freudlos, nicht akademisch, aber distinguiert und abseitig genug, um selbst für die Momente einer stärker ausgeprägten Zugänglichkeit in den Tracks "Chrysanthemum", einem tief pochenden Unterwasser-Star-Ride und dem urban glitzernden "Sacred Architect" der Hood mitzuteilen, dass der Sepiafilter zum Sonnenuntergang auf Ibiza weder angebracht noch erwünscht ist. 

Besser Rollläden runter und einsam im Licht der Lavalampe wegdämmern. Leben 2020 FTW.




   



Erschienen auf Kizen Records, 2020.


30.01.2021

Best Of 2020 ° Platz 19 ° Leandro Fresco & Rafael Anton Irisarri - Una Presencia En La Brisa

 



LEANDRO FRESCO & RAFAEL ANTON IRISARRI - UNA PRESENCIA EN LA BRISA

I’ve become so used to darkness
I’m surprised to see the light
(GOLD)


Das erste Gefühl ist Traurigkeit. Die schwer herunter hängenden, grauen Schleier sind wie aus Beton, die grobe, aufgeraute Oberfläche kalt und schroff. Die Schultern schmerzen, es ist kaum Kraft übrig, um den Kopf oben zu halten. Dieses blasse Grundrauschen der Überforderung, der Zersetzung wird zum ständigen Begleiter. Hinter diesen Bildern wehen Fragmente von Melodie, sie wirken beinahe klerikal, als müssten sie Andachtsbilder der christlichen Ikonografie vertonen; Untergangsfantasien der Spätgotik, mit ihrem Licht- und Schattenspiel und der neuen Körperlichkeit, den Gesichtern, der Mimik. 

Wie viel Kontemplation in dieser Musik steckt wird deutlich, wenn der mehrdimensionale Raum sich entfaltet und die Ebenen unter dieser staubigen Schicht der Tristesse offenlegt. Ein Prozess der Tage, Wochen, Monate dauern kann, sich leise, beinahe unbemerkt in den Geist schleicht, die Wahrnehmung manipuliert, sie umkehrt, sie erweitert. Wenn die funkelnden Lichtbündel ihre Perspektive wechseln und tiefer scheinen, sich einschwingen. 

Ich hatte nach Monaten der Auseinandersetzung mit "Una Presencia En La Brisa" das Gefühl, als würde diese Musik kontinuierlich in meinem Empfindungszentrum arbeiten und stets hatte ich den Eindruck, mit jedem Mal mehr zu hören, zu sehen, zu spüren. Wenn Klang und Vision Trost und Zuversicht schenken und das Leben erklären, ist das Ziel möglicherweise fast erreicht. 


Pressung: Wie gewohnt von A Strangely Isolated Place: flawless. Dafür geht Labelchef/-gründer Ryan allerdings auch durch genau das Feuer des Qualitätsmanagements, das nicht nur viele Presswerke, sondern auch viele andere Labels mittlerweile scheuen. Gemastert von Taylor Deupree. "Mehr habe ich nicht hinzuzufügen."(Polt) (+++++)

Ausstattung: Formvollendetes Art-Design. Artwork, Vinyl, Liner Notes >>> (+++++)


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2020.


27.01.2021

Best of 2020 ° Platz 20 ° Zara McFarlane - Songs Of An Unknown Tongue



ZARA MCFARLANE - SONGS OF AN UNKNOWN TONGUE

Bring me the snowfall, bring me the cold wind, bring me the winter
(New Model Army)

Ein neuer Sound, ein neuer Weg, schon wieder. Elektronische Beats, Jamaica, Bass. Viel Bass. Viel Raum. Überzeugung, Emanzipation und Mut. Darunter ein beinahe durchgängig raschelnder Geräuschteppich, der nach Waldboden unter den tanzenden Füßen klingt. 

"Songs Of An Unknown Tongue" entstand in Zusammenarbeit mit den beiden Produzenten Wu-Lu und Kwake Bass nach einem längeren Aufenthalt in Jamaica, wo McFarlane die traditionellen Rhythmen und Melodien jamaikanischer Riten und Tänze wie Bruckin oder Dinki Mini erforschte. Das Ergebnis ist nach der schon beim letzten Album "Arise" vorgenommenen Öffnung eine erneute Erweiterung ihres Stils, dieses Mal noch deutlicher als zuletzt: anstatt sich wie auf ihren vorangegangenen Werken und hinsichtlich der Instrumentierung in einem weitgehend traditionellen Jazz/Soul-Umfeld zu bewegen, richtet sie "Songs Of An Unknown Tongue" auf ein elektro-akustisches Konzept aus, das die Künstlerin in bislang noch nicht erschlossenes Gebiet bringt. In tief pumpendem Bass-Gestrüpp hängen Gesangsarrangements, die sich nicht zwischen Avantgarde und Tradition entscheiden können und wie Farbklekse auf eine Leinwand geworfen werden, mal unmittelbar und frei, mal bis ins letzte Detail durchkomponiert. Ihre Stimme hat eine ganze Menge zu leisten, denn wenn es hinter ihr minimalistich pluckert, schnarrt und raschelt, braucht es die Struktur ihres charaktervollen Gesangs, die den Laden zusammenhält - oder aber in voller Absicht nicht mal das, wie beispielsweise in "Run For Your Life" oder "Saltwater", zwei Tracks, die auch im ohnehin nicht kerzengeraden Albumkontext ziemlich weit draußen ihre Kreise ziehen. Im Gegensatz dazu stehen weite Teile der B-Seite, deren Songs versöhnlicher klingen und mit dem herausragenden "Roots Of Freedom" beinahe eine moderne, spirituelle Version eines alten Grace Jones-Klassikers anbietet - abzüglich dessen Hedonismus, versteht sich; damit hat McFarlane auf dieser sehr geerdeten und erdigen Produktion nichts an der Frisur. 

"Songs Of An Unknown Tongue" erzählt vom Leben einer schwarzen Frau im urbanen London. Es zieht Linien zwischen Rassismus, Kolonialismus und der eigenen Identität, es feiert die Geschichte ihrer Vorfahren. Diese Musik vermittelt die Suche nach dem eigenen Ich und dessen Platz in dieser Gesellschaft mit Hilfe einer ebenfalls suchenden Musik - deren Grenzen eingerissen werden müssen, bis sie frei schwingen kann. 

Kein Platz und keine Zeit für Zorn. Was wir brauchen ist ein aufrichtiger Blick in eine selbstbestimmte, selbstbewusste, freie Zukunft.

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Pressung: Was für Brownswood-Pressungen üblicherweise richtig ist, gilt auch hier: flach, keine Störgeräusche. Einfach gut. (+++++)

Ausstattung: Fantastisches Coverartwork, bedruckte (ungefütterte) Innenhülle, schwarzes Vinyl. Kein Downloadcode. (++++)
  

   



Erschienen auf Brownswood Recordings, 2020.


23.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (5): Sadik Hakim - Sadik Hakim


SADIK HAKIM - SADIK HAKIM

So richtig schlau werde ich aus dem US-amerikanischen Pianisten Sadik Hakim nicht. Seine Karriere startete recht früh und inmitten der Bop-Bewegung in den 1940er Jahren mit Gigs für Ben Webster, Charlie Parker, Miles Davis und Lester Young. Er begleitete außerdem die größten Jazz-Sängerinnen wie Billy Holiday, Dinah Washington und Ella Fitzgerald, spielte auf Thelonious Monks Beerdigung und hat gerüchteweise einige sehr bekannte Bop-Stücke geschrieben, deren Urheberschaft sich andere unter den Nagel gerissen haben sollen - und weil ich gerade bei Monk war: "Eronel" stammt angeblich aus Hakims Feder. Könnte man nun nicht erwarten, dass sein Status in der Jazzszene ein anderer, ein ruhmreicherer ist? 

1962 nahm er sein erstes Album als Leader auf, aber seltsamerweise war "East And West Of Jazz" lediglich eine Art Split-LP mit dem Pianisten Duke Jordan auf Charlie Parker Records. Mitte der 1960er Jahre zog Hakim nach Montreal, wo er mit gleich zwei Jahren Verspätung sein nächstes Album als Leader einspielte, ein 1973 für die Canadian Broadcasting Corporation (CBC) aufgenommenes Werk, das unter gleich mehreren Titeln vermarktet wurde - "London Suite", "Transcription", "Canada" und "Sadik Hakim" - wie immer eine extragute Marketingstrategie. Das Album gilt für viele Jazzfreunde als das Magnum Opus Hakims, nicht zuletzt wegen der die komplette A-Seite in Beschlag nehmenden Mammutkompostion "London Suite", die sich über vier Teile erstreckt und vor allem in den balladesken Momenten wie dem eröffnenden "Heathrow In The Morning" und dem abschließenden "Harlow Homcoming" Hakims melodische Tiefe und kompositorische Dehnung zeigt. 

Das Album wurde 2014 unter dem Namen "Canada" auf dem italienischen Spezialistenlabel seriE.WOC (eine echte Fundgrube für raren Jazz, übrigens - und das meine ich als Warnung: https://eatingstanding.bandcamp.com/) wiederveröffentlicht, allerdings nur in einer kleinen Auflage und daher leider zu einem sehr unattraktiven Preis für um die 40 Euro. 2019 nahmen sich die Kanadier von Return To Analog der Platte an, und ließen 500 Exemplare bei der Precision Record Pressing in Ontario herstellen, einem 2017 gegründeten Joint Venture mit, Achtung, festhalten: GZ Media. GZ Media erstellte den Schnitt und die Lacqeurs, PRP presste die Platten - und beide haben hier einen wirklich guten Job gemacht, denn zumindest meine Kopie ist flach und läuft ohne Störgeräusche. Nun ist dieses feine Werk auch für kleines Geld zu haben. 

Werte Leser, "i soag's ganz ehrli" (Karl "Der" Moik): die stundenlange Recherchearbeit habe ich nicht umsonst gemacht! Ihr kauft das Ding jetzt. Hopp, hopp. Fogg it!


   



Erschienen auf Radio Canada Internation 1973/Return To Analog, 2019.


21.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (4): Keith Jarrett - The Melody At Night, With You



KEITH JARRETT - THE MELODY AT NIGHT, WITH YOU


In gewisser Weise ließen sich Teile des kürzlich geschriebenen Texts über Ministry auch auf Keith Jarrett übertragen. Der Pianist hat sich aus echter Überzeugung eine Kontroverse nach der anderen an die Griffel geflammt, von seinen frühen Statements zu elektronischen Instrumenten und elektronischer Musik ("It may not apply to somebody else, although I could go into the philosophical aspects of it and make it almost an objective argument whereby playing electric music is bad for you and bad for people listening, which I do believe." - Ähnliches könnte der Autor dieses Blogs übrigens über Musikstreaming im Allgemeinen und Shitify im Speziellen schreiben, aber wer wittert hier schon eine Kontroverse?!) bis hin zu den abgebrochenen und manchmal nicht mal begonnenen Konzerte, weil das Publikum hustet und/oder Fotos anfertigt. Jarrett war dabei immer aufrichtig und echt, aber freilich fügte es ihm in den eher hochgeschlossenen Kreisen des Jazz und darüber hinaus auch enormen Schaden zu - und wer das Publikum des Umbria Jazz Festivals in einem minutenlangen Meltdown als "Arschlöcher" beschimpft, würde in einem anderen Kontext, sagen wir 1981 im New Yorker CBGB, zuerst anerkennend angespuckt und anschließend auf Händen getragen. 

Die Aufnahmen zu "The Melody At Night With You", einer Sammlung von Standards und Traditionals (plus eine Improvisation) für Solo-Piano, entstanden in der Erholungsphase seines Chronic Fatigue Syndroms Ende der 1990er Jahre und waren ursprünglich als Weihnachtsgeschenk für seine damalige Frau gedacht. Das 1999 veröffentlichte Album wurde zu einem großen Erfolg und wer es hört, versteht warum: Jarrett versinkt über die 55 Minuten über den Tasten und eigenen Abgründen, wird eins mit dem Piano und durch die Töne hindurch: mit der Stille. Wo sonst riesige Konzertsäle vor Ehrfurcht (und dank beim Einlass verteilter Hustenpastillen) verstummen, sind es hier einerseits Jarretts Liebe und Zuversicht, andererseits seine durch die Krankheit verursachte Kraftlosigkeit, die seine umgebaute Bauernscheune im Nirgendwo an der US-amerikanischen Ostküste zum leisen Vibrieren bringen und in kaum wahrnehmbares, diskretes Licht tauchen.


   


Erschienen auf ECM, 1999.



Hey ECM, ich warte übrigens immer noch auf die 4.LP Box von "Radiance"