Nach dem letztjährigen Wirbel und dem sich anschließenden sehr beachtlichen Erfolg um "Both Directions At Once" schiebt Impulse nur ein Jahr später eine weitere bislang unentdeckte Aufnahme des klassischen Coltrane-Quartetts nach. Bei "Blue World" handelt es sich um eine 1964 aufgenommene Auftragsarbeit für den kanadischen Filmemacher Gilles Groulx und dessen Film "Le Chat Dans Le Sac". Die Legende sagt, dass die Bänder der Session für 55 Jahre im Archiv des National Film Board of Canada lagerten und erst 2018 an Impulse übergeben wurden.
"Blue World" gibt der Welt selbst bei heruntergedimmtem Licht betrachtet keine neuen Songs, sondern lediglich neu arrangierte Takes bekannter Stücke des Quartetts, aber weder dieser Umstand noch die Tatsache, dass sich im Grunde nur fünf Titel auf "Blue World" befinden ("Naima" ist mit zwei, "Village Blues" gar mit drei alternativen Takes vertreten), tun wenigstens meiner Freude und Begeisterung keinen Abbruch. Höhepunkt des Albums ist der Titelsong, der unter dem Namen "Out Of This World" bereits auf der 1962 erschienenen LP "Coltrane" zu finden war und schon dort zum Besten zählte, was ich je von der vielleicht besten Jazzband aller Zeiten hörte. Das 1944 von Harold Arlen komponierte Stück wurde für "Blue World" gestrafft und etwas verlangsamt, was die Eindringlichkeit nur noch weiter zu steigern vermag. Die atmosphärischen Parallelen zu "A Love Supreme" sind überdeutlich zu hören - und gleichzeitig gibt der Song bereits zu Beginn die Stimmung und Ausrichtung der gesamten Session vor: balladesk, dunkel, tief in sich versunken. Es sind sehr besondere Momente, die das Quartett hier verewigt hat und ich muss es ohne jede Übertreibung oder Ironie sagen: "Blue World" hat mein Leben im abgelaufenen Jahr sehr bereichert und ich empfinde es als großes Glück, diese Musik hören zu dürfen. Höre und staune.
Geheimnisvoll. Hypnotisch. Nokturn. "Spring Ray" ist ein auraler Spaziergang durch einen tropischen Regenwald bei Nacht. Aus der Tiefe des Waldes sind Trommeln zu hören, die langsam lauter und zum Puls der Nacht werden. Das Zirpen der Insekten verwandelt sich in ein diesiges Hintergrundrauschen, die Blätter in den Baumkronen werden vom Wind geküsst.
Je weiter wir in diesen Zauberwald eindringen, desto präsenter werden die tiefer liegenden Schichten dieser Musik: Einheit, Bewusstsein und Vertrauen. Und es zeigt sich, dass die Schatten der Dunkelheit nur in Deinem Kopf existieren. Wer sich darauf einlässt, wird zu einem besseren Menschen.
Ich adelte das Comeback dieser britischen Thrasher erst kürzlich und trotz einiger Konkurrenz mit großen Namen zum besten Thrash Metal Album des Jahres 2019 und viel mehr als das habe ich ein paar Wochen später auch nicht wirklich hinzuzufügen. "The Age Of Entitlement" platziert sich sehr hübsch zwischen Moderne und alter Haudegen-Herrlichkeit, legt zu gleichen Teilen Wert auf Groove und Gehacke, vermischt den gegossenen Stahlbeton mit einigen feinen und glücklicherweise nicht zu aufdringlichen Melodien und hat nicht zuletzt wegen der Stimme von Howard H Smith noch ein Quantum Punk-Vibe aus den späten 1980er Jahren retten können, der für den nötigen Elan sorgt.
Vielleicht sind die Maßstäbe, die eigenen zumal, angesichts der eher unerfreulichen Entwicklungen im Heavy Metal ja mittlerweile auch so dermaßen auf den Hund gekommen, dass mir jeder Kompass abhanden gekommen ist, aber ich bleibe bei meiner früheren Einschätzung: im Grunde gibt es keinen einzigen faden Moment auf dieser Platte. Macht immer noch tierischen Spaß.
Und es erscheint geradezu bizarr, dass es nicht ein paar mehr Menschen mitbekommen. Aber gut, wenn der eigene Kopf kilometerweit im Arsch des Spotify-Algorithmus steckt, ist's vielleicht auch kein Wunder. Ist wohl diese "Freedom!", von der Blaze Bailey, Joe Kaeser und das Krümelmonster mal gesungen haben.
Alben von 36, die auf Vinyl via A Strangely Isolated Place erscheinen, sind meist in Windeseile ausverkauft, und wer verspätet zum Vorverkauf erscheint, darf nur wenige Tage später den Blutsaugern auf Discogs die Ehre (und ein schön leergeräumtes Konto) erweisen. So erging es mir mit "Fade To Grey", weshalb ich zur Strafe einen grotesk hohen Betrag in Richtung, na klar: Berlin überweisen sollte. Immerhin noch bevor sich die Bandscheibe unseres Hundes meldete und ganz alleine den Jahresbonus auffraß. No food, just wax and dogs.
Dennis Huddleston ist einer der Stars der Ambientszene und in solchen Momenten zeigt es sich auch abseits des Sammel- und Exklusivitätswahns heutiger Schallplattensammler. "Fade To Grey" ist der Einsamkeit und der Isolation gewidmet, die aus unserem Social Media-Kladderadatsch entsteht, die uns von unserem Selbst entfernt, uns sowohl durchlässig und verletzlich, als auch hart wie Beton macht. Es ist ein elegisches Werk für eine Zeit ohne Empathie. Ein Werk, das den leeren, emotionslosen Blick gegen die weiße Wand vertont, gleich einer Embryonalstellung der Seele gegen den Weltschmerz. Interessanterweise klingt "Fade To Grey" dabei nicht dunkel oder abgründig, sondern leuchtet im Gegenteil hell und heiter - wie ein Abbild unserer Realität zwischen sinnbetäubender Euphorie und bodenloser Tristesse.
Einer wird gewinnen.
"Considering the landscape of our own world right now, where a handful of companies control everything we consume, where convenience is more important than privacy, where personal choice is pre-determined by algorithms analyzing our behavior, and where the internet has become a battleground for influence and propaganda... It's not a stretch of the imagination to believe we're already witnessing our very own dystopia."
Und wieder mal passt alles zusammen. Das atmosphärische Cover-Artwork, das DIE_INSEL inmitten eines ruhig liegenden Meeres zeigt, inklusive leichter Diesigkeit und einem ja auch irgendwie kitschigen Sternenhimmel, Jordan Sauers immer noch von Sonne, Waldboden und "Aqua" (Lagerfeld) geküsste Musik und das Label Silent Season, das die musikalische Auseinandersetzung mit der Natur zur Voraussetzung für jede Veröffentlichung macht.
Zu "The Island" heißt es:
"Four thousand years ago, Western Canada's First Nations people migrated into the fjords and rainforests carved out by the retreating glaciation of the last Ice Age. The Island is a tribute to Canada's prehistory and the spiritual journey of a people entering a forever-altered landscape to call their home."
Dabei hat Segue ähnlich wie die Labelkollegen von Wanderwelle die exklusive Dub Techno Schublade längst hinter sich gelassen und verwendet bisweilen nur noch vage herumflirrende Erinnerungen aus seinem Instrumentenkoffer. Was Sauer in dieser Hinsicht vielleicht so gut kann wie kaum ein anderer: seine Sounds und Songs malen Bilder in deinen Kopf. Lassen dich Wärme und Kälte spüren, manchmal sogar die Luft von der Umgebung schmecken, in die er dich gerade hineingezogen hat.
"The Island" schickt dich in Urlaub, in die unberührte, raue Natur. Soziale Isolation in der Verbundenheit mit Mutter Erde - ich finde das selbst 6 Jahre nach dem Klassiker "Pacifica" noch immer hoffnungslos attraktiv.
Ich erinnere mich daran, dass ich der Herzallerliebsten das phänomenale Cover-Artwork zeigte und dazu verlauten ließ, die Platte heiße "Im Flausch" und mir sei es nun völlig wurscht, wie das klingt, ich müsse das jetzt blind und taub kaufen. Als Antwort erhielt ich ein "Ich bitte darum!" und im Subtext eine neuerliche Erinnerung daran, dass wir verheiratet, vulgo: "ein Kopf und ein Arsch" (H.Schenk) sind. Jetzt sind wir hier, im Sinne von am Jahresende angekommen und wie zu sehen ist, habe ich die Entscheidung nach dem Anhören nicht nur nicht bereut, sondern ganz außerordentlich begrüßt: das Trio spielt im Postpunk-, Indie- und Noise-Sandkasten, hat nicht nur im Gestus den obersten Hemdknopf geschlossen und rasselt mir mit nonchalant vorgetragenen Texten wie "Ich finde nichts mehr gut. Ich lege mich nicht mehr fest. Ich schmeiße alles hin." nebst anschließendem Noise-Ausbruch direkt in die linke Herzkammer. Die angenehm dosierte Dissonanz, sowohl in der Musik als auch in den hintergründigen Texten, piekst mich genau dort, wo ich's gerne hab: kein breitbeiniger Rockzirkus, sondern eher distinguiertes Detachement. Und wenn es doch schmutzig, krachend und laut wird, räumt hinterher jemand schön auf und macht wieder alles sauber - allerdings mit dem Kommentar, dass das ja jetzt schon ziemlich unlocker sei.
Unser Leben ist ein einziger, stets größer werdender Widerspruch - und das hier ist sein Soundtrack.
Die gute Nachricht zuerst: "Flamagra" ist wieder deutlich inspirierter ausgefallen als der Vorgänger "You're Dead", das bis heute einzige FlyLo-Album, das den bitteren Gang zum Second Hand-Dealer antreten musste. Dennoch war auch das sechste Studioalbum zunächst ein Wackelkandidat für die Top 20. Vermutlich ist es meine Erwartungshaltung, die mir (und ihm) immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen will, vielleicht macht man ein Album wie "Cosmogramma" aber auch wirklich nur einmal im Leben. Denn auch wenn die Musikredaktionsstuben zwischen zwei Mariacron aus dem Rollcontainer immer noch derart vehement die seit vielen Jahren bekannten zentralen Aspekte des Sounds von Flying Lotus betonen, erkenne ich zumindest stilistisch nichts bahnbrechend Neues auf "Flamagra" - natürlich ist die Detaildichte seines Sounds immer noch hoch, natürlich sind das immer noch die bizarren, übergroß auf die Kinoleinwand projizierten Science Fiction-Drehbücher und natürlich lassen sich selbst in den etwas zurückgenommeneren Momenten noch mehr eingebaute Bells & Whistles in diesem wahnsinnig kuratierten Gedankenfluss finden, als bei jedem anderen Remmidemmi-Produzenten. Was Flying Lotus für mich indes so einzigartig macht, sind seine Interpretationen von Jazz und Hip Hop und deren Verschmelzung in postmoderne Lebensrealitäten.
Jede der rund 6420 Sekunden von "Flamagra" scheint für einen klitzekleinen Moment ein Bewusstsein darüber zu haben, woher sie kommt und wohin sie geht Und jede einzelne erzählt in atemberaubender Geschwindigkeit Mikro-Poesie vom Anfang und vom Ende ihrer Welt - und aus diesem virtuellen Netz von Gedanken, Ideen, Hoffnungen und Enttäuschungen speist sich der ganze gottverdammte Scheißkosmos. Blingbling.
Der sehr geschätzte und vor allem loyale Leser dieses Blogs weiß es: ich habe einen Narren an dieser Band gefressen. Seit ihrem "Cali Fever" Album aus dem Jahr 2010 verfolge ich die Wege des Funk-Kollektivs und belästige es auf allen verfügbaren Kanälen des Internets (bislang erfolglos) mit der unterwürfigen Bettelei, doch bitte endlich eine Tour durch Deutschland zu buchen. Stattdessen nehmen sie regelmäßig neue Platten auf, die in erster Linie als Standortbestimmung zu dienen scheinen, als Skizze des derzeitigen Entwicklungsstands. Seit einiger Zeit marschiert die Combo aus den noch etwas räudigen San Francisco-Funkbecken in den etwas smootheren Bereich der Bar, in dem die Sessel mit rotem Samt bezogen sind. Vielleicht steht man mittlerweile mit einem Bein sogar in den 1980er Jahren - und das nicht nur wegen der Extraportion Weichzeichner-Aura des Coverartworks: Was die Entwicklung für den Vorgänger "Beyond The Sun" bereits andeutete, zieht bei "Reasons" nun noch etwas weiter in Richtung Disco und California Rock durch. Und während ich noch die Stirn in Falten lege, ob das möglicherweise dieses Mal nicht vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten ist, überfällt mich der unwiderstehliche Groove dieser Götterband schon im Opener "All Good Things" wie eine amoklaufende Adrenalinspritze auf der Tanzfläche. Alles gekrönt von der immer noch atemberaubend singenden Queen Adryon de Leon, die die kalifornische Sonne in ihren Stimmbändern eingebrannt hat.
Süchtig machende Energie im Zeichen der Discokugel.
England brodelt. Nicht nur politisch, aber auch ganz besonders kulturell. Sicher, die seit Jahren florierende Jazzszene, und hier besonders das Epizentrum in London, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr; sie wird auch außerhalb der Landesgrenzen wahrgenommen und gerechterweise gefeiert. Das Ishmael Ensemble um den aus Bristol stammenden Produzenten Pete Cunningham scheint sich jedoch noch etwas unter dem Radar der bekannteren Namen Shabaka Hutchings, Nyubya Garcia oder Alfa Mist aufzuhalten: das Debut "A State Of Flow" heimste zwar fleißig Lorbeeren von den üblichen Verdächtigen wie Gilles Peterson ein, läuft aber immer noch als Geheimtipp durch's 2019er Musik-Dickicht. Umso mehr freue ich mich darüber, diese Platte gefunden zu haben - so zahlt sich die jeden Monat wiederholende und stundenlange Suche nach neuer Musik aus.
"A State Of Flow" ist eine Fusion aus Bonobo'scher Leichtfüßigkeit, der Tiefe des Cinematic Orchestras, Kieran Hebdens Progressivität und den Emotionen des Submotion Orchestras: Jazz, Electronica, Soul und Ambient in bester Tradition des Bristol-Sounds. Vielleicht im Detail noch ein bisschen rough around the edges, aber mir kommt die zwischenzeitliche Störung von allzuviel glattpoliertem Mainstream gerade sehr gelegen. Könnte den Status eines unentdeckten Kultalbums erreichen, wenn Social Media endlich tot ist. Und wenn es wieder möglich ist, "Kult" zu sagen, ohne hinterher vom Knorr-Papi verprügelt zu werden.
Die Sache mit Dub Techno ist und bleibt eine Schwierige. Im Trend liegt das Genre nicht (mehr) wirklich; ich habe eher das Gefühl, dass es sich nur noch um eine relativ kleine, dafür eingeschworene Community handelt, die diesen Sound sowohl produziert als auch immer noch hört. Teil des Problems ist die überschaubare Anzahl jener Produzenten, die einen Ausweg aus dem Dilemma des straffen stilistischen Korsetts suchen und sich um Weiterentwicklung bemühen. Araceae geht sicher nicht so weit wie beispielsweise das belgische Duo Wanderwelle, dafür lässt die auf "Resonance Of The Absolute" präsentierte Bandbreite mein Herz höher schlagen: Ambient, Drone, Field Recordings und Modern Classical/Minimal mischt sich mit naturnahem, rauem und urwüchsigem Dub Techno wie im Highlight "Rocky Shore". Über ein Jahr hat Ryan Malony an diesem Album gearbeitet, das Archves-Sublabel Faint hat es auf Tape, CD und Digital veröffentlicht (leider kein Vinyl). Ein mit viel Liebe zum Detail und einem exzellenten Gespür für dramaturgische Texturen zusammengestelltes Werk.
Ein Teilnehmer der diesjährigen Folge "Es ist Frühling und ich möchte tanzen!": Melchior Sultana aus Malta mit einem Albumtitel, der das naheliegend schlechteste aus jedem Musikjournalisten herauskitzeln könnte. Meine Lust nach positiv aufgeladenen, euphorisierend-elektronischen Sounds, wenn die ersten Sonnenstrahlen das eben noch erstarrte Winterleben wachküssen, wurde mittlerweile zur lieb gewonnenen Tradition im Hause Dreikommaviernull. Anders als die Konkurrenz hielt sich "Deeper Than It Sounds" indes bis in den Dezember hinein in der Playlist, und das muss mit einem Platz in den Top 20 belohnt werden. Sultana liefert ein melancholisch-schaukelndes Deep House Album ab, auf dem sich mediterran getupfte Klangwärmekörper auf einem Bett aus dunstigen Grooves ausbreiten und entlang räkeln können. Kommt am besten zum ersten Kaffee im Bett an einem bekifft-launigen Sonntag Mitte Mai zur prachtvollen Morgenerektion.
Keine Termine und leicht einen sitzen (und stehen)(vielleicht).
Exhorder hatten von allen Bands vermutlich den schwierigsten Auftrag für ihr Comeback zu erledigen, denn auch wenn die beiden einzigen Alben der Band "Slaughter In The Vatican" und "The Law" schon 29, beziehungsweise 26 Jahre alt sind, hat die auf jenen Werken beruhende Ausnahmestellung zu einer möglicherweise in Teilen nicht ganz fairen, ganz sicherlich aber hoffnungslos überzogenen Erwartungshaltung geführt. Ich kann mich ebensowenig davon befreien, dafür aber immerhin anerkennen, damit ein Ticket im Balla-Balla-Bus gezogen zu haben, weil nur Dummbatze ein zweites "Slaughter In The Vatican" erwartet hätten. Und wo das gesagt ist, full disclosure: für mich steht das Debut einige Höllenlevel über "The Law", und ich darf als Belegexemplar das geschriebene Wort aus dem Jahr 2013 bemühen:
"Es gibt Momente auf "Slaughter In The Vatican", die so heavy sind, dass man sich wirklich freiwillig den Kopf zwischen Stahltür und -rahmen einklemmen will und der eigenen Mutti befiehlt, mal kräftig zuzuschlagen. Die Tür, wohlgemerkt. Mit 'nem Unimog. Und das meine ich selbstverständlich ausnahmslos positiv. Scott Burns mauerte seine gefürchtete und berüchtigte Morrissound-Soundwand (die die Band übrigens nach eigener Aussage aus tiefstem Herzen hasst), deren musikalisches und lyrisches Fundament aus blanker Niederträchtigkeit und außer Kontrolle geratenem Rowdytum besteht."
"The Law" hingegen wird für seine stärker ausgespielten Grooves und Riffs von einem Teil der Fanszene kultisch verehrt, stellte mit mir jedoch und in erster Linie wegen des direkt aus Susi Sorglos' Rasierapparat surrenden Gitarrensounds nie etwas Besonderes an.
Das potentielle Problem von beiden Alben in Bezug auf das 2019er Comeback sind weniger in den Songs und Sounds, als viel mehr in der Attitüde zu suchen. Wie sollen die - auch selbstverständlich schon lange nicht mehr im Original-Lineup - diese Wucht und diese Räudigkeit nach so langer Zeit noch abrufen können? Die Option, es gar nicht mehr zu müssen, stand aus Sicht eines Fans bei Exhorder nie zur Debatte - zu stark war man nach so langer Zeit und der Auseinandersetzung mit ihren alten Alben darauf gepolt, dass weniger als das Nonplusultra an Härte, Intensität und Unberechenbarkeit ein glatter Weltuntergang wäre. Gemessen an den Reaktionen der früheren Die Hard-Fans auf "Mourn The Southern Skies" ist für viele Menschen genau das eingetreten.
Und es ist tatsächlich ein bisschen kompliziert. "Mourn The Southern Skies" besteht aus drei Songtypen, die auf sehr unterschiedlichen Qualitätsebenen existieren: (1) die rasende Thrashkante (2) grooviges Law And Order-Riffgeschiebe aus den Sümpfen Lousianas und (3) irgendwas dazwischen. Die erste Kategorie besteht fast ausschließlich aus erschütternd generischem Exodus-Thrash Metal mit Cringe-Texten, stumpf durchgeballerter Doublebass und einem reichlich aufgesetzt hart klingenden Kyle Thomas am Mikro. Kann, nein: muss man ganz schnell vergessen und für immer skippen. Das ist unwürdiger Scheiß und das auch in dieser Deutlichkeit mehr als gerecht.
Die zweite Kategorie indes trifft meinen Nerv, und das auch noch ziemlich unvorbereitet. Die Riffs sind originell, die Stimmung ist schwül, feucht und dreckig, die Grooves tighter als Trumps Schließmuskel. Qualitative Schwankungen lassen sich hingegen in Kategorie 3 finden: während in "Rumination" sehr erfreuliche Erinnerungen an die Mittneunziger-Ära der Kings von Forbidden wach werden, ist "All She Wrote" dagegen ein unsäglich dumpfes Midtempo-Doublebass-Geratter von der Stange, das ohne wirkliche Konkurrenz den Biedermann-Preis des Jahres absahnt. Wer sich also im besten Fall eine exakte Mischung aus "Slaughter In The Vatican" und "The Law" gewünscht hat, rauscht hier erstmal mit Schmackes gegen die Wand. It's the Erwartungshaltung, Stupid!
Was bleibt also unter dem Strich? Ehrlichweise mehr, als das nach dem ersten Teaser "My Time" (Kategorie 1) zu erwarten war. Gut die Hälfte von "Mourn The Southern Skies" ist lässiger, verschwitzter und authentisch klingender Südstaatenmetal der COC/Down Kategorie mit wirklich coolen Riffs'n'Grooves und dicker 90er Schlagseite. Wenn sich noch jemand an das 1996er Album "Penalty" von Floodgate erinnert (Sänger: Kyle Thomas), weiß recht genau, was er zu erwarten hat, wenn er das damals ganz sicher gereichte Weed mit ein paar frisch gekochten Kannen schwarzen Kaffees austauscht. Mit diesen Songs kann ich nicht nur wunderbar leben, die reichen selbst dafür aus, den anderen Mist auf der Platte wenigstens ein bisschen wettzumachen. Exhorder klingen 2019 natürlich nicht mehr wie eine Horde tollwütiger Pitbulls und wenn ihnen ein echter Vorwurf zu machen wäre, dann jenen, dass sie es partiell trotzdem versucht haben: das Gespür für die Ausnahmestellung ihrer Frühwerke ging ihnen tatsächlich über Bord. Dass sie an anderen Stellen auf ihrem Comeback stilistisch einen anderen Weg eingeschlagen haben, lässt jedoch erahnen, dass sich die Band vielleicht über das Dilemma völlig im Klaren war.
"Mourn The Southern Skies" ist am Ende ein Kompromiss einer ehemals sehr kompromisslosen Band. Im Gegensatz zu optimistisch aufgerundeten 80% der Konkurrenz, die ähnliche Entscheidungen treffen mussten, allerdings einer, der sich wenigstes ein kleines bisschen von dem entfernte, was jeder erwartete. Kann man sich drüber freuen.
P.S.: Exhorder waren selbst in ihren früheren Besetzungen nie eine hypersympathische Band und dass im Dachgeschoss der Mitglieder vielleicht nicht immer für die volle Stromversorgung gesorgt werden konnte, ist spätestens nach dem Text zu "Anal Lust" vom Debut unstrittig - aber ich muss dennoch erwähnen, dass der Text zu "The Arms Of Men", sofern ich ihn richtig verstehe, ein Neanderthaler-Plädoyer für das US-amerikanische 2nd Amendment ist, und mir als Mitteleuropäer und Wehrdienstverweigerer (mit extrem kleinem Pimmel, klar) jedes Verständnis für diesen "Drrrrreck" (Schramm) abgeht. Das halbstarke Amöbengeplärre von "My Time" kehren wir auch besser unauffällig unter den Teppich.
Ganz vielleicht dachte ich zu Beginn etwas zu pessimistisch über das erste Possessed Album seit dem 1986 erschienenen "Beyond The Gates"-Werk und damit gleichfalls dem ersten wirklichen Lebenszeichen dieser so einflussreichen Band seit der "The Eyes Of Horror"-EP aus dem Jahr 1987. Eher widerwillig klickte ich auf den Videolink zu "No More Room In Hell", dem einige Wochen vor Albumveröffentlichung präsentierten Teaser; das Mindest auf "Zynismus" eingerastet, sowieso das Schlimmste erwartend, alle Gläser immer halbleer. Hören musste ich das natürlich, weil...hey: "Seven Churches"! Wahrscheinlich gab es 1985 wirklich nichts Krasseres als "Seven Churches", dagegen klingt ja selbst die erste Kreator so steif wie der Ministrantenchor Mozetta. Aber warum müssen die ollen Rochen auch immer und immer wieder ihren guten Namen aufs Spiel setzen? Das waren vor 32 Jahren Legenden, ihr Werk ist über 32 Jahre legendär geblieben und wenn sie es so halbwegs richtig anpacken, könnten sowohl Band als auch Werk sogar für die nächsten 32 Jahre Legenden bleiben. Wwwwwhhhhhhhyyyyyyyyyyyyyyyyyyy tho - und wer GENAU hat eigentlich eine Band wie Possessed in den letzten 32 Jahren vermisst? Also so RICHTIG vermisst? Wer hat denn über 32 Jahre an jedem Tag oder in jeder Woche zu sich und seinem sozialen Umfeld, sofern denn noch eines vorhanden ist, gesagt "Mannomann...Possessed! Wie schade, dass es die nicht mehr gibt. Was würde ich heute dafür geben, nochmal eine neue Platte von Possessed hören zu können."? Dann sind auch noch Nuclear Blast als Label ins Satanshaus eingezogen und haben zig Zillionen unterschiedlicher Vinylversionen in jeder denkbaren Farbe pressen lassen, eben weil sie's können. Das volle Marketingbrett. Was hat das noch mit Musik zu tun? Mit Possessed? Was soll das schon werden?
Es wurde erstaunlich viel! "No More Room In Hell" konnte mich nach dem dritten Durchlauf sogar dazu bewegen mir die Platte zu kaufen, natürlich in der US-Version auf rot-weißem Splattervinyl, weil ich Superhornochse diesen Donzdorf-Dicks und ihrer Marketingscheiße eben immer noch auf den Leim gehe (und weil die Platte ziemlich geil aussieht, klar). "Revelations Of Oblivion" hat eine ganze Menge Argumente auf seiner Seite, allen voran ist das fiese Geballer definitiv mehr im Thrash als im Death Metal angesiedelt, auch wenn die Vermarktungsmaschine fleißig "DEATH METAL" auf alles spuckt, was nicht bei drei auf dem Baum ist - die tragende Säule beim Mitinitiieren eines ganzes Genres muss eben nicht nur immer wieder, sondern ganz besonders nach über 30 Jahren mal frisch gestrichen werden; woher sollen die ganzen nachgewachsenen Metal-Kiddos das auch sonst erfahren? Hinzu kommen technisch beeindruckende Leistungen an Gitarre und Schlagzeug (Emilio Marquez an den Drums ist sowohl im Studio als auch live ein fucking Monster), den klassischen, charakteristischen Gesang von Jeff Becerra und eine Peter Tärtgren Produktion, die für heutige Verhältnisse erfreulich bodenständig ausgefallen ist. Letzteres sehen die Kuttenhorsts mit dem Junge Union-Branding im Hypothalamus natürlich anders, aber sowas passiert eben, wenn man sich so frei und distinguiert wie Zappa geben will, es aber real für nicht mehr als Markus Söder reicht. Das peinliche Geflenne muss man ignorieren.
Das für mich eindrücklichste Merkmal von "Revelation Of Oblivion" ist hingegen eines, das man nur über Umwege hören, dafür aber direkt fühlen kann. Jeff Becerra ist das einzig verbliebene Originalmitglied von Possessed. Der Mann wurde 1990 (drei Jahre nach der offiziellen Auflösung Possesseds) Opfer eines Raubüberfalls, wurde angeschossen und sitzt seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Seine ehemaligen Bandkollegen kümmerten sich nicht mehr um ihn, da die Band nach der Auflösung heillos zerstritten war. Über 17 Jahre versuchte Becerra mit seiner Situation klar zu kommen, rutschte in den Alkohol- und Drogensumpf ab und kämpfte mit Depressionen. Aber er überlebte. Studierte Jura und Sozialwesen, gründete eine Familie und nahm 2007 mit Possessed einen neuen Anlauf. Die Musiker, die auf dieser Platte zu hören sind, sind mindestens seit 2011 an seiner Seite, Drummer Emilio Marquez gar seit 2007). Bei der Recherche stieß ich auf Interviewsequenzen mit dem Gitarristen Daniel Gonzalez, in denen er auf schwierige Anfangszeiten zurückblickt: Becerra wollte vor allem ihm, der stilistisch eher dem modernen Death Metal nähersteht, den Stil und den Spirit von Possessed näherbringen - und lehnte zunächst offenbar ein Riff und eine Songidee nach den anderen ab, bevor Gonzalez und der Rest der Band mehr und mehr verstanden, in welche Richtung Becerra wollte. Becerra selbst sagt darüber hinaus, er lebe ständig mit dem Druck, die verlorene Zeit, die verlorenen 17 Jahre aufholen zu müssen. Selbst dieses Comeback nahm ganze 12 Jahre in Anspruch. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Wer dem Typen in den Interviews zuhört, entdeckt echte Euphorie, Aufrichtigkeit, vielleicht sogar Genugtuung - und ein kindliches Feuer der Begeisterung in ihm. Und ehrlich gesagt: ohne ein kindliches Feuer der Begeisterung ließen sich Texte wie
Six, six, six on the head and the wrist
The bloodied, battered crucifix
Two coins to cross the river Styx
On bended knees and Satan's fist
mit 51 Jahren auch nur schwer singen. Ob meine Wahrnehmung nun von der professionellen Inszenierung mit entsprechend vorgeschriebenen Drehbüchern getrübt wird und ich also immer noch tief drinnen glaube, es gäbe im Heavy Metal noch sowas wie echte Authentizität, oder ob das alles kompletter Bullshit ist, um die metallischen Naivlinge mit dem zu füttern, was sie am einfachsten fressen, nämlich plakative Trueness to the fokking bone, habe ich noch nicht ganz begriffen. Wäre ich DER_GROSSE_ZYNIKER vom ersten Absatz, wäre die Antwort klar.
"Du musst heute nur noch auf die Bühne gehen, die Pommesgabel \m/ zeigen und die Leute flippen alle aus." (Name der Redaktion bekannt)