21.03.2015

Kanaworms - Die Nachzügler 2014 (3)




WHEEDLE'S GROOVE - SEATTLE FUNK, MODERN SOUL & BOOGIE 1972 - 1987


Das US-Amerikanische Label Light In The Attic hat in den vergangenen Jahren mehr als nur einen Volltreffer gelandet. Das erfahrene Team von Schatzsuchern hat nicht nur das Phantom Lewis ins Rampenlicht des Jahres 2014 gezerrt und mit Jim Sullivans "UFO" eines der brilliantesten Singer/Songwriteralben aller Zeiten aus dem mysteriösen Wüstenstaub befreit (mehr dazu in Kürze), sie haben sich auch besonders um die Funk- und Soul-Szene der Emerald City Seattle gekümmert und ihr einen die Jahre 1965 bis 1975 abdeckenden Sampler aus dem Jahr 2004, sowie einen Film "Wheedle's Groove" (2008) gewidmet. 2014 legte das Label mit Volume 2 nach, nun waren die Jahre 1972 bis 1987 an der Reihe. 

Das spannende an dieser Zusammenstellung ist neben dem Entdecken eines bislang mir unbekannten musikalischen Erbes dieser Stadt - als Kind des Grunge und der Neunziger war ich jahrelang ignorant genug, Seattle nur mit Mudhoney und Pearl Jam und der Comedyserie Frasier in Verbindung zu bringen - die faszinierende Beobachtung, wie die einsetzende Discowelle, die jungen Jahre des naiven Hip Hop und die großen Pop-Entwürfe mit Schulterpolster, Weichzeichner und Death by Haarspray-Frisuren diesen Sound beeinflussten und weiterentwickelten. Der Unterschied der Sounds von Volume 1 zu Volume 2 ist bemerkenswert, obwohl man auf von Sampler 1 bereits bekannte Namen trifft - ein Zeichen für die zum einen übersichtliche Szene Seattles, andererseits auch ein markantes Merkmal dafür, wie sehr die Musiker die neuen Einflüsse verarbeiteten. "Here I Go Again" von Septimus hat schon den 80er-Ruckelbeat unter der Haube, das zum Schreien komische "Kingdome" von Baseball-Star Lenny Randle verarbeitet mit seinen Ballplayers neben Chipmunks-Gesangslinien auch eine Huldigung an die Spielstätte der Seattle Mariners, sowie die ersten zaghaft herübergeschwappten Raps von Grandmaster Flash. Malik Din schwebt zwischen Prince und Harold Faltermeyers "Axel F." herum, Romel Westwoods "I'm Through With You" sollte hörbar in die Heavy Rotation der nationalen Radiostationen (und hätte da zweifellos auch hingehört), und das folgende "Steal Your Love" von Teleclere könnte man mit seinen futuristischen Sounds und einem windschiefen Arrangement um ein Haar schon als avantgardistisch bezeichnen. 

Jetzt sitze ich hier schon wieder mit einem breiten Grinsen, höre mich durch das toll aufgemachte, dicke Doppelvinyl, lese mich durch die bestens recherchierten Linernotes und mein Kopf will gar nicht mehr aufhören mitzuwippen. "Wheedle's Groove" ist ein Schmuckstück der Sammlung geworden. Gebe ich nicht mehr her. 

Erschienen auf Light In The Attic, 2014.

17.03.2015

Kanaworms - Die Nachzügler 2014 (2)




THEO PARRISH'S BLACK JAZZ SIGNATURE


"I don't know that much about jazz. I've always liked it." (Will Lynch)


Zwei ähnliche Sätze wie jene von Resident Advisor-Schreiber Will Lynch könnten auch Herrn Dreikommaviernull über die Finger gleiten, wenngleich mich zwei Einschränkungen von der vollen Punktzahl abhalten. Erstens ist die Jazz-Sammlung mittlerweile nicht mehr die übersichtlichste und das Eingraben in viele Subgenres nebst ihrer Vertreter hat mir wenigstens für den Anfang einen ganz guten Überblick verschafft. Das steht also auf der Habenseite. Rein technisch aber, oder nennen wir es "musiktheoretisch", habe ich von Jazz immer noch keine Ahnung. Allerdings, und das führt uns zum zweiten Satz, hält mich dieser Umstand nicht davon ab, mit besonders in letzter Zeit wieder wachsender Begeisterung Jazz zu hören - die zweite Einschränkung des anfänglichen Zitats besteht übrigens darin, dass ich Jazz nicht "immer" mochte. Ich befürchte, dass es Phasen meiner Adoleszenz gab, in denen ich zu "unerlöst" (Willemsen) und mental zu verpickelt war, um Jazz wirklich verstehen zu wollen. Oder zu können. You decide.


“All music influences me, there are no divisions for it in terms of genres.” (Theo Parrish)

Für Theo Parrish scheint das nicht zu gelten. Der in Detroit ansässige und 1972 in Washington DC geborene Techno- und House-Produzent und -DJ wuchs mit Jazz, Soul und Funk auf. Für diesen Mix nahm er sich den Katalog des leider nur kurzlebigen Black Jazz Labels an, das 1971 von Gene Russell mit dem Ziel gegründet wurde, die politischen und spirituellen Wurzeln des Afro-Amerikanischen Jazz abzubilden, oder besser: Afro-Amerikanischer Musik im Allgemeinen. Das Label brachte unter diesen Vorzeichen auch Soul- und Funk-Acts auf das Radar der Musikgeschichte, und die von Black Jazz vertretenen Bands und Künstler erlangten etwas, was man heute möglicherweise einen "Kultstatus" nennen würde. Eingeschworene Fans aus dem Untergrund, Insider, Musiker, Aktivisten wuchsen zur loyalen Fanbase heran, bis Russells Tod im Jahr 1976 den Rolladen nach unten fahren ließ (James Hardge hat ihn mittlerweile wieder nach oben gezogen - es macht Sinn, die aktuelle Website anzusurfen und etwas zu schmökern). 



“Fuck the genres, I’m still trying to find a good country and western record that I can play in my set, seriously.”(Theo Parrish)

Parrish verzichtet auf seiner Zusammenstellung komplett auf das Hinzufügen elektronischer Spielereien, es gibt keine Upbeat-Versuchungen, keine Abfahrten in House-Gefilde, keine Umleitung über Technohausen. Parrish wählte aus dem Katalog des Labels zwölf  (für die Digital Natives: vierzehn) schwungvolle, energiereiche und gleichzeitig meditative, deepe Tracks aus, die ein deutlich hörbares Gegengewicht zum traditionellen Jazz der damaligen Zeit und zur aufkeimenden Fusionbewegung darstellen, weil sie universeller klingen, zeitloser, bestimmter. Das Herz und die Seele brannten, alles war Sturm und Drang, die Identifikation, der Zorn, der Schmerz, die Stärke und das neu erwachte Selbstbewusstsein: alles musste zwingend ins Außen. 

Diese Songs sind beeindruckende Zeugnisse einer revolutionären, spirituell und künstlerisch aufgeheizten Zeit. 

Und ich frage mich gerade, ob es schon besonders zynisch ist, in unseren heutigen Zeiten des Untergangs sich einen solchen Satz rauszulassen. Was waren das damals eigentlich für Zeiten? 


Erschienen auf Snow Dog Records, 2014.


P.S.: Ein sehr interessantes Interview mit Theo Parrish gibt es übrigens hier zu lesen. http://www.bonafidemag.com/theo-parrish-interview/


15.03.2015

Kanaworms - Die Nachzügler 2014 (1)


Die Geburt der letztjährigen Jahrescharts war auch deshalb eine so schwere, weil mir die Entscheidung hinsichtlich Formaten so schwer gefallen ist. EPs, Compilations, Re-Issues - es hat sich nicht richtig angefühlt, aktuelle und tatsächlich 2014 veröffentlichte Platten nach hinten zu schieben, weil ein zufällig im selben Jahr wiederveröffentlichtes, aber immerhin vierzig Jahre altes Werk den Platz beansprucht. Deshalb, wie so manches Mal in den vorangegangenen Jahren, gibt es auch dieses Jahr einen kleinen Nachschlag.





Earthen Sea - Mirage


Die Vinylversion vermisst gleich zwei Tracks, die in der digitalen Variante als Bonus enthalten sind, und selbst unter dem der Schallplatte beiliegenden Downloadcode verbergen sich nur die vier langgezogenen Ambient/Dub Techno Cuts des US-Amerikaners Jacob Long. Das ist einerseits diskussionswürdig, andererseits und besonders dann, wenn man das Vinyl als Originalversion bewertet, ist das eben das Original. So war's gedacht, so soll's gehört werden.

Und wer sich im sprichwörtlichen Dunstkreis aus sich gefühlt stundenlang entlangwürmelnden Endloskompositionen unter der Meeresoberfläche mit aquatischen und zugleich staubigen Nuancen bewegt, der sollte das hier gehört haben: der ehemalige Bassist der US-Combos Mi Ami und Black Eyes, letztgenannte sogar mit zwei Veröffentlichungen auf dem Washingtoner Vorzeige-Hardcore Label Dischord in den Jahren 2003 und 2004, hat sich mit "Mirage" eine introspektive und beinahe luftleere Musik ausgedacht, die mich vor allem in sommerlichen und nächtlichen Autobahnfahrten konsequent begleitete und begeisterte.

Erschienen auf Lovers Rock, 2014.

07.03.2015

2014 ° Platz 1 ° Brock van Wey - Home



BROCK VAN WEY - HOME


Stellvertretend für alle im letzten Jahr erschienenen Arbeiten von Brock van Wey, also auch für "I'll Only Break Your Heart", "A History Of Distance" und "Tanto", die allesamt unter seinem üblichen BVDUB-Moniker erschienen, steht "Home" seit letztem Februar einsam und erhaben auf dem Gipfel der Platten des Jahres 2014.

Auch das mag niemanden mehr überraschen, der diesem Blog länger als vorgestern folgt, und ich weiß selbst gut genug, dass die Top 3 einfallsreicher hätten aussehen können. Andererseits ist 3,40qm eben kein Webzine und kein Print-Meinungsmacher, die sich mit marktwirtschaftlichen Regeln gekoppelten Musikjournalismus aus dem Pöter schwitzen müssen. Ich muss außerdem keinem "Any Promotion Is Good Promotion"-Modell entsprechen, damit man sich auf Twitter und Facebook darüber streiten kann, welche Platte denn fehlt und welche so scheiße ist, dass sie niemals in einer solchen Bestenliste auftauchen darf. Mir geht es selten um den neuesten und heißesten Scheiß der Stunde, ich schreibe für gewöhnlich auch keinen "Erster!"-Kommentare unter Youtube-Videos. Bitte nicht als Selbstgeilheitsglibber missverstehen - I'm just not like that. Letzten Endes ist das hier ja alles purer Egoismus: ich schreibe über meine Lieblingsplatten. Dass es offensichtlich wirklich Menschen gibt, die das spannend finden - find' ich spannend. Und toll. 


"innerhalb weniger Minuten in einen verletzlichen, grüblerischen, romantischen, introvertierten Menschenklumpen, der in diesen Momenten glaubt, nie wieder eine andere Musik hören zu wollen, als immer wieder nur "Home", in einer nie enden wollenden Schleife, "Spiral Out, Keep Going" (Maynard). Und vor die Tür will ich dann bitteschön auch nicht mehr, denn die Illusion der Schönheit der Welt, der Natur und des Lebens soll bitte von meinem antrainierten, abscheulichen Zynismus verschont werden."

"Home" ist seitdem völlig immun gegen jeden Angriff. Und was man sich alles ungefragt anhören darf: ein öder, billiger, trauriger Kitsch, Fahrstuhlmusik, schlechte noch dazu (wenn's gute geben geben sollte: ich bin offen für Anspieltipps; anscheinend gefällt mir sowas ja ganz gut). Das kann seltsamerweise verletzen, wenn das Ziel der Häme so eng mit einem selbst verbunden ist. Normalerweise ließe sich Dave Wyndorf mit seinem ubiquitär zitierten "It's a satanic drug thing, you wouldn't understand." zitieren und müde mit den Achseln zucken, und dennoch versteht man es nicht ganz. Die Antwort liegt vielleicht in obigem Zitat: mein Zynismus ist in Bezug auf "Home" ausgeschaltet. Ich empfinde das als so rein und wahr und schön, so gänzlich ohne jede Spur von Ironie und anderen Hintergedanken, dass es eine Flanke aufmacht, die sich völlig ungeschützt der Welt zeigt. Emotional nackig. Leichte Beute. Superblödmanns Kryptnonit. 


Ich spüre eine enge und tiefe Verbundenheit mit Brocks Musik - und irgendwie auch mit dem Menschen, der hinter dieser Musik steht. Ich hatte Brock bereits vor einigen Jahren, kurz nachdem mich "The Art Of Dying Alone" so unfassbar hart umgehauen hat, per Email belästigt - und er antwortete sogar; damals schon sehr freundlich und ehrlich glücklich über die Wortmeldung aus dem fernen Deutschland. Nun, knapp fünf Jahre später, hatte ich mich im Dezember 2014, über die ruhigen, und mittels Rotwein und Räucherstäbchen vernebelten Weihnachtstage dazu entschlossen, einen BVDUB-Mix zu erstellen. Kein besonders elaborierter, auf sterilem Untergrund entwickelter Versuch, aber immerhin einer mit Liebe und Leidenschaft für die Frau ausgedacht, die ich mit Leidenschaft liebe. 

Die Idee, diesen Mix im Rahmen der Nummer 1 für "Home" meinen Lesern zur Verfügung zu stellen, ist ja im Grunde keine schlechte, nach weniger erfreulichen Erfahrungen hinsichtlich Copyrights entschloss ich mich allerdings dazu, Brock im Vorfeld zu fragen, ob ich seine Musik für eine Zusammenstellung nutzen und öffentlich machen darf. Nicht nur, dass mich seine erneut hyperfreundliche Antwort für 20 Minuten nach Luft schnappen ließ (Zitat der Herzallerliebsten:"You're starstruck!"), Brock zeigte sich auch damit einverstanden, den Mix zu teilen. 

Brock, I have no clue, if you will ever read this, but: Thank you. It really means a lot.


Hier. Für Euch. Sogar mit Genehmigung vom Chef. Enjoy.



01.03.2015

2014 ° Platz 2 ° Amerigo Gazaway - Yasiin Gaye




AMERIGO GAZAWAY - YASIIN GAYE


"Thank you for flying with Soul Mates. Peace Out."

Spätestens jetzt wird es arg redundant, denn es gab im vergangenen Jahr wenig, was auf Dreikommaviernull.de öfter und vor allem hingebungsvoller abgefeiert wurde als das "Yasiin Gaye" Projekt des US-amerikanischen Rappers und Produzenten Amerigo Gazaway. Ich weiß auch ehrlich gesagt nicht mehr, was es noch zu sagen gäbe. Nicht so irrsinnig kreativ, ich weiß. Aber ich will niemanden langweilen, und ganz ehrlich: vor allem nicht mich. 

Kommt, wir machen es kurz - ihr lest den ganzen Schotter einfach nochmal, beziehungsweise eben nicht, und wer bislang tatsächlich noch so ignorant war, sich jeden im allerbesten Sinne gemeinten Hinweis dahin zu schieben, wo's lustig riecht, für den wird's jetzt allerhöchste Eisenbahn. Dabei ist lediglich zu beachten, dass jede Ausrede inakzeptabel ist.







Ich bleibe dabei: das muss man gehört haben, wenn das Leben wenigstens noch so ein kleines bisschen Spaß macht. Und machen soll. 








Die Bandcamp-Page (mit immer noch einer Menge kostenloser Downloads).


Listen & Enjoy. 


Erschienen auf Amerigo Gazaway, 2014.

24.02.2015

2014 ° Platz 3 ° Melanie De Biasio - No Deal



MELANIE DE BIASIO - NO DEAL


"C‘est pas vraiment du jazz, mais c‘est aussi du jazz."


Es ist beinahe unmöglich, diese Platte in Tageslicht zu hören. Es ist auch ungehörig, diese Platte in Tageslicht zu hören. Streng genommen zerfällt jeder, der diese Platte in Tageslicht hört zu Staub. Oder zu einem Bündel Bio-Knoblauch, als Strafe.

"No Deal" ist Nachtmusik, und so ausgeschrieben ist es fast eine Untertreibung. Nokturn, dunkelrot glühend, intim, gar so intim, dass man fast ein bisschen nervös auf dem Stuhl herumrutscht, weil alles so nah erscheint. Emotional nah. Weil die Instrumente so klingen, als wären sie von einem selbst handgeschnitzt worden. Die Geschichten von Di Biasio so kontemplativ, weil man sie selbst sein Leben lang auf dem eigenen Buckel herumträgt und von ihrer universellen Richtigkeit überzeugt ist, selbst wenn niemand sonst so fühlt. Die Stimme so eindringlich, dass der Atem zu spüren ist. Im Nacken. Im Ohr. Gänsehaut auf den Armen. 

So viel Luft wie hier zu finden und zu hören ist, so wenig Luft ist hier zu finden und zu hören. Selbst wenn der Swing hier und da für ein wenig Raum sorgt, so klaustrophobisch räkelt sich das geknüpfte Netz aus Moll und Hall am eigenen Körper hoch, wenn der Blues wieder das Zepter übernommen hat. Diese Musik kommt aus der Tiefe der Dunkelheit ganz langsam nach oben gekrochen, an die Erdoberfläche. Nur bei Nacht. Dann spannt sie ihre Weisheit über den ganzen scheiß Planeten. 

Und wenn das Timing stimmt, dann hat man nachts um 4 und spätestens beim Ende von "With All My Love", diesem ungeschlagenen Feedbackbrodeln und dem zweifellos besten Moment, der im abgelaufenen Jahr zu Klang wurde, plötzlich das Verständnis für das Kollektiv, für alles und jeden, für jeden Zusammenhang. 

Ein paar Minuten braucht man zum Sammeln der Gedanken. Dann lässt man die Rolläden einfach unten und es geht von vorne los.

Eternal Darkness. 





Erschienen auf Play It Again Sam, 2014.

21.02.2015

2014 ° Platz 4 ° The Life And Times - Lost Bees




THE LIFE AND TIMES - LOST BEES



Wenn ich schon im Jahr 2010 mit einem überraschend trotzigen Unterton schrub, dass ich die Größe von The Life And Times nun schon wirklich oft genug erwähnte, und außerdem auch die folgenden Jahre nicht müde wurde, dem Trio aus Kansas City bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Heiligenschein aufzusetzen, dann, und das muss ich ehrlicherweise zugeben, gehen mir jetzt schon ein bisschen die Superlative aus. Zumal ich "Lost Bees" erst vor wenigen Wochen bereits kommentierte. 

Was sich seitdem verändert hat? Ich habe erstens endlich die Schallplatte von "Lost Bees" auf toll klingendem weißen Vinyl auf dem Plattenspieler liegen, ich habe zweitestestens mittlerweile auch einen Lieblingssong, denn "Bored To Death" trifft mit seiner schwer dampfenden Melancholie und den schönsten Gitarrenharmonien der Welt meine Hauptschlagader wie ein Amboss, und darüber hinaus ist "Lost Bees", wie mir neulich erst auffiel, tatsächlich das einzige 2014 von mir gekaufte Rockalbum - was ein glatter Minusrekord ist. Rock ist tot. Und mit Blick auf das, was 2014 so alles die Kanäle verstopfte: mit was? Mit Recht! Das gilt natürlich nicht für Blank When Zero, die sind cool und am Leben. *hust*

Und es gilt nicht für The Life And Times. "Lost Bees" ist das einzige Lebenszeichen, der einzige Leuchtturm in der Dunkelheit. Fantastische, deepe, völlig klischeefreie Rockmusik zwischen Shoegazer, altem, US-amerikanischem Indierock, Grunge und Alternativerock mit den besten Musikern, die eine solche Musik verdient hat. Kein breitbeiniges Simpelgerocke, eher zurückgezogene, nachdenkliche, melancholische und doch tonnenschwere Rockmusik, die sich immer so anfühlt, als wäre sie aus der Zeit geplumpst. Gitarrist Allen Epley mit einem riesigen Omar-Rodriguez-Lopez-Gedächtnis-Effektboard, auf dem der Mann auch alles ausspielt, was es (alles)(nicht) gibt, ein hypereffektiver Eric Abert am Bass, der beinahe exklusiv stoisch vor sich hinpumpt und mit Super-Drummer Chris Metcalf so wichtig für den Punch der Band ist, einen Punch, der sich durch die Legion von Noise- und Harmonielayern durchtanken darf.

Ein Gesamtkunstwerk. Genau wie dieses Video. Damit sollte dann wirklich alles gesagt sein.





Erschienen auf Slim Style Records, 2014

17.02.2015

2014 ° Platz 5 ° Matthew Halsall & The Gondwana Orchestra - When The World Was One




Matthew Halsall & The Gondwana Orchestra - 
When The World Was One

Wäre ich vor fünf, sechs Jahren zu meinen Vorlieben in Sachen Jazz gefragt worden, hätte ich ohne mit dem Hanfblatt zu zucken irgendwas diffuses von Free Jazz gefaselt, möglicherweise noch unter Erwähnung der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Und es gäbe sogar einige Beweise auf meinem 3,40qm-Universum vorzulegen, beziehungsweise -lesen: Colemans "Free Jazz", Clifford Thornton und sein explodierendes "Ketchaoua"-Manifest oder auch die Schlachtenfummler-Exkursionen von Bassist William Parker. Im Gegenzug konnte ich die von vielen meiner Mitmenschen bevorzugten und von mir etwas despiktierlich genannten Kuscheljazzer nie so richtig verstehen und erfassen. Mir war das immer zu zahm, zu anschmiegsam und auf eine ganz klebrige Art ranschmeißerisch, was die deutschen Mainstream-Jazz-Postillen (for the record: Tautologie) in ihren ausgewählten Themen immer wieder bewiesen: je massenkompatibler, desto wertiger. Für die Auflage. Künstlerisch fand ich das fast immer sehr traurig und öde. 

Mittlerweile ist der Autor tatsächlich fünf, sechs Jahre älter geworden, und ich habe natürlich keine Ahnung, ob das Konzept von der Altersmilde wirklich existiert, aber ich muss unter Berücksichtigung der mir innewohnenden Offenheit, dass es also sicherlich nicht immer bis hin zu fast nie um ein "Entweder-Oder" gehen kann, soll, darf und muss, zugeben, dass ich diejenigen Stimmen, die an der Stelle von Chaos und Ungezügeltheit lieber Ton, Aura und Melodie hören wollten, mittlerweile besser verstehen kann. Es wird hoffentlich nie für Brönners Till reichen, aber für dieses fantastisch strahlende Album des britischen Trompeters Matthew Halsall gleich für die nächsten Jahre und Leben. 

"When The World Was One" war der höchste Neueinsteiger seit so ziemlich immer, praktisch von der 0 auf die 5, würde Der Dieter! Der Thomas! Der Heck! in seine sechs "Linie Aquavit" hineinsprotzen, die als Standgasportion hinter der Hitparadenkulisse auf ihn warteten. Es mag ganz bestimmt nicht der wildeste Ritt auf dem Rücken eines durchdrehenden Pferdes sein, aber ich habe in den letzten Jahren keine schönere und wärmendere Mischung aus modalem Jazz der 1960er und dem spirituellen Jazz der 1970er Jahre gehört, eine Mischung, die einerseits so unprätentiös, andererseits so selbstbewusst klingt, sodass nicht mal eine Sekunde Platz ist für eine ansonsten immanente Käsigkeit und den berüchtigten Muckerkitsch. "When The World Was One" ist eklektischer, nachdenklicher, moderner Jazz - hypnotisch und meditativ, nicht nur mit dem besten, was die britische Jazzszene gerade zu bieten hat - Taz Modi am Piano, Flötistin Lisa Mallett, Luke Flowers (u.a. Cinematic Orchestra) am Schlagzeug, Nat Birchall am Saxofon und Gavin Barras am Bass - sondern auch mit einer entsprechenden Instrumentenvielfalt ausgestattet: Rachael Gladwin setzt ihre Harfe unter anderem prominent und selbstverständlich beim Albumhighlight "Tribute To Alice Coltrane" ein, Keiko Kitamura spielt das japanische Koto, eine mit Seide bespannte Wölbbrett-Zither. 

Wer sich gerne mal ein halbes Fläschchen Tramal einbaut und die nächsten acht Tage ohne Toilettengang zugedeckt im Bett verbringt, weil's so schön entspannt und weil's außerdem ein heimlicher Traum von mir ist, oder morgens zum ersten Kaffee gleich den Lautsprecher ablecken will, weil's natürlich auch ein Traum von mir ist, aber wenigstens einer, der wegen dieser Platte mittlerweile in Erfüllung gegangen ist, der weiß, was jetzt zu tun ist. 





Erschienen auf Gondwana Records, 2014. 

14.02.2015

2014 ° Platz 6 ° Deepchord - Lanterns



DEEPCHORD - LANTERNS


Herausragende Dub Techno-Alben sind rar. Auf das erste Hören drohen die meisten Veröffentlichungen nicht gerade vor Komplexität und Tiefe zu bersten, und wer nicht alle Ohren aufsperrt und die Auseinandersetzung sucht, dem wird grundsätzlich nicht besonders viel einfallen, was über das niederschmetternde Urteil "Fahrstuhlmusik" hinaus geht. Und selbst bei umfangreicher Beschäftigung bleibt oft ein fades Gefühl von Ideenlosigkeit zurück. Ich hatte vor einigen Wochen "Lanterns" als das beste Dub Techno-Album des abgelaufenen Jahres bezeichnet und bereits hektisch mit dem Zaunpfahl gewinkt, dass wir im Zuge der Rückschau einen ähnlichen Satz Anfang 2015 nochmal hier lesen werden. Was hiermit abgehakt werden kann. Denn "Lanterns" ist auf vielen Ebenen ein sehr erfreuliches Werk geworden.

Das kann aber aus meinem Musiksessel heraus nur deshalb abgehakt und hinaustrompetet werden, weil ich mich besonders in den letzten Tagen nochmal ausgiebig um "Lanterns" gekümmert habe. Die glitzernde Fassade, die das Londoner Label Astral Industries um diese Veröffentlichung aufgezogen hat, mag zunächst den Blick vernebeln: ein handgezeichnetes Cover im aufklappbaren, schweren Karton, ein großes Poster mit dem Artwork, zwei Vinylbrocken zu je 180g als Crystal-Edition mit blauen Schleiern auf der einen, und roten Schleiern auf der anderen Scheibe. Dazu gibt's handmasturbierte Exklusivität: es wird niemals einen Repress und niemals eine digitale Version von "Lanterns" geben, sagt das Label - neben MP3 beziehungsweise FLAC fallen also auch CDs flach. Dafür mussten satte 40 Euro gezahlt werden. Unter normalen Umständen packt man sich ja an den Kopf. 

Die Kopfschmerzen lassen nach, wenn der erste Durchgang von Rod Modells erster LP für Astral Industries durch die Denkvorrichtung gezogen ist. Ich höre "Lanterns" nun seit über einem halben Jahr regelmäßig und entdecke bei jeder Wiederholung etwas Neues in dem Kosmos von dürren Verästelungen und schwelenden Glutnestern, und jedes neu hinzukommende Element scheint die Dechiffrierung dieser Musik zu erschweren. Ich war schon oft auf der vermeintlich falschen Fährte, was gemessen an der Komplexität von "Lanterns" nicht weiter verwundert, aber die Endgültigkeit bleibt rätselhaft. Wo sich die ehemals erwähnten Alben von Voices From A Lake, Segue oder Conforce sehr bildhaft entwickeln und ihre Darstellung von Klang stets eng mit Erzählungen und Geschichten verbunden ist, erscheint mir "Lanterns" mittlerweile zwielichtig und in seiner unbeweglichen Morbidität beinahe unheimlich. Ich schrieb im November vom "ziellosen Weg durch den Untergrund der Großstadt", was das Gefühl nach wie vor angemessen beschreibt, das dazu passende Bild jedoch ist ausgegraut und an manchen Stellen schlicht erloschen. Ein Denkmal ohne Geschichte. 





Erschienen auf Astral Industries, 2014.

11.02.2015

2014 ° Platz 7 ° Taylor McFerrin - Early Riser



TAYLOR MCFERRIN - EARLY RISER


Wie der Vater, so der Sohn. Hatte ich auf diesem Blog im Jahr 2009 bereits den Klassiker "The Voice" von Bobby McFerrin lobend erwähnt, ist nun sein Sohn Taylor an der Reihe. "Early Riser" ist sein lange erwartetes und über den läppischen Zeitraum von nur sechs Jahren fertiggestelltes Debut, das im abgelaufenen Jahr auf Brainfeeder erschien, dem Label von Flying Lotus-Vorstand Steve Ellington also, und dabei dessen enttäuschendes "You're Dead"-Album ganz nonchalant und mit samtiger Verve gegen die nächste Wand batscht. 

'Nonchalance' ist dabei ein gutes Stichwort: "Early Riser"  ist, ganz dem Titel entsprechend, Guten-Morgen-Musik für den Winter - ob's für den Sommer genauso gilt, teste ich in ein paar Monaten aus. Wenn Herr Dreikommaviernull seine Tage im Home Office verbringt und morgens gegen 8 Uhr den ersten Kaffee des Tages in der Küche zusammenbraut, danach den Rechner hochfährt, um sich gleich anschließend schon über die ersten Mails zu ärgern, dann war diese Platte in den vergangenen Wochen meistens an seiner Seite und gab ihm trotz des Ärgers und des Stresses ein - Verzeihung für das Klischee: ein gutes Gefühl. Manche Wahrheiten sind eben so simpel.

Wie es bei den vorliegenden Genen nicht zwingend anders zu erwarten war, ist die Musik des Multiinstrumentalisten alles andere als "simpel". Dabei ist "Early Riser" nicht überkomplex, wenngleich die verschachtelten Arrangements nebst den zahlreichen musikalischen Fluchtpunkten und Layern, in denen sich die zwölf Kompositionen bewegen, nicht gerade für Mainstream-Pop stehen. Gleichfalls steht aber auch kein avantgardistisches, experimentelles Album auf dem Programm - viel mehr ist Taylors Debut mit seinem Mix aus Neo-Soul, Jazz, Hip Hop und zaghafter Electronica der Soundtrack für diffuses, zwischen transparenten Gardinen durchbrechendes Licht eines neuen Tages, für zurückgezogene Stunden, für ans Bett gebrachten, frischen Kaffee. Für Schneefall. Für ein heißes Bad. Für einen Bademanteltag. Für einen Kuschelsonntag im Bett mit einem Menschen, den man liebt. 





Erschienen auf Brainfeeder, 2014.

08.02.2015

2014 ° Platz 8 ° Electric Wire Hustle - Love Can Prevail



ELECTRIC WIRE HUSTLE - LOVE CAN PREVAIL


Geschlagene vier Jahren wartete ich auf Neuigkeiten vom anderen Ende der Welt und endlich hatte der Musikgeist 2014 ein Einsehen. Das mittlerweile zum Duo geschrumpfte und live von ex-The Mars Volta Drummer Thomas Pridgen unterstützte Projekt Electric Wire Hustle aus Neuseeland, in meiner 2010er Bestenliste mit ihrem selbstbetitelten Debut immerhin auf Platz 10 gelandet, veröffentlichte im vergangenen Herbst in aller Seelenruhe ihren fast noch besseren Nachfolger - der sich auch gerne weiter vorne im Feld hätte positionieren können, wäre die Konkurrenz nicht so arg groß gewesen. 

"Love Can Prevail" ist im Vergleich zum Debut etwas strukturierter und aufgeräumter, legt aber größeren Wert auf eine Art Progressive-Urban-Soul, der einen Track zwar nicht immer ohne Umwege zum Hit führt, aber eine beeindruckende Langzeitwirkung über das Album ausrollt. Bestes Beispiel ist das zunächst windschief erscheinende Arrangement von "Blackwater", das sich nach einigen Durchgängen so stimmig entfaltet, dass die fünf Minuten nicht nur endlich Sinn machen, sondern ich mich darüber hinaus und noch viel wichtiger an eine Zeit zurück erinnert fühle, in der ich auch die Songs, die nicht ausschließlich für Funk und Fernsehen erdacht wurden, in mein Herz schließen konnte - manchmal sogar mehr, als es bei den Hits der Fall war. Weil sie tiefer gingen, weil sie interessanter waren, vielschichtiger. Der Nerd in uns allen sprach früher von "Albumsongs". Wichtig für den Fluss oder die Story der Platte, aber eben kein "Direct Hit" (Eddie Argos). 

"Love Van Prevail" ist zum Entdecken gemacht, und da ist zwischen RnB, Jazz, Soul, Elektro und Hip Hop einiges zu hören, was es nicht an jeder Straßenecke gibt. 

Ich bin schwer in diese beiden Jungs verliebt. 

Ach so, Video des Jahres, natürlich:



Erschienen auf BBE, 2014.

06.02.2015

2014 ° Platz 9 ° Kelis - Food




KELIS - FOOD

Es wäre naheliegend, "Food" in erster Linie als Baby des Produzenten Dave Sitek zu bewerten, denn die Soundarchitektur, die das Gründungsmitglied der Indie-Stars TV On The Radio auf Kelis' sechstem Studioalbum zusammengebastelt hat, ist - im Fußball würde man sagen: spielbestimmend. Seine Vision trägt die komplette Platte zu jeder Sekunde, ist kohärent und jederzeit stimmig auf jeden Song und jede Performance der Sängerin geschneidert. Dabei, und das darf man bei aller Euphorie über eine große Produktionsleistung nicht vergessen, ist "Food" trotz der Opulenz der Arrangements, der Bläser, der Latin-Einflüsse und der Stilvielfalt erstaunlich bodenständig und unprätentiös. Und das liegt in der Hauptsache an Kelis selbst, die eben genau das ist: bodenständig und unprätentiös. Das erscheint mir der Schlüssel für ein Album zu sein, das im besten Sinne Pop ist, ohne sich dabei auf sensationslüsterne, aber letzten Endes substanzlose Illusionen aus Pomp, Glitter und Glamour zu verlassen. 

"Food" ist mutige und edle Songwritingkunst, in den richtigen Momenten gleichzeitig albern und heiter wie anspruchsvoll und eindringlich. Ich wäre nach "Food" ja sehr dafür, wenn das Team Kelis/Sitek noch für ein paar Platten zusammenbliebe und der Vier-Jahres-Rhytmus für die nächste Platte durchbrochen werden könnte. I want more. 




Erschienen auf Ninja Tune, 2014.

02.02.2015

2014 ° Platz 10 ° Slow Magic - How To Run Away



SLOW MAGIC - HOW TO RUN AWAY



Es war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass "How To Run Away" tatsächlich den Weg in meine Top Ten findet - trotz meiner Wertschätzung für Slow Magics Sound und Vision. Andererseits hat bereits das Debut "Triangle" einen immer noch deutlich hörbaren Nachhall in den letzten Jahren produziert, der mit voranschreitender Zeit immer lauter wurde. Auch daran war bei anfänglicher Beschäftigung nicht wirklich zu denken, aber der schwüle, gefühlvolle Elektro-/Dreampop dieser kleinen Platte entfaltete seine Wirkung bei jedem Durchgang in neuen Stimmungen und Farben.

"How To Run Away" macht das ganz ähnlich und auch hier trifft es mich an einem ganz wichtigen, freigelegten Nerv: die bisweilen süßliche Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, gepaart mit Ausgelassenheit und Lebenslust malen Bilder meiner Jugend in der Sonne vor dem geistigen Auge. Warum diese Flashbacks ausgerechnet bei Slow Magics Musik erscheinen, so klar und deutlich und sich tief in mein Herz eindrehend, dass ich sie weder ignorieren noch erklären kann, finde ich vielleicht erst in ein paar Jahrzehnten heraus; für den Moment bleibt festzuhalten, dass Slow Magics Synthie-Pop viel mehr Tiefgang hat, als es nach den ersten Kontakten zu erwarten war. Eine Platte, mit der man bei Sonnenuntergang an einer romatischen Bucht in Südfrankreich auf das Meer schauen und sein Leben Revue passieren lassen kann. Wenn nicht sogar muss.




Erschienen auf Downtown Records, 2014.