09.06.2012

Faith, Hope & Love by King's X - Teil 1






"...und ihr werdet sie auch noch alle lieben, ich sage es euch!" Till Hofmeister, 1990

"We just can't get the folks on board. Woodstock '94 we played for 300.000 people, and the next week on SoundScan we sold about 200 CDs." Doug Pinnick, 2006


Im Winter des Jahres 1990 entdeckte ich als 13-jähriger Backfisch das Radio für mich, genauer gesagt eine Radiosendung des Hessischen Rundfunks. Till Hofmeister moderierte jeden Sonntagabend (es war doch Sonntags, oder?) für eine volle Stunde (es war doch eine volle Stunde, o...oder waren's sogar zwei?) "HR3 - Hard'n'Heavy" und führte uns alle lange vor diesem verrückten Internet durch die aktuellen Neuerscheinungen, eine Handvoll Klassiker und durch das ein oder andere Special mit vornehmlich einheimischen Bands wie Running Wild oder Headhunter. 

Ein Mal im Monat gab es den spannenden Hörercharts-Countdown; hier machten dann praktisch die Hörer mittels der Einsendungen ihrer 10 liebsten Alben das Programm. Im Rahmen eines solchen Countdowns fand meine erste Begegnung mit King's X statt: auf Platz 13 (es war doch Platz 13, oder?) stand in diesem Monat deren aktuelles "Faith, Hope & Love"-Album, und ich hörte Till zu:"Jetzt kommen wir zu meinen Lieblingen, und ihr werdet sie auch noch alle lieben, ich sage es euch. Hier sind King's X mit "The Fine Art Of Friendship". Ich zeichnete damals jede Sendung auf Tape auf, damit sich meine Mutter auf der täglichen Autofahrt zum Sport mit den neuesten Veröffentlichungen vertraut machen konnte - also all dem, was sie früher oder später sowieso aus dem Kinderzimmer hören würde. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich "The Fine Art Of Friendship" anfangs alles andere als berauschend fand. King's X hatten allerdings damals durchaus das Image, nach dem man ihrer Musik Zeit und ein paar Durchläufe zugestehen muss, bis der Groschen fällt, und dass man aber in diesem eintretenden Fall unsterblich und bis über beide Ohren in die Musik des Trios verliebt sein wird.

Es dauerte keine zwei Wochen und ich kaufte mir von den letzten Ersparnissen "Faith, Hope & Love".

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Meine Liebe zu King's X fand mit der Veröffentlichung des 1994er Albums "Dogman" ihren vorläufigen Höhepunkt. Das Trio klang härter und kompakter als jemals zuvor, und es war vor allem die Produktion, die für reihenweise heruntergeklappte Kinnladen sorgte. Die Gitarren waren tiefer gestimmt und auf diesem dunkler eingefärbten Klangteppich platzierte Gitarrist Ty Tabor einige der fettesten Riffs aller Zeiten. Der Titeltrack wurde zu einem einem kleinen Hit und nachdem sich die Vorgängeralben alle gut bis sehr gut verkauften, stand die Tür zum großen Erfolg in einer durch Grunge und Alternative veränderten Musikwelt sperrangelweit offen. Bei der Wiederauflage des Woodstock-Festivals im Jahr 1994 spielten King's X vor 300000 Menschen. MTV, Howard Stern und USA Today verbreiteten übereinstimmend die Meldung, dass die Band den großartigsten Auftritt des gesamten Tages auf das Parkett legte. In der kommenden Woche nach dem Festival verriet ein Blick auf die Verkaufszahlen von "Dogman", dass lumpige 200 Exemplare über die Ladentheke wanderten. "Dogman" verkaufte sich insgesamt im Vergleich zu den Vorgängern weniger gut. Der Druck nahm zu, das Label wollte endlich einen Mainstream-Hit. Die erste Headlinertournee durch Deutschland wurde zwei Wochen vor Tourneestart ersatzlos abgesagt. Alles wieder auf Null.

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Im Rahmen der Welttournee im Vorprogramm von AC/DC im Jahr 1990 spielten King's X erstmals in Deutschland. Die Tour endete desaströs. Dass die sturen und konservativen AC/DC-Fans die Band nicht mit offenen Armen empfangen würde, war abzusehen, dass dem Trio ein derartiger Hass entgegenschlagen sollte, hatte niemand auf dem Zettel. Als Höhepunkt der Geschmacklosigkeiten wurden King's X beim Auftritt in der Frankfurter Festhalle von den Zuschauern mit Klobürsten beworfen. In der Folge (und durch die Absage der "Dogman" Tour bestätigt), waren Doug Pinnick, Ty Tabor und Jerry Gaskill über 10 Jahre nicht auf deutschen Bühnen zu sehen. Im Sommer 2000 wurden die ersten Konzerte seit der AC/DC Katastrophe angekündigt und diesmal sollte es klappen. Die Batschkapp in Frankfurt war gut gefüllt und als ich mich während "Over My Head" umdrehte, um einen Eindruck von den Menschen hinter mir zu bekommen, sah ich nur eine sich im Rhythmus bewegende Masse Mensch. Der Club bebte. Als die Musiker nach "Over My Head" die Bühne verließen, sang die Batschkapp "Music music, I hear music, music, I hear music, music, music, oohoohohoooo, music over my head" minutenlang einfach alleine weiter. Die Band kam zurück auf die Bühne und stieg wieder in den Song ein. Das war ein Erlebnis von purem Glück. Als der Gig beendet war, verließ ich den Club und stammelte zur Herzallerliebsten in die Frankfurter Sommernacht "D...das ist die groovigste Band der Welt."


To be continued...

07.06.2012

Schweres Metall im Zeichen der Schaufel



NUCLEAR ASSAULT - HANDLE WITH CARE


Ein weiterer Beweis dafür, dass ich mich als zwölf, dreizehnjähriger Jüngling viel zu sehr von den Metalmagazinen wie dem Rockhard oder dem Metal Hammer verschaukeln ließ, ist das dritte Album der New Yorker Thrashband Nuclear Assault. "Game Over", das Debut des Quartetts um den ehemaligen Anthrax-Bassisten Dan Lilker, war eine der ersten Thrash Metal-Scheiben, die ich mir aus dem Plattenschrank meines Bruders zog und noch heute kenne ich fast jedes Riff und jeden Beckenschlag dieses Klassikers auswendig. In den darauffolgenden Jahren blätterte ich mehr und mehr in der Metalpresse, und die Urteile über die jeweils aktuellen Alben Nuclear Assaults kamen entweder immer seltener über "Durchschnitt" hinaus, oder sie galten auch künftig immer als eine kleine Enttäuschung - ironischerweise gilt das nicht für den bis dato vorläufigen und darüberhinaus grob unanständig miesen Schwanengesang "Something Wicked", der von Frank Albrecht 9,5 von 10 Punkte verliehen bekam - da muss der Inhalt einer Juniortüte wohl schlecht gewesen sein. 

Ich ließ also spätere Alben wie "Handle With Care" und "Out Of Order" links liegen und hörte weiter "Game Over" auf Frischhaltefolienstärke 'runter - bis ich mir vor wenigen Wochen "Scheißrein!" dachte und im Falle von "Handle With Care" endlich zuschlug. Einzig mögliche Reaktion nach den ersten Durchgängen: mir eigenhändig das Nudelholz überziehen! "Handle With Care" ist eine Riesenplatte und nur unwesentlich schwächer als "Game Over", die ja zusätzlich den verklärten Klassikerbonus von mir verliehen bekommt. Das Riffing ist nachwievor völlig einzigartig mitreißend, hinzu kommt der originelle Gesang von John Connelly und die gewohnte Crossover-Mischung aus Thrash Metal und Hardcore, die Songs wie "New Song", "Critical Mass" oder "Search & Seizure" (Hölle!) zu furiosen Thrash-Granaten werden lässt. Nächstes Projekt:"Out Of Order" entdecken.

Von Musikmagazinen halte ich mich übrigens schon seit Jahren fern. Ich bin geheilt.


Erschienen auf Under One Flag, 1989.

04.06.2012

Mittelalter



VATICAN SHADOW - KNEEL BEFORE RELIGIOUS ICONS


Es ist jetzt 21:30 Uhr, und die Zeiten, in denen ich mich an einem Freitagabend um diese Zeit auf die vielbeschworene und letztlich doch saudumm benamte "Piste" machte, sind in der Regel vorbei. Stattdessen habe ich mir eben gerade einen schönen Schokopudding gemacht und werde gleich die Kaffeemaschine nochmal anschmeißen. Wie sagenhaft uncool kann man sich bitte mit nur zwei Sätzen machen? Jedenfalls, und das ist jetzt sehr wichtig: "Kneel Before Religious Icons" dreht gerade eine der ungezählten Male auf meinem Plattenteller und macht diesen Augenblick zu etwas ganz Besonderem, denn das ist eine große Platte. Obwohl sie so gar nicht so meinem Schokopuddingirrsinn passen mag, denn die Beats und Sounds, die Dominick Fernow hier auspackt, sind giftig und garstig, bisweilen zerstörerisch und apokalyptisch - das passt nicht zum eingekuschelten Abend im Mai (bei gefühlten 9°C, nebenbei gemerkt).

Erstmals im Jahr 2010 auf Tape erschienen und vor wenigen Wochen via Type auf Vinyl verewigt, verbindet Fernow Elemente des frühen Dark Wave mit der kühl glänzenden Moderne einer Platte von Kangding Ray und packt die Atmosphäre von Dead Can Dance dazu, der er allerdings jegliche Schönheit, und Romantik entzogen hat. Ein gespenstisches, dramatisches und monoton-rituelles Werk. Hört man vorzugsweise....naja: an einem Freitagabend mit Schokopudding und Kaffee. Oder bei einer Kniegelenkspiegelung ohne Narkose, ganz nach Neigung.


Erschienen auf Type 2012.


30.05.2012

Heptadekagon



EVAN CAMINITI - NIGHT DUST


Wenn der Tag geht und ich es mir mit einem Tässchen Fliegenpilzsuppe gemütlich gemacht habe, wenn ich die Allee aus Kerzen vor mir entzündet und die Unterhose gelüftet habe, wenn mich also DIE_WELT mal schön am Popöchen kratzen kann, dann ist die Zeit für ein Album gekommen, das just zu solchen Momenten ganz hervorragend zu funktionieren scheint. Der Sommerabend auf der Couch (weil der Balkon zu klein/zu baufällig/zu tralala ist, Zutreffendes bitte abpausen), die sanft zum Fenster hereinwehende Brise, die Ruhe und die Abgeschiedenheit: ich habe gerade großen Spaß mit "Night Dust". Caminiti untersucht seit 2005 die Auswirkungen von Gitarrendrones und Feedbacks auf seinen Kontostand, Quatsch: die Entwicklungsmöglichkeiten seiner Musik und nach einigen Veröffentlichungen von Barn Owl (zusammen mit dem gleichfalls an dieser Stelle vorgestellten und gefeierten Jon Porras) auf Labels wie Thrill Jockey, Important, Root Strata oder auch Digitalis steht nun das Debut für Immune bereit. 

Aufgenommen auf einem 4-Spur-Kasettenrekorder entwickelt die Art seines Spiels eine eigenwillige Tiefe, als schaue man vom 118.Stockwerk eines Hauses auf ein sechzehneckiges Treppenhaus hinunter. Es funkelt und dreht sich, es verschwimmt vor den Ohren. Also die Musik jetzt. Nicht das Treppenhaus. Mal sind seine oftmals nur angerissenen Klangtürme monumental in die Breite gezerrt, mal glaubt man, die langgezogenen, schwebenden und flächigen Soundscapes könnten über Wasser laufen. Oder sie seien wenigstens im Wasser komponiert worden. Oder noch besser:"Night Dust" klingt, als hätte man Klang "Nass in Nass" auf eine Schallplatte gepresst. Apropos, das Labelinfo schwärmt:

"Mastered and cut to vinyl by Andreas [LUPO] Lubich at D&M in Berlin, pressed on high-quality virgin vinyl at RTI and housed in a heavy-duty old-style tip-on gatefold jacket printed on uncoated stock by Stoughton. Also included is a free download coupon." 

Und was soll ich sagen? Immune frohlocken völlig zurecht. Das Artwork und die Aufmachung des Klappcovers sind eine Sensation, zusammen mit der Musik ergibt sich: pure Schönheit.

Erschienen auf Immune, 2012.

26.05.2012

Pinkish Fucking Black



PINKISH BLACK - PINKISH BLACK

Erst seit einigen Tagen in den vier Wänden, dafür aber umso tiefer im Herzen ist die Platte des texanischen Duos Pinkish Black, bestehend aus Daron Beck (ex-Pointy Shoe Factory) and Jon Teague (ex-Yeti), die zuletzt mit dem leider verstorbenen Bassisten Tommy Atkins als The Great Tyrant auftraten. Ich stolperte nur zufällig über den Bandnamen und das Labelinfo, das von der besten Platte des Jahres (logo!) sprach, und ich wollte wenigstens ein Ohr riskieren, um mich hinterher wie gewohnt künstlich über soviel Realitätsverlust zu beschweren. Es kam alles ganz anders: der Opener "Bodies In Tow" bekam auf Youtube ein verstörendes Video übergezogen und er lässt sich mich seitdem nicht mehr los - eine ganz obskure Mischung aus Dark Wave, Postrock und Doom Metal: monoton, auf's erste Hör nicht besonders komplex, aber der Song lebt. Und er verfolgt dich. Das ist wirklich merkwürdig, ich habe sowas schon lange nicht mehr erlebt, dass mich ein Song so gepackt hat, obwohl die Musik im Grunde nicht wirklich dem entspricht, wofür ich mittlerweile und üblicherweise empfänglich bin. Spätestens wenn die Band im hinteren Drittel die ganz großen Emotionen auspackt und die Gesangsmelodie auf die unendliche Reise in eine andere Zeit schickt, ist alles zu spät. Ein paar Tage später musste ich mich folgerichtig ergeben und bestellte ohne weitere Hörproben das Album (und das alleine könnte einen Hinweis für meine Faszination liefern) und es geht mir praktisch nicht mehr aus dem Kopf. Es ist besonders der Gesang, der mich heiß und fettig werden lässt - hinter einem Nebelschleier im Hintergrund des Sounds versteckt, singt Daron Beck dunkle, geheimnisvolle Melodien, die mich nicht selten an den großartigen Robert Lowe von Solitude Aeturnus erinnern, und manchmal, wie bei "Everything Went Dark" kommen auch mal Candlemass-Harmonien von Messiah Marcolin in den Sinn. Als ich, immer noch reichlich verwirrt über die magntische Anziehungskraft dieser Platte, die Herzallerliebste fragte, ob sie dafür eine Erklärung hat, hörte ich:"Da steckt halt ganz viel drin, was Dir gefällt - Dead Can Dance, Solitude Aeturnus...ist doch logisch, dass Du das magst!" Ja. Irgendwie ist's dann doch logisch.

Seit einigen Tagen ist "Pinkish Black" bei Bandcamp per Download für schlappe 7 US-Dollar zu erwerben - wer bei den oben genannten Bands die Ohren gespitzt hat, der darf beruhigt zuschlagen.


Erschienen auf Handmade Birds, 2012.

23.05.2012

Dream Team




JACKIE MCLEAN - ONE STEP BEYOND


Es ist merkwürdig, ist es nicht? Vor einigen Jahren entdeckte ich den Jazz für mich und im Zuge der Abenteuerreise durch die Jazzplatten dieser Welt rempelten mich die Insassen des Jazzforums von Frank Schindelbeck irgendwann an den Saxofonisten Jackie McLean an. Das war der Startschuss für eine langanhaltende Liebesbeziehung zwischen mir und einem Mann, der letzten Endes zusammen mit vielleicht einer Handvoll weiterer Jazzmusiker dafür verantwortlich ist, dass ich auch heute noch jeden Besuch eines Plattenladens niemals abschließe, ohne nach mindestens eine seiner Platten gefragt zu haben. Überflüssig zu erwähnen, dass ich meistens leer ausgehe; zwar wurden viele seiner Blue Note und Prestige-Arbeiten auf CD wiederveröffentlicht, auf Vinyl wird es aber entweder zappenduster oder zappenteuer. Also blieb mir oft nichts anderes über, als zur schnöden CD zu greifen. Wie auch in diesem Fall.

Was nun merkwürdig ist: "One Step Beyond" steht seit über drei Jahren im Umkreis des CD Players herum, und seit drei Jahren versuche ich erstens diese Musik zu entschlüsseln und zweitens im Anschluss darüber zu schreiben. Und ich habe es bis heute nicht getan - was daran liegen könnte, dass mir für so vieles, was hier passiert tatsächlich die Worte fehlen. Dabei löst alleine die Aufzählung des Line-Ups Lustschreie aus: Neben dem Leader McLean spielen Eddie Khan am Bass, Tony Williams am Schlagzeug, der großartige Bobby Hutcherson am Vibraphon und mein erklärter Liebling Grachan Moncur III an der Posaune. Eine Besetzung, die in ähnlicher Zusammenstellung noch für zwei weitere Alben Bestand hat: McLeans "Destination Out" und Moncurs Meilenstein "Evolution" (hier noch zusätzlich mit Lee Morgan an der Trompete) tapezieren im Prinzip ein ganzes Genre neu zusammen, und wie soll ich's beschreiben? Auf "One Step Beyond" lassen sich zwei Kompositionen des Saxofonisten finden - "Saturday And Sunday", ein flotter Opener mit halsbrecherischem Drumming von Williams, dessen Tom- und Ridebeckenarbeit den Song mit derart viel Drive füttert, dass Eddie Khan im nur im Eiltempo folgen kann. Es wäre ein Erlebnis, alleine die Rythmusspuren dieses Titels zu hören. Dass Kahn zu diesem Zeitpunkt erst seit ein paar Jahren den Bass spielte, erscheint gänzlich unglaublich, aber es ist wahr: er wechselte erst wenige Jahre zuvor vom Saxofon zum Bass. Interessant ist der wahrnehmbare Schnitt zwischen dem, was den Samstag darstellen soll, nämlich eine offene, freundliche Stimmung, während der Sonntag McLeans Erfahrungen seiner Kindheit widerspiegelt, mit zwei Stunden Sonntagsschule und einem anschließenden, dreistündigen Aufenthalt in der Kirche. "After four hours in church, everyone looked like Frankenstein's with whigs and dresses." Die zweite McLean Komposition heißt "Blue Rondo", einer seiner Klassiker und ebenfalls ein wieselflinkes Uptempo-Stück mit stattlicher Hooklinemelodie, die Moncur und McLean spontan entwickelten, während sie mit ein paar Ideen und Melodien herumalberten.

Die große Stunde von Grachan Moncur III schlägt in seinen Beiträgen "Frankenstein" und "Ghost Town". Ersterer ist ein Walzer in dunkel schimmernder Schönheit, "its beauty stands for everything that Frankenstein does not." (McLean), dessen Auftakt und Abschluss wie eine Revuenummer from outer space klingt. Es ist eine schleppende, weite und kaputt wirkende Sause von über 8 Minuten Länge - megakompakt, aber es sind vor allem Hutcherson und Moncur, die paradoxerweise atmosphärisch und tonal diese immensen Lücken reißen. Das ultimativ betitelte "Ghost Town" von Moncur III setzt "One Step Beyond" die Krone auf. Moncur sagte mal in einem Interview, dass er den Songwritingprozess immer als einen Prozess des Malens von Bildern betrachtete, und hier hat er die Geisterstadt punktgenau getroffen. Es weht ein Hauch von Traurigkeit und Isolation durch dieses Bild, die verlassenen und mittlerweile windschiefen Hütten haben bessere Tage gesehen, die Türen und Fenster hängen aus den Angeln - aber da ist auch ein abstrakter und morbider Humor, der sein Werk führt - nicht nur im Besonderen, sondern auch im Grundsätzlichen. Diese fünf jungen Burschen haben damals wirklich nach einem neuen Sound geforscht, ohne gleich die Coleman'sche Freejazz-Keule herauszuholen. Der Weg, den Jackie McLean mit diesem Linie-Up eingeschlagen hat, ist gleichermaßen provokativ wie auch versöhnlich und künstlerisch gleich ein paar Schritte vor der versammelten Konkurrenz der damaligen Szene. Schließlich ist der Titel sicher nicht ohne Bedacht gewählt. "One Step Beyond" wird im April 2013 unglaubliche 50 Jahre alt - bis heute ist es keinen Tag gealtert.


Erschienen auf Blue Note, 1963.

18.05.2012

Let's Talk About Spirits



GIL SCOTT-HERON - SPIRITS


Geld soll man ausgeben. Immer. Ich horte so gut wie nichts, denn das letzte Hemd hat keine Taschen. *phrasenschwein* Und Platten soll man hören. Immer. Ich kaufe nichts, um es hinterher im Schrank verstauben zu lassen. Das passiert sowieso zwangsläufig, weil ich keine 1700 Alben auf einen Schlag hören kann. Aber jede Platte kommt auf den Teller, egal, wie wertvoll sie auch sein mag, sei es monetär oder emotional.

Nun gibt es aber eine kleine virtuelle Schranke in meinem Kopf, die mich vor all zu großen Dummheiten in Sachen Plattenkauf bewahrt. Ab 30 Euro wird die Luft ziemlich dünn, was andererseits auch bedeutet, dass sich Florian mal eine (oder sechs) Thrashplatten zu 25 Euro das Stück rauslässt - ist ja unter 30 Euro. Kurz gesagt: finde ich einen heiligen Gral für einen Preis um die 30 Euro, kann es schon mal passieren, dass ich schwach werde. Vier Mal habe ich die Schranke bisher gerissen und "Spirits" des großen Poeten Gil Scott-Heron ist eine meiner Niederlagen, die spätestens beim Aufsetzen der Nadel in einen triumphalen Sieg umgewandelt wurde. Schlimm genug, dass ich Gil erst mit seinem "I'm New Here"-Album aus dem Jahr 2010 auf das Radar genommen habe, umso besser indes, dass ich seitdem meinem alten Komplettistenwahn verfallen bin und nach und nach seine umfangreiche Diskografie heim ins Reich hole.

"Spirits" wurde im Jahr 1994 veröffentlicht, und wer mich kennt weiß von meiner nasagenwirmal: Macke, dass ich also für gewöhnlich und nicht nur bei Soul/Jazz Musik aus den neunziger Jahren ausgesprochen skeptisch bin, weil viele der alten Stars aus den Siebzigern und Achtzigern schon lange auf der Rolltreppe ins Nichts standen und mit orientierungslosen und anbiedernden Platten krampfhaft versuchten, wie der neue heiße Scheiß zu klingen. Das Rad drehte sich 1994 eben schon deutlich schneller als 1974 - und nicht alle konnten mit der Geschwindigkeit umgehen. Ich hatte das Album, mit dem Scott-Heron nach seinem "Moving Target" Werk und damit nach zwölf Jahren Studiopause wie aus dem Nichts wieder an die Oberfläche der Musikwelt zurückkehrte, schon seit einiger Zeit auf dem Zettel. Nicht zuletzt wegen genau dieser Geschichte: da taucht einer unter, tourt hier und da mal um die Welt, schüttelt sich für das Anti-Apartheidsalbum "Sun City" eine Textzeile wie "The first time I heard there was trouble in the Middle East, I thought they were talking about Pittsburgh." aus dem Ärmel, wird 1985 von der Plattenfirma aus den Verträgen entlassen und steht ausgerechnet 1994 mit neuer Musik wieder auf der Matte, als der sozial- und gesellschaftlichskritische Hip Hop der East Coast gegen den Gangstaschrott der West Coast allmählich ins Hintertreffen geriet. Scott-Heron galt nicht erst seit gestern als einer der Urväter der Hip Hop-Bewegung (auch wenn er es nicht gerne hörte, als solcher bezeichnet zu werden), und das erste Stück von "Spirits", "Message To The Messengers", spricht genau die Generation schwarzer Jugendlicher an, die plötzlich den Faden aus der Hand legte
und mit Waffen auf die eigenen Reihen losging:

Hey, yeah, we the same brothas from a long time ago
We was talkin' about television and doin' it on the radio
What we did was to help our generation realize
They had to get out there and get busy cause it wasn't gonna be televised
We got respect for you rappers and the way they be free-weighin'
But if you're gon' be teachin' folks things, make sure you know what you're sayin'
Older folks in our neighborhood got plenty of know-how
Remember if it wasn't for them, you wouldn't be out here now
And I ain't comin' at you with no disrespect
All I'm sayin' is that you damn well got to be correct
Because if you're gonna be speakin' for a whole generation
And you know enough to try and handle their education
Make sure you know the real deal about past situations
It ain't just repeatin' what you heard on the local TV stations
...Sometimes they tell lies and put 'em in a truthful disguise
But the truth is that's why we said it wouldn't be televised

(...)

And if they look at you like you're insane
And they start callin' you scarecrow and say you ain't got no brain
Or start tellin' folks that you suddenly gone lame
Or that white folks had finally co-opted your game
Or worse yet implying that you don't really know...
That's the same thing they said about us...a long time ago
Young rappers, one more suggestion before I get out of your way
But I appreciate the respect you give me and what you got to say
I'm sayin' protect your community and spread that respect around
Tell brothas and sistas they gotta calm that bullshit down
Cause we're terrorizin' our old folks and brought fear into our homes
And they ain't got to hang out with the senior citizens
Just tell them, ?Dammit...leave the old folks alone?


"Message To The Messengers" setzt damit ein erstes Ausrufezeichen auf einem frischen, wachen und zeitlosen Album. Der Titeltrack ist ein smoother, deeper Jazz-Schlitten aus der Feder von John Coltrane, "Give Her A Call" eine soulige Ballade für nächtliche Listening Sessions an der Lavalampe. Die beiden weiteren Höhepunkte finden sich auf der B-Seite: Die Trilogie "The Other Side" ist ein ausuferndes Remake seines alten Klassikers "Home Is Where The Hatred Is", in dem Gil auch seine eigenen Drogenprobleme thematisiert, und das einsichtige und gleichzeitig optimistische "Don't Give Up", für das er sich Ali von A Tribe Called Quest an seine Seite holte, klingt überraschend modern, ist dabei hochmelodisch und vielleicht die beste Nummer des Albums. Im Vordergrund der Produktion steht natürlich seine einzigartige, angekratzte und beschädigte Stimme, ein Instrument, das in seiner Ansprache lauter ist als das ganze Orchester, das den Boden dieser exzellenten Kompositionen aufbereitet.

Don’t give up
Yes it’s time to stop your fallin’
You’ve been down long enough
Can’t you hear the spirits callin’
Yes it’s the spirits
Can’t you hear it
Callin’ your name
Yeah talkin’ bout spirits


Gil Scott Heron starb am 27.Mai 2011, und ich glaube, wir haben noch nicht ganz verstanden, welchen Verlust wir damit erlitten haben.

Meine Entdeckungsreise hingegen hat im Grunde gerade erste begonnen, so bring it on!

Erschienen auf TVT, 1994.

13.05.2012

Schlaflos in Stammheim

Für den morgigen Montag, 14.5.2012, hat die ehemalige Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes Verena Becker angekündigt, vor dem Oberlandesgerichtes in Stuttgart-Stammheim eine Aussage hinsichtlich der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback im Jahr 1977 zu tätigen.

Nun ist es nichts umwerfend Neues, dass die Rote Armee Fraktion spätestens ab der sogenannten "2.Generation" vom Verfassungsschutz gesteuert wurde, und es ist ebenfalls keine Überraschung mehr, dass es die sogenannte "3.Generation" der Roten Armee Fraktion nie gegeben hat, jedoch ist es durchaus die Investition von 20 Minuten Lebenszeit wert, sich den hier verlinkten Podcast vom Deutschlandfunk (10.5.2012) nebst der gleichfalls verlinkten Abschrift anzuhören, respektive durchzulesen.

Appetithäppchen gefällig?

"Im Oktober 2010, eine Woche nach Prozessbeginn, taucht plötzlich das Tatmotorrad auf, eine 750er Suzuki. Es galt eigentlich als verschwunden. Sein Besitzer hat sich gemeldet und dem Gericht die Maschine zur Verfügung gestellt. Jetzt erfährt man auch, dass die Bundesanwaltschaft das Motorrad 1982 verkauft hatte."

Die einzigen, die den Braten ganz offenbar riechen und ihn vor allen Dingen aufdecken wollen, sind die Hinterbliebenen der Opfer: Michael Buback, der Sohn des Opfers hat sich mittlerweile, wie im Bericht richtig kommentiert, von einem Nebenkläger zu einem Ermittler entwickelt. Und auch Ina Beckurts, die Ehefrau des gleichfalls ermordeten Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts, äußert die Hoffnung über einen demnächst stattfindenden "Paukenschlag", der alles aufklärt.

Was es da wohl morgen vor Gericht zu hören gibt? Und wird die Öffentlichkeit wieder ausgeschlossen? Das sind so Fragen...


Podcast zum Download: http://t.co/SqZtnu7O

Die Abschrift: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1753424/

Dauerwerbesendung



UBIQUITY RECORDS

Das kalifornische Label Ubiquity Records hat mich in den letzten Jahren mehr als ein Mal mit Ihren unter Vertrag stehenden Bands und deren Platten begeistert. Ich denke nur an das Orgone-Kollektiv und dessen großartige "Cali Fever" Platte aus dem Jahr 2010, über die ich strenggenommen auch gerne mal ein paar Worte verlieren könnte. Oder die beiden Platten von Nico Schabels Radio Citizen, "Berlin Serengeti" und "Hope & Despair". Ubiquity halten besonders nach Acts in den Bereichen Soul, Jazz, Funk, Latin und den psychedelischen Zwischentönen Ausschau und ab und an taucht wie mit dem Duo Jed & Lucia auch mal ein angefolkter Singer/Songwriter-Entwurf in der Arschwacklerparade auf.

Das Ehepaar veröffentlicht im Juni sein neues Album “It’s A Wonder”, das wie bereits der primagute Vorgänger "Superhuman Heart" via Ubiquity erscheint. "Superhuman Heart" war geprägt von viel nerdigem Gefühl, von leiser Britzelelektronik und tollen, manchmal gar nicht so unpoppigen Nebelweltmelodien. Sowas hört man im Frühling oder im Sommer morgens im Bad, bevor man sich auf den Weg zur Arbeit macht.

Als Appetithäppchen für "It's A Wonder" gibt es nun für kurze Zeit den Titeltrack bei der Klangwolke zum kostenlosen Download. Ein kleines, windschiefes Liedchen mit einer überraschenden Dub-Note.



Freunde von Psych-Soul/Funk dürfen sich außerdem das Debutalbum der Monophonics aus der Bay Area auf die Einkaufszettel-App meißeln. Die Coverversion des alten Cher-Klassikers "Bang Bang" ist mir persönlich zwar eine Spur zu mellow und zu woodstocky (Copyright, again!), aber die erste Single "There's A Riot Going On" überzeugt auf ganzer Linie. Dem ein oder anderen mag indes der Bums fehlen, ich hingegen freue mich darauf, mit der Platte ein paar laue Sommernächte zu verbringen.






Zu guter Letzt veröffentlicht Ubiquity im Juni 2012 eine Vinylausgabe von "Ronn Forella...Moves!" des Broadway Musikers Thom Janusz; ein Album das in den 70er Jahren bei dem mittlerweile aufgelösten Hoctor Records erschien und in den letzten Jahren als begehrtes Sammlerstück galt - und wir reden hier von Preisen, die zwischen 500 und 700 Dollar pendeln.

Auf der Ubiquity Homepage gibt's das 6-Track-Album für schlappe 5,49 Dollar zum Download, wer vorher reinhören möchte, ist mit "Crystals" bestens bedient.

12.05.2012

Beatschmiede aus der Unterwelt


CLAMS CASINO - INSTRUMENTALS

Zugegeben, mir fehlt eine Spur, oder gleich eine ganze Autobahn der Phantasie, die es vermeintlich benötigt, sich dieses Beatgewurschtel des US-amerikanischen Knöpfchendrehers Clams Casino mit passendem Wortgewurschtel, also Raps und/oder Stimme ("Hallo 3,40qm, haben Rapper keine Stimmen? Grüße, Eumel" - "Hallo Eumel, Nein.") vorzustellen. Wo wären wir damit eigentlich? Kratzen wir da am leider immer noch aktuellen R'n'B, oder hätten wir damit den nächsten Rap-Superstar, der mit einer Bruttoregistertonne Empathie und Sensibilität die Antithese zu dem ganzen erbärmlichen Entwurf des Gangsta-Raps stellt? Oder hätten wir es gar mit einem weichgespülten Trent Reznor (Tautologie!) kurz nach der Scheidung/Schließung des Fitnesscenters zu tun? Okay, das war fies. Man könnt's ja eigentlich ganz entspannt nachhören: Lil B, The Jealous Guys, Main Attrakionz, Soulja Boy - alle haben sich ihren Beatteppich von Clams Casino knüpfen lassen. Und fickende Hölle: was eine Handvoll Raps mit so einem Song anstellen können.

Wer sich bei den hier zu hörenden Versionen, die ohne Gesang auskommen, nach Struktur und Formeln, nach etwas Handfestem und Vertrautem sehnt, der muss sich also für "Instrumentals" ein klein wenig kopfüber vom Balkon des Strandhotels "Bon Voyage" baumeln lassen und das Hirnkasterl im Känguruhbeutel liegen lassen. Da ist einerseits dieser dreamy-pop Sound, der sich durch das Groovegeschubber schlürft wie ultradickes Sahnesteif, durchaus zielstrebiger als Balam Acabs Unterwasser-Landschaftsbild "Wander/Wonder", gleichzeitig aber auch einen aufschubbernden Durchsatz in dunkle Ecken und Hipstersphären vorführt und daraus etwas entwickelt, das zunächst ein wenig neben der Spur, etwas unwirklich klingt. Soulja Boys "All I Need" könnte problemlos als neueste Tri Angle-Entdeckung durchgehen, und wenn man anstatt Lil B lieber Phil Collins über das nokturne "What You Doin'" hätte singen lassen, wäre das die völlig einleuchtende Hintergrundmusik zu einer Miami Vice-Folge, in der Crockett mit seinem schwarzen Ferrari durch die Nacht fährt, kurz nachdem er einen Korb oder kein sauberes Sakko mehr bekommen hat. Und apropos Tri Angle: die Nachfolge-EP "Rainforest" erschien - surprise, surprise! - genau dort.

"Instrumentals" lebt auf jeder Ebene in der Zwischenwelt: es sind nich nur die Originalversionen, deren überraschende Musikalität und Tiefgang für eine angenehme und phantasievolle Reibung mit den monotonen, sturen Raps sorgen. Es sind auch die ganz urprünglichen Sounds und Beats, die mit viel Weitblick und Leidenschaft für einen kreativen Big Bang ausgetüftelt wurden.

Da hat einer noch was Großes vor.

Erschienen auf Type, 2011.

05.05.2012

Der folgende Text ist für Leser unter eineinhalb Jahren nicht geeignet

Jajaja, ich weiß schon: Listen sind eine Pest und wenn man drüber spricht, kann man auch gleich Taubenflügel an Ratten drankleben und sie quer durch Welt fliegen lassen, also: drüber reden macht alles noch viel schlimmer. Das alte Marketing-Prinzip. Aber da müssen wir wieder gemeinsam durch, ich glaub' an Sie und ich zähl' solange.

Dabei möchte ich über die Liste, die ich an dieser Stelle und in wenigen Minuten in der Luft zerreißen werde, eigentlich auch gar nicht reden - sie gehört eingestampft und ausgelacht und als Konfetti in einem Striplokal auf Malle oder auf einer öffentlichen Toilette benutzt, und die Damen und Herren von der SPINnerten Hipsterfront, die sich diesen frechdummen Scheißmuff aus ihren mit rosafarbenem Blubberwasser gefüllten und ganz offenbar lediglich rudimentär entwickelten Denkmurmeln haben saugen lassen, können sich mal schön mit dem A-A von Gottlieb Wendehals einreiben und danach auf einen Kinderspielplatz gehen - in der Liste der 100 besten Gitarristen aller Zeiten taucht die Vollnuss SKRILLEX auf, ein Name, der Ihnen mit Recht nichts sagt; der 2005 verstorbene Voivod Gitarrist Piggy musste draußen bleiben.

Sowas gehört sich einfach nicht, Ihr Bumshasen.

Mehr hätte ich jetzt auch gar nicht zu sagen. Guten Abend. *nick*

29.04.2012

Pech & Schwefel



OVERKILL - THE ELECTRIC AGE

Chartplatzierungen sind im Metal seit einigen Jahren schwer en vogue. Das ist in einer Szene, die sich gerne als besonders unangepasst und rebellisch geriert nicht nur kurios, sondern auch noch ein klein wenig lustig. Ich vermute dahinter den Wunsch, Rückschlüsse auf die Verkaufszahlen ziehen zu können, Zahlen, die von Labels und Bands traditionell im Atombunker aufbewahrt werden - was in den meisten Fällen angesichts der zu vermutenden eher suboptimalen Ergebnisse sicherlich nachzuvolliehen ist. Und machen wir uns nix vor: wir alle wüssten gerne, was die ein oder andere Lieblingsband so an Tonträgern/Downloads vertickt. Die wiedererstarkte New Yorker-Thrashlegende Overkill hat mit ihrem sechzehnten Studioalbum erstmals in ihrer 32 Jahre andauernden Karriere tatsächlich die US-amerikanischen Billboard Top 100 geknackt und fand sich in der ersten Veröffentlichungswoche auf Platz 77 wieder. Das ist für eine Band, die nicht nur für mich spätestens ab der äußerst uninspirierten und ausgebrannten "From The Underground...And Below" Platte von 1998 praktisch weg vom Fenster war, höchst überraschend, um nicht zu sagen sensationell. Und man fragt sich, warum das dem bisher meistverkauftesten und gleichzeitig umstrittensten Album "I Hear Black" von 1993 nicht gelang. Wie kommt's also? Warum erleben die alten Säcke ausgerechnet jetzt ihren zweiten Frühling, wo doch Mitte der Nullerjahre nur noch die hartgesottensten Alleskäufer ihre Kröten für eine neue Overkill-Scheibe über den Tresen warfen?

Die Antwort liegt im letzten Album "Ironbound". Nuclear Blast nahmen sich der beinahe toten Band an und ließen ganz offensichtlich wenigstens soviel Vorschuss springen, damit sich Sängerlegende Blitz nebst Gefolgschaft wenigstens mal wieder sowas wie einen Sound auf einem Album leisten konnten. Zusätzlich warf das Donzdorfer Label ihre berüchtigte Promomaschine an, und Overkill verwendeten ein paar mehr Elemente des klassischen Heavy Metals als üblich in ihren Songs. Eingänge Refrains, hier und da gab es melodische Twinguitars und die besonders zur Frühphase der Band typischen Mitgröhlnummern nebst passenden "United We Stand"-Lyrics. Und ein paar alte Exodus-Riffs hat man auch noch in der Studioschublade gefunden. Wo bereits "Ironbound" sehr erfolgreich war, fährt "The Electric Age" nun die Früchte dieser Taktik ein - die Produktion ist im Vergleich zum Vorgänger vor allem im Schlagzeugbereich druckvoller und moderner (was wenig überraschend zu Lasten der Natürlichkeit geht), und die Riffs versprühen stellenweise den Glanz alter Großtaten, als die New Yorker ihren Punk und Hardcorewurzeln noch etwas mehr Auslauf gönnten. Die Band hat außerdem alle verfügbaren Handbremsen gelöst und brettert furios durch zehn neue Kompositionen.

Ich war ja bisher immer der Ansicht, dass ein Overkill-Album immer nur so gut ist wie die Gitarristen, die auf ihm spielen. Für mich ist der Ur-Gitarrist und ehemalige Hauptsongwriter Bobby Gustafson mit seinem Einfallsreichtum und seinem einzigartigen Sound immer noch das Maß aller Shreddinge (beanspruche erneut Copyright!); das Nachfolgerduo Merrit Gant und Rob Cannavino benötigte auch dementsprechend zwei Alben Eingewöhnung, bis sie sich auf dem 1994er "W.F.O." in voller Pracht ins Nirvana riffen konnten. Deren Nachfolger Joe Comeau und Sebastian Marino wiederum konnten sich auf den schwachen Alben "The Killing Kind", "From The Underground...And Below" und "Necroshine" nicht entscheidend durchsetzen, und das nun seit 2001 existierende Duo Derek Tailer und Dave Linsk hat die vier Alben andauernde kreative Schwachstelle an den sechs Saiten erst mit "Ironbound" dichtmachen können. Mittlerweile sind die beiden zu einem prächtigen Gespann herangereift, inklusive der immer wieder zu hörenden spirituellen Verneigung in Richtung alter Riffs von Bobby Gustafson.

"The Electric Age" hat zweifellos Charme; Overkill klingen ganz im Gegensatz zu den Comebackalben ihrer ollen Thrashkollegen wie Forbidden oder Heathen, als seien die Buben in den letzten 20 Jahren eingefroren gewesen und nun pünktlich zum Studiotermin aufgetaut worden. Ich bin wirklich ein überkritischer Penner mit absoluten Vollhohl-Maßstäben, wenn es um meinen alten Liebling Thrash geht, aber es ist wirklich verblüffend, wie frisch und kraftvoll die alten Säcke immer noch oder schon wieder klingen. Das ist auch der Grund, warum die Platte wirklich soviel Spaß machen kann. Selbstverständlich gibt es die üblichen Unzulänglichkeiten - der Sound ist mir persönlich zu klinisch und zu modern, die Kosakenchöre funktionieren nicht, die Selbstzitate nehmen fast schon Maiden-typische Ausmaße an und insgesamt dauert das Album wieder mal viel zu lange, aber es ist die wie Pech und Schwefel herabregnende Energie und die Power, die vieles wieder wett und "The Electric Age" zur vielleicht besten Overkill-Scheibe seit dem 1994er "W.F.O." macht. Das ist ganz bestimmt mehr, als ich überhaupt nochmal von einem Overkill-Album erwartet hätte, weshalb sich die Platte sicherlich noch das ein oder andere Mal im Player drehen darf. Hut ab.

Erschienen auf Nuclear Blast, 2012.

22.04.2012

In eigener Sache - Sun Never Sets

Meine kleine Band Sun Never Sets stand am gestrigen Abend als Support der Amirocker von Red auf der Bühne. Das Frankfurter Bett war beinahe ausverkauft, die Stimmung war super - vielen Dank an alle, die mitgeholfen haben, dass es ein prima Abend wurde. Ein besonderer Dank gilt unserem Tonmann Kevin, der uns unter Zeitdruck und widrigen Bedingungen einen astreinen Sound zusammenzimmerte!

Anbei der Link zu ein paar Fotos unseres Auftritts, die von Jens Müller ( http://in-szene.fotograf.de) geschossen wurden. Vielen Dank, Jens!

Sun Never Sets - Live am 21.4.2012 im Bett, Frankfurt