WARDOWN - III
"Most of us will reach a certain point in our living where if we can't figure out how and where to place our nostalgia it will completely overwhelm us." (Renee Gladman)
NOSTALGIE
Substantiv, feminin [die]
vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wieder belebt
Der dritte und letzte Teil der Wardown-Trilogie des britischen Produzenten Pete Rogers erschien Mitte Dezember des vergangenen Jahres und kam mir damit für die offizielle Bestenliste leider zu spät auf den Plattenteller. Die beiden Vorgänger I und II zählen für mich zu den beeindruckendsten Elektronik-Alben der letzten fünf Jahre. Zum einen, weil die hier behandelten Themen der "Sehnsucht", ein Begriff, den Rogers in Interviews oftmals explizit auf Deutsch verwendet, weil die englische Sprache keine adäquate Übersetzung vorhält, sich bis in die hintersten Ecken meiner eigenen Echokammer ausbreiten konnten und dort sofort Verbindung mit mir aufnahmen. Zum anderen, weil die gesamte Ästhetik, von den Cover-Artworks bis hin zu den ausgewählten Sounds für diesen Ambient- und Drum 'n' Bass-Hybriden, sein Storytelling so überzeugend und transparent machte. Ich verstand damit tief im Innern, was Rogers mit diesen Projekten aussagen wollte, und je älter ich werde und je klarer sich damit das Sentiment der Nostalgie auch in mir selbst zeigt, desto größer wird die Anziehung, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Das war und ist erstens nicht immer angenehm - das eigene Spiegelbild zeigt bei entsprechenden Lichtverhältnissen und Perspektiven leider nur zu ungnädig auch jene Bereiche, die man am liebsten gar vor sich selbst versteckt hält, ganz zu schweigen von der Außenwelt. Was sagt es über mich, wenn die Gegenwart offenbar so unerträglich scheint, dass selbst die Reise ins bereits Ge- und Erlebte, ins Vergilbte, Ausgegraute und Vergangene mehr Attraktion verspricht, mehr Reizpunkte triggert und gleichzeitig paradoxerweise als stark wirkendes Sedativum Einsatz findet? Es zeigt mir zweitens auch, wie flüchtig diese Empfindungen tatsächlich sind. Sie offenbaren sich im Grunde fast immer nur als diffuses Grundrauschen, das sich einer konzentrierten Anschauung stets in dem Moment entzieht, in dem eine Struktur oder ein Muster vergrößert werden will. Rogers beschreibt dieses Phänomen in seinem lesenswerten Interview mit Ryan Griffin von A Strangely Isolated Place wie folgt:
"But it’s a very hard thing to accurately pin down and describe. I sometimes feel as though to get a sense of it I have to look out of the corner of my eye, as when I try and focus directly on it, it disappears. It’s often a very fleeting feeling brought on by certain scenes in the world, weather, photographs, old films. A kind of bittersweet, melancholy feeling about the past and things that have been lost. But quite often it’s a longing for things I’ve never personally experienced or may never have even happened."
Wardown III erscheint mir im Vergleich mit den beiden Vorgängern etwas schwieriger zu dechiffrieren zu sein. Blickte Rogers auf dem Debut in seine eigene Vergangenheit zurück und vertonte weichgezeichnete Kindheitserinnerungen mit bittersüßem Schmelz, beschrieb er für "II" die Zukunft aus der Perspektive früherer Generationen und stellte damit eine Form der Nostalgie in den Mittelpunkt, die als seitenverkehrtes Negativ die unbekümmerte Naivität und Euphorie aus der Vergangenheit mit einer trostlosen Gegenwartsanschauung verknüpfte, in der all die hoffnungsvollen Visionen als unerreichbare Utopien, als Fiktion entlarvt wurden. Für "III" zeichnet es sich hingegen ab, als sei Rogers nun endgültig auf der Rückseite einer Landschaft angekommen. Die Stimmung ist trüber als zuvor, so als wäre man von der Erkenntnis überrannt worden, dass der zweite Teil des Wortes "Sehnsucht" der eigentliche Bedeutungsvektor ist: eine Sucht. Eine Flucht. Ein Eskapismus. Vielleicht auch eine Überlebensstrategie; der letzte Strohhalm, an den sich geklammert wird, weil die Kälte und Gleichgültigkeit der Gegenwart mit der Erinnerung an eine Vergangenheit kollidiert, in der Bedeutung und Bestimmung die zumindest virtuellen Grenzen der Zielkorridors waren. "Everything has their cycle. They have their beginning, they have their end." heißt es in "39 to Beam Up". Und anschließend, über unheilbeschwörendes Sirenengeheul: "Planet Earth. About to be recycled. Your only chance to evacuate is to leave...with us."
Der Klappentext zu "III" liefert zusätzlich zwei Zitate als potentielle Leuchtfeuer.
Nummer eins stammt aus dem Buch "The Ruins Of Nostalgia" der Autorin Donna Stonecipher aus dem Jahr 2024:
"We felt like nostalgic futurists, one half of our bodies aimed with hope at the prospect of future utopias, one half aimed with dread at the prospect of future utopias, torquing ever backward at an inexorably receding past"
Nummer zwei wurde dem im Jahr 1975 erschienenen Buch "Light Years" des US-amerikanischen Schriftstellers James Salter entnommen:
“We’re entering the underground river,” she said. “Do you know what I mean?”“Yes, I know.”“It’s ahead of us. All I can tell you is, not even courage will help..."
Mir erscheint vor allem der Verweis auf "Light Years" zentral für die Entschlüsselung zu sein. Salters Roman beschreibt vordergründig den langsamen Zerfall einer Ehe und erzählt von einem scheinbar perfekten und idyllischen Leben einer Familie im Osten Amerikas, über das sich über die Jahre flächendeckend Risse ausbreiten, das sich entzweit und immer weiter in Kleinpartikel zerstreut bis hin zur schlussendlichen Auflösung und Auslöschung. Die Unterströmung von "Light Years" hinterfragt hingegen jene Aspekte unseres Lebens, den wir als essentiell an- und hinnehmen, denen wir eine oberflächliche Relevanz beimessen, ohne die eigentliche Tragweite ihrer existenziellen Bedeutung erfassen zu können. Deren Gewicht bestimmt ist von performativem Verhalten, von falscher Loyalität, vom Festhalten am Status Quo. Und deren Betrachtung letzten Endes von Zukunftsängsten und von der oft so tiefsitzenden Furcht von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bestimmt ist.
Ich empfinde das Eintauchen in die Themenwelt der Wardown-Alben als großes Glück. Es fordert mich heraus. Es provoziert mich. Gleichzeitig gibt es mir einen Anker zur Reflektion und einen Ausblick darauf, wie ich leben möchte.
Und wer sich jetzt fragt, ob's denn nicht auch eine Nummer kleiner ginge...?!
Nein, eigentlich nicht.
Erschienen auf Blu Mar Ten, 2024.
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