DOOL - THE SHAPE OF FLUIDITY
"Immer weiter abgeschwiffen. Alles schrumpft. Stetig." (Antitainment)
Jetzt haben sie mich endlich doch noch gekriegt.
Ihr Auftritt auf dem Rockhard-Festival 2018, der vom WDR Rockpalast mitgeschnitten wurde und HIER auf Youtube verfügbar ist, war mein Erstkontakt mit diesem Quintett aus Rotterdam. Und ich war beeindruckt, vor allem davon, wie geil die alle auf der Bühne aussahen. Outfits, Bewegungen und Attitüde schienen zwar durchaus choreografiert, wovon die Authentizität jedoch keinen Kratzer abbekam. Die Band platzt vor Selbstbewusstsein und spielt mit einer Überzeugung, als hänge ihr Leben von jedem gespielten Ton ab. Damit bekommt man mich immer an den Haken. Und mit diesem etwas vernebelt wirkenden progressiv-verschnörkelten Doomrock dann eben irgendwie auch.
Auf ihrem Debut "Here Now, There Then" konnte ich von dieser Magie leider nur noch wenig spüren. Auch Dool kämpften offensichtlich seinerzeit damit, das Durchsetzungsvermögen von der Bühne ins Studio zu rollen. Als 2021 der Nachfolger "Summerland" erschien, und ich immer noch keinerlei Verbindung zu ihren Studioalben aufbauen konnte, strich ich die Segel. Sowas gibt's eben manchmal, aber im Falle Dool war das schon ein bisschen tragisch. Ich gebe zu, dass ich ab der ersten Minute des Rockhard Mitschnitts fasziniert war von der Band. Dass es musikalisch zunächst nicht funken wollte, nagte ein bisschen an mir. Ich wollte die doch gut finden?!
Mit "The Shape Of Fluidity" änderte sich das alles.
Die Eindringlichkeit, der Drang, der "Pull" des Openers "Venus In Flames" steht exemplarisch für das ganze Album, gerät der Einstieg in den siebenminütigen Song doch zu einem der unwiderstehlichsten Momente der Rockmusik der letzten 25 Jahre. Der Drive mit seiner derart viehischen und nach vorne peitschenden Urgewalt nach dem kurzen Intro lässt Dich durch fucking Panzerglas marschieren, bevor der praktisch ansatzlos aufs Spielfeld geworfene Refrain trotz seiner melodischen Öffnung die Intensität unglaublicherweise noch weiter nach oben schraubt. Eine kleine Erlösung erlebt man erst zur Songmitte, wenn sich sowohl die Wucht als auch das Tempo etwas einbremsen und sich gemeinsam auf das große, hymnische Finale vorbereiten, das mit großer erzählerischer Raffinesse inszeniert wird: atmosphärisch stehen wir am Ende der Geschichte, am Ziel einer langen und beschwerlichen Reise. Wir sind angekommen. Wir können durchatmen. Emotional hingegen fühlen wir die Spannung, die Friktion. Es fühlt sich paradoxerweise nach Aufbruch an, nach Öffnung, vielleicht ist sogar ein wenig provozierend.
Kompositorisch ist Dools Musik nicht gerade unterkomplex, das war sie noch nie. Ein paar Schlenker muss man also schon mit ihnen mitlaufen, um nicht abgehängt zu werden. Aber sie können es sich aus gleich zwei Gründen leisten. Erstens spielen hier technisch herausragende Musiker, die stets in der Lage sind, die Metaphorik von Ravens Texten für die große Bühne musikalisch zu inszenieren und sie sicher durch sämtliche emotionale Aggregatzustände zu leiten. Zweitens sind die Songs auf "The Shape Of Fluidity" mit Hooklines geradewegs übersäht. Das hilft zunächst bei der Orientierung, bevor darüber hinaus erkennbar wird, wie vielschichtig diese Kompositionen tatsächlich sind; so als würden erst die hymnischen und verschwenderisch arrangierten Melodien die Türen in die unterirdischen Labyrinthe des Albums öffnen.
Der/Die über allem thronende Zeremonienmeister*in ist Raven van Dorst. Im Jahre 1984 intergeschlechtlich geboren und anschließend als Frau aufgewachsen, ist "The Shape Of Fluidity" vor allem textlich eine bis auf die Knochen ehrliche, zu gleichen Teilen niederschmetternde und kraftvolle Erzählung über die Auseinandersetzung darüber, sich über Jahrzehnte in dieser Ausnahmesituation zu befinden. Über die inneren und äußeren Konflikte, über Identität und Isolation. Aber auch über das Erwachen und über die Verantwortung.
"Would you bathe in my love / Now the time has come?" singt Raven in "Venus In Flames" und das Beben, die Sehnsucht - ja, die Erlösung springt mich förmlich an.
Ein Album voll rasender Dramatik.
Erschienen auf Prophecy Records, 2024.
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