29.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 1: Eternell - Mira




ETERNELL - MIRA


Meine treuen Leser*innen wissen es seit langer Zeit: Ich schreibe gerne mal irgendeinen Schwachsinn ins virtuelle Tagebuch hinein, sei es, weil ich der irrlichtenden Meinung bin, etwas sei besonders "lusdisch" (Heinz Schenk), kontrovers, deep, iNtElLeKtUeLl oder weil mir schlicht die kognitiven Fähigkeiten für etwas Schlaueres fehlen; und manchmal, wenn der innere Drang nach Vermittlung und Präzision beinahe unaushaltbar intensiv und wie Tazman auf Crack rebelliert und also kurz vor der Kernschmelze steht, folgt ein zwar stilloser aber dafür immerhin leidenschaftlicher Bandwurmsatz nach dem anderen, irgendein chaotisches und zwanzig Zeilen langes, mit Ego und Hybris aufgeladenes kapriziöses Gebläse, für dessen Dechiffrierung man entweder selbst einen veritablen Hirnknick sein eigen nennen oder ein abgeschlossenes Psychologie- und Germanistikstudium im Lebenslauf stehen haben sollte (#schnittmengen) - weil's eben einerseits mit maximaler Begeisterung raus muss und weil's andererseits auch hier am besten mit Verdichtung i.S.v. Konzentrierung gelingt. Wenngleich Konzentrierung in diesem Kontext lediglich bedeutet, so viele Wörter wie möglich in eine halbwegs stimmige Hirnschlagsgrammatik zu pressen, von Inhalten spricht heute ja kein Mensch mehr, und mit Verlaub, manchmal muss man ja fast schon dankbar dafür sein. In diesen so besinnungslosen wie begeisterten Momenten fühlt sich das Komma- und Semikolon-Massaker auch immer total richtig an, aber spätestens wenn die Herzallerliebste nach dem Durchlesen des Textes lapidar kommentiert, den könne ja kein Mensch verstehen oder auch nur verstehen wollen, das sei alles viel zu verschachtelt, kompliziert, unklar und gespreizt formuliert, kommen Zweifel. Zweifel, die mein Innerstes gerne mit einer Mischung aus Arroganz und meinerseits geäußerter Verständnislosigkeit quittiert, denn wer sich nicht mal für fünf Minuten anstrengen will, durch den profunden Wortsalat zu staksen, soll's meinetwegen lassen und gleich RTL2 einschalten. Es ist ein freies Land. Et ce n'est pas mon problème!

"Jetzt...warum sag' ich ihnen das?" (Polt)

Ich schreibe das ganze Gekröse hier so nonchalant hin und rein, weil ich's erstens: kann! Das ist klar. Zweitens aber, und das ist viel wichtiger: ich muss rekalibrieren, resetten, relaunchen. Für das, was jetzt gleich kommt, muss ich Relationen herstellen, Erwartungen zurechtrücken und 16 Jahre weitgehend hilfloses Blog-Gestammel ausbalancieren. 

"Mira" ist der bisherige Höhepunkt im Schaffen des Ludvig Cimbrelius. Der Satz hat angesichts meiner früheren Einlassungen zu seinen Arbeiten Tragweite. Ich weiß das. Und doch verewige ich ihn hier nicht leichtfertig. 

I fucking mean it. 

Es gibt eine kleine Geschichte zu "Mira", und ich schwöre, es ist das letzte Mal, dass ich über den fehlenden Bestenlisten-Countdown des Jahres 2021 lamentiere. Am 23.Dezember 2020 veröffentlichte Ludvig "Cove" als digitales Album auf seiner Bandcamp-Seite. Mehr als zwei Stunden Musik verteilt über fünf unterschiedliche Inkarnationen des Titeltracks, wobei alleine "cove (underwater expanse)" mit über 67 Minuten Spielzeit die längste Version ist. Auch wenn das Album sofort eine tiefgreifende Wirkung auf mich hatte, war meine Bestenliste für das Jahr 2020 schon längst in Stein gemeißelt - aber hey, alles easy: Das Album wurde Ende Dezember 2020 veröffentlicht, "ich werde es einfach in der Aufstellung für 2021 erwähnen." Und weil ich 2021 dann schlussendlich so gar nichts erwähnen sollte, blieb "Cove" - zumindest auf 3,40qm - unverzeihlicherweise auf der Strecke. 

Was nicht auf ebenjener blieb, sondern sogar noch tiefgründiger, enger, emotionaler wurde, ist die spirituelle Verbindung zu dieser Musik. Über die letzten zweieinhalb Jahre entwickelte sich "Cove" zu einem beinahe ständigen Begleiter. Es verging keine Woche, in der ich nicht mindestens einen Titel des Albums spielte, manchmal lief das Album in Endlosschleife über ganze Wochenenden hinweg. Der Klang trifft mich direkt ins Herz. Es ist die friedlichste, hellste, erfüllendste Musik, die ich kenne. Ich schrieb vor einigen Jahren, dass Ludvig ein "fucking Wizard" sei, und wenn es eine erneute Bestätigung dafür benötigte, dann ist "Cove" das vielleicht finale Zeugnis seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten. Ein Klang wie aus Gold. Feinstofflich, kostbar, so luxuriös wie demütig, unmittelbar identifizierbar, selbst bei niedrigster Lautstärke, manchmal nicht mal mehr als ein Geschmack in der Luft, durchdringend, bewegend und von einfach überwältigender Schönheit. 

𝑖𝑛 𝑡ℎ𝑖𝑠 𝑜𝑐𝑒𝑎𝑛
𝑎𝑙𝑙 𝑐𝑜𝑚𝑒 𝑡𝑜 𝑎𝑛 𝑒𝑛𝑑
𝑜𝑢𝑡 𝑜𝑓 𝑡ℎ𝑖𝑠 𝑜𝑐𝑒𝑎𝑛
𝑎𝑙𝑙 𝑎𝑟𝑒 𝑏𝑜𝑟𝑛 𝑎𝑔𝑎𝑖𝑛

Was bislang fehlte, war ein physischer Release dieses Wunderwerks. Und dann kam der Januar 2022 und mit ihm kam "Mira", ein Doppel-CD-Set mit einer Spielzeit von mehr als zwei Stunden, dazu Artwork, Kunst und Logos von Nikita Coulombe, Liz Bratton und Alexander Lux. Sechs Tracks auf der ersten CD, darunter der über 18 Minuten lange Titelsong, die insgesamt einer ähnlichen Klangästhetik folgen wie dem Herzstück auf CD2: neben "cove (presence)", einer für die CD-Veröffentlichung remasterten Version, die Ludvig offenbar ganz besonders ans Herz gewachsen ist - "It seems to touch the core of how alive this music can be for me as it swirls around my inner world." - bekommen wir eine ebenfalls remasterte Version von "cove (underwater expanse)" in voller epischer Länge, Breite, Höhe - und Tiefe. 67 Minuten auraler Sternenstaub. 

Mit dem Release von "Mira" war in Bezug auf das Jahr 2022 klar, was auf diesem Blog passieren würde: hier ist meine Nummer 1. Eingebaut in meine DNA und aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Unentbehrlich. Unersetzlich. 

The Healing Colours Of Sound. 


Vinyl: Bitte gehen Sie weiter, es gibt hier leider nichts zu sehen. "Mira" erscheint als digitaler Download und als exquisite Doppel-CD auf Ludvig's Label LILA लीला:

𝓕oundational to LILA लीला is the view that we are all in this adventure of eternal life together. As a reflection of this, a part of the income from music releases will always be going towards trusty organizations who work towards bringing better conditions of Life to all inhabitants of this beautiful Earth, our home in the Universe. As LILA लीला grows, all parts grow.





Erschienen auf LILA लीला, 2022  

22.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 2: ASC - Original Soundtrack




ASC - ORIGINAL SOUNDTRACK


Wenn ich hin und wieder meiner Bewunderung und Faszination über das Veröffentlichungstempo von Brock van Wey aka bvdub aka Earth House Hold Ausdruck verleihe und mich gleichzeitig frage, wer denn die ganze, pardon: Scheiße kaufen, geschweige denn hören soll, dann haben wir noch nicht mal damit begonnen, über James Clements zu sprechen. Der britische Produzent veröffentlicht seit über 20 Jahren seine Musik unter zahlreichen Pseudonymen und Projektnamen mit einer beachtlichen stilistischen Bandbreite: von seinen Drum'n'Bass und Jungle-Wurzeln über Techno, abstrakte Electronica und IDM bis hin zum Ambient beackert der Mann das weite Feld elektronischer Musik durchgängig mit hochklassigen und universell geliebten Sounds auf den einschlägigen Labels - von denen er selbst Auxiliary nebst etlicher Sublabels (u.a. Spatial) leitet. 

Wo unsereins also schon beim Gedanken an einen durchschnittlichen Workload eines Tages im Leben des James Clements die Dosis Tavor dezent nach oben schraubt, um die einsetzenden Panikattacken in den Griff zu bekommen, macht ASC einfach weiter. Nach zwei Alben unter seinem IDM-Markennamen Comit auf A Strangely Isolated Place (hier ist ganz besonders das Debut "Remote Viewing" sehr empfehlenswert), kehrt ASC mit "Original Soundtrack" auf mein Lieblingslabel zurück - und überrascht erneut mit einer Erweiterung seines musikalischen Spektrums. Waren seine früheren Ambientwerke, nicht zuletzt die legendären Alben auf Silent Season, aber auch die Kollaborationen jüngeren Datums mit Inhmost, geprägt von weiten, ausufernden Klangflächen, mit einem ätherisch auftretenden, oft nur zu erahnenden Puls, ist "Original Soundtrack" nicht nur introvertiert, sondern damit auch ungewöhnlich emotional.

Die Basis von "Original Soundtrack" sind warme, weichgezeichnete und tief ins Klangbild eingebettete Pianoloops, die eine ausgegraute melodische Struktur für die atmosphärische Synthiewatte liefern, die den Vibe des Albums entzündet und die in Zeitlupe entstehenden schwarz-weiß-Bilder zum Leben erweckt. Auch wenn "Original Soundtrack" lediglich für einen fiktiven Film die Musik liefert, ist ihr cinematischer Aspekt offensichtlich. Überblendungen von Detailaufnahmen auf die Vogelperspektive, weit aufgezogene  Kamerafahrten über Landschaften, weite Felder, Flüsse, Wälder; Natur sowieso als wiederkehrendes Leitmotiv, stellvertrend für das Weite, Ferne, Offene, Freie. Es wäre ein Film mit deutlich schwermütigen, elegischen Grundtönen, der Bilder des Zerfalls und des Vergangenen zeigen würde. Mit Trauer und Verlust aufgeladene Reminiszenzen an ein gelebtes und geliebtes Leben, undeutlich und verschwommen - und gleichzeitig so unmittelbar und nachempfindbar, weil die Stimmung sich sofort mit der eigenen Realität und der eigenen Verletzbarkeit verbindet. 

Ich empfand "Original Soundtrack" bereits beim Erstkontakt als ambivalent. Aus der Verbindung der sanften, tröstenden  Pianominiaturen, die das Milieu und seine Struktur mittels Komprimierung greifbar machen können und des weit aufgerissenen Horizonts aus sich stets ausbreitenden Klangflächen entstehen Momente, deren Kolorite so niederschmetternd trostlos und leer erscheinen - und die doch so präzise die Schönheit der Hoffnungslosigkeit und der Unschuld herausarbeiten. Emotional verheddert im Trümmerhaufen aus Erinnerungen, Wundpflastern und einer übergroßen Faszination am Leben, drückt "Original Soundtrack" solange sämtliche Knöpfe bis es einem egal ist, ob's jene für die finale Auslöschung oder die finale Erlösung sind. 

Hingabe, und zwar die totale. 


Vinyl: Error, Error, Error, Send Help. "Original Soundtrack" erscheint als Digipak-CD in klassischer A Strangely Isolated Place-Ästhetik und als Download. 


   



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022. 


19.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 3: Lav - A New Landscape


LAV - A NEW LANDSCAPE


Ein Album wie ein Mikrokosmos. 

Der schwedische Produzent Lav aka Christopher Landin ist auf diesem Blog bereits mehrfach mit überschwänglichem Lob bedacht worden. Das liegt vor allem an "A State Of Becoming", das mit Beteiligung von Purl aka Ludvig Cimbrelius entstandene Meisterwerk aus dem Jahr 2017, das in meinem Buch zu den drei besten Ambient-Alben aller Zeiten zählt. Nach einigen weiteren Veröffentlichungen auf so illustren Labels wie Dewtone, deren Homepage-Radio ich nur allerwärmstens empfehlen kann, Amone Recordings und natürlich A Strangely Isolated Place (das eigene 9128-Radio ist ebenfalls überaus lohnenswert), ist "A New Landscape" Lavs zweites vollständiges Album - und das erste ohne eine erweiterte Zusammenarbeit mit anderen Musikern. 

Lav lebt mit seiner Familie auf der schwedischen Insel Gullholma und betreibt dort autarken okölogischen Landbau, über den er regelmäßig mittels Videoaufnahmen berichtet - jedenfalls glaube ich das, denn ich verstehe kein Wort: meine Kenntnisse über die schwedische Sprache sind überaus übersichtlich ausgebildet. Er könnte somit auch über Kartoffeldruck und Atomphysik sprechen, aber weil öfter Zucchinis als Brennstäbe im Bild zu sehen sind, gehe ich von Gemüseanbau aus. Darüber hinaus scheint ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Interesse für Pilze zu bestehen. Das Coverartwork von "A New Landscape" zeigt beispielsweise den Schleimpilz Badhamia utricularis, der in seiner Lebensweise Eigenschaften von Tieren und Pilzen gleichermaßen vereint, biologisch aber zu keiner der beiden Gruppen gehört. Das Foto wurde von Lav nur einige Gehminuten von seinem Haus entfernt gemacht. 

In diesem Zusammenhang erscheint es klug, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen:

"To me this album is about perception. Every day we pass over them, without seeing. Fungi, slime molds and other small beings issue an invitation to dwell for a time right at the limit of our ordinary perception. All it requires of us, is attentiveness. Look in a certain way and a whole new landscape can be revealed."


"A New Landscape" ist Natur. Ein kalter, feuchter Waldboden. Die Baumrinde jahrhundertealter Tannen. Der Blick über sich im Wind schaukelnde Baumwipfel. Das Panorama aufs offene Meer. Der Geschmack von Gebirgsluft. Die Sonne auf der Haut. Lavs organischer Ambient Techno, mal technisch nach vorne treibend wie in "Under The Microspope", mal rhythmisch verschachtelt und mehrdimensional wie in "Collaborative Survival", mal ohne jeden Beat und mit gröberer Auflösung operierend in "Below The Forest Floor", fordert und fördert Vergegenwärtigung, Empathie und Demut. 

Das gelingt einerseits durch die Musik, also über den reinen Klang mit viel Atmosphäre und tief versunkenen Flächensounds und andererseits mittels der Bilder und Stimmungen, die auf der Reise ein- und ausgeblendet werden - es fühlt sich manchmal so an, als würde man mit dem Elektronenmikroskop in die Vergangenheit reisen und dem Leben beim Entstehen in Zeitlupe zuschauen. Oder wie mit beiden Händen in Mutterboden zu stecken und eine spirituelle Verbindung aus einer anderen Galaxie gechannelt zu bekommen. Die Auseinandersetzung mit dieser Musik entwickelt das ganz natürliche Bewusstsein, sich mit spielerischer Faszination diesen verborgenen Welten zu nähern, sie als Realität für andere Lebewesen wahrzunehmen und den eigenen Platz in dieser Welt zu erkennen, aufmerksam und -gerichtet zu sein. Die andauernde Lärmbelästigung, die Diarrhoe der Sensation, des Tumults, das ständige Bombardement der Empörung - "'s ist doch wurscht." (Schmidt) - braucht einen Krampflöser. Es wird Jahre brauchen, den Dreck aus unseren Systemen zu spülen. 

Das braucht Ursprung. Nullpunkt. Reset. 


Vinyl: Das stimmungsvolle Cover-Artwork ist eine Sensation und zusammen mit dem Vinyl in *checks notes* Marigold zum Dahinschmelzen schön. Ungefütterte Innenhülle, Bandcamp-Downloadcode. Die Pressung ist nicht perfekt, aber ordentlich. (++++)


 


Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.





13.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 4: bvdub & james bernard - departing in descent



BVDUB & JAMES BERNARD - DEPARTING IN DESCENT


Der Sprung von Toxik's Ausflug in die Nervenheilanstalt auf Platz 5 zu "departing in descent" könnte kaum größer sein. Da muss sich der Kopf erstmal wieder rekalibrieren. 

Der Konsum der Musik von bvdub kann problematisch sein. Das hat indes keinerlei Auswirkungen auf mein Konsumverhalten, und angesichts der schieren Menge seines Outputs möchte sich mein Kontostand beinahe zu einem gewimmerten "Leider!" hinreißen lassen. Denn so ist das eben als gelernter Metaller: Loyalität geht wenn nicht über alles, dann doch über verflixt vieles. Die Probleme beziehen sich folgerichtig auch weniger bis gar nicht auf die eigentliche Musik, sondern auf meine Rezeption derselben. Oder besser, auf die periodisch auftretende Unfähigkeit, sie emotional verarbeiten zu können. Ich habe über die letzten 13 Jahre so oft über seine Musik geschrieben, dass meine dreikommavier treuen Leser*innen, die bis hierhin durchgehalten haben, sicherlich gleich in den Dörnröschenschlaf fallen werden, so oft sie das schon lesen mussten, aber für meine neue Future-Fanbase, die gleich tausend- ach was: millionenfach von TikTok und meiner geträumten Guest-Appearance bei Fantano auf diese 3,40qm gespült werden, darf ich es nochmal kurz anreißen. bvdub kann einem unangenehm auf die Pelle rücken, wenn das zerebrale und seelische Harmonienetz außer Balance geraten ist. Das wird zu groß, es kommt zu nah, es ist "too close to home", und die Zeiten, in denen sich der kleine(re) Florian in Melancholie und tiefer dunkler Agonie regelrecht suhlen wollte, weil das Leben zu hart und so überwältigend erschien, sind öfter vorbei als sie es nicht sind. Sich in solchen Zuständen komplett in seine unerbittlich aufschäumenden Gefühls-Monstrosität fallen zu lassen, erfordert entweder Mut oder dumpfe Ignoranz. Andererseits hat seine Musik gerade in diesen Situationen eine nicht von der Hand zu weisende kathartische Wirkung, been there, done that, aber wir wissen alle: einfach ist das nicht. Und manchmal hat man auch einfach keine andere Wahl, atmet tief durch, macht den ersten Schritt in seine Welt und erlebt jede noch so subtile Körnung der Musik wie eine neue Realität, ein neues Leben. Das sind kolossale, lebensverändernde Momente.

Die Musik von James Bernard habe ich vergleichsweise spät kennengelernt. Meinen Erstkontakt hatte ich mit seinem A Strangely Isolated Place-Debut "Atwater" im Jahr 2019, eine Liveaufnahme seines Sets vom 'Modular On The Spot’-Festival im North Atwater Park in Los Angeles. Durch die darauf aufbauenden Recherchen fand ich heraus, dass ich wirklich sehr spät zur Party kam. James veröffentlicht seine Musik seit 1994 und wildert durch Ambient, Techno, IDM und Acid-Terrain. Als er 2006 sein Profil auf Discogs erstellte und das dortige Ambientforum betrat, bearbeiteten ihn die übrigen Nutzer so lange, bis er seine frühen und unveröffentlichten Tracks aus den Jahren 1994 bis 1999 auf 25 CD-Rs brannte und die Drei-CD-"Boxen" eigenhändig an die Community verschickte. Sven Väth spielte sein "Dreamscape" in seinen Sets und im Radio, Rising High Records-Gründer Caspar Pound holte ihn auf das Sublabel Sapho, und in der Neuzeit rollte ihm Ryan Griffin, Labelchef von A Strangely Isolated Place den roten Teppich aus: zwei Jahre nach "Atwater" veröffentlichte das Label die ersten beiden "Unreleased Works"-Editionen auf gleich zwei Doppel-LPs. "Acid Dreams" und "Elemental Dreams" sind beeindruckende Werkschauen von einem der profiliertesten Produzenten der Szene. Hier haben wir auch gleich noch ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer mein Aussetzen der Bestenliste 2021 wirklich wiegt - das wären leicht & locker Top 10-Platten und damit Top 10-Reviews gewesen. 

"departing in descent" ist die erste Zusammenarbeit der beiden Musiker; für Brock ist es gleichzeitig das Labeldebut auf zakés Past Inside The Present Label. Für Brock hatte die Kollaboration eine besondere Bedeutung, wie er in seine Post auf Instagram klarstellte:

"On a day like any other in 1994 James Bernards 'Atmospherics' – ordered by mistake by my local house record store - would shape my view of music and my place in it for decades and a lifetime to come. It became, has been, still is, and always will be my favorite ambient album of all time. It changed what music was. Who I was. And the bridge between the two was rebuilt in a way that would stretch to today and beyond.

(...)

James Bernard has been my hero for 28 years.
Somehow, decades later, our musical paths converged.
Somehow, decades later, I have the fortune to call him a friend.
Somehow, decades later, I have the honor to call him family."


Ich den letzten sechs Monaten habe ich keine Platte öfter gehört als "departing in descent". Das ist deshalb bemerkenswert, weil die weiter oben geschilderten Ausnahmesituationen vor allem mit Brocks Musik hier offenbar keine Rolle spielten. Ganz im Gegenteil: ich kam zur Familie, wenn Trost und Beistand notwendig waren. Nicht zur Reinigung, nicht zum Eros der Verzweiflung, sondern zur Umarmung. "departing in descent" ist ein Refugium. Dabei sind die Merkmale ganz deutlich zu erkennen, denn das ist unwidersprochen eine bvdub-Platte mit all seinen Signature Sounds, den Vocal-Samples und den typischen Breaks, dem Pathos und der sich in dem Himmel schraubenden Dramatik. Es ist aber gleichzeitig eine emotionale Entzerrung, mit einer wahrnehmbaren menschlichen Komponente, die nicht das Drama vergrößert, sondern die Entgrenzung kontrolliert. Brock und James haben zumindest in Teilen das Monster gezähmt - sicher nicht hinsichtlich der Spieldauer, denn die überlangen, acht, neun, zehn, elf Minuten dauernden Schallgebirge dürfen immer noch beliebig ausufern. "departing in descent" ist spielerischer, leichtfüßiger und irgendwie heller als ich das zunächst erwartete. Die engelshafte Stimme von marine eyes in "harmonies in hesitation" beispielsweise taucht den Raum in das durchsichtigste Weiß der Welt, alles wird Zeitlupe, alles schwebt. Entschleunigung. Durchatmen. Fallen lassen. 

Ein Effekt fällt dadurch besonders ins Gewicht, und ich kann nur spekulieren, dass der Grund hierfür die Beteiligung von James Bernard ist. Denn wo sich Brocks Musik in erster Linie darum kümmert, möglichst weit zu expandieren, sich auszudehnen bis das Intensitätsniveau kurz vor der finalen Sprengung von Körper, Seele, Geist liegt, erscheint mir die Introspektion, die Konzentration von Klang und Aura die große Kompetenz von James zu sein. Diese Verdichtung, dieses nach Innen gekehrte Element des Albums kreiert einen sicheren Raum, wenn er notwendig ist. Ich kann die Ferne spüren, die Melancholie, den Schmerz, das Tosen der Gedanken. Aber ich gehe nicht unter. 


Vinyl: "departing in descent" kommt in der Vinylfassung als "Mystery Color", das heißt: die zwei LP's haben unterschiedliche Farben und die Farbgebung und Zusammenstellung erfolgten komplett nach dem Zufallsprinzip. Die Stückzahlen sind ebenso unbekannt. Das hat natürlich einerseits den Charme, dass die Sammelnerds, die wegen Limitierung und also Verknappung Schnappatmung bekommen, in die Röhre gucken. Dazu ist es nicht unspannend, die Platte aus der Folie herauszuehmen und zu schauen, was man denn nun bekommen hat. I like. Andererseits kann es natürlich auch vorkommen, eine Kombination zu bekommen, die ästhetisch möglicherweise ein wenig Diskussionsbedarf mit sich bringt. Das sind alles Luxusprobleme. Das Cover-Artwork ist bezaubernd, meine Farben sind toll und die Pressung ist wie gewohnt von PITP: mal Licht, mal Schatten, insgesamt aber völlig in Ordnung. Bevor allerdings wieder die verbale Panzerfaust regiert, sollten alle Hi-Fi-Nerds vielleicht zuerst die Digitalversion hören, denn Brock und James haben absichtlich einige Verzerrungen, Kratzer und Noises in ihren Sound eingewebt und einige Stellen durchaus "hot" produziert. Das ist kein Problem der Pressung. Und ist es nicht völlig plem-plem, dass man sowas heute extra erwähnen muss? (++++)


 



Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.





01.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 5: Toxik - Dis Morta



TOXIK - DIS MORTA


"Dis Morta" ist das beste Metal-Album des Jahres. Und auch ziemlich locker das beste Metal-Album seit dem "Winter Ethereal"-Meilenstein von John Arch und Jim Matheos aus dem Jahr 2019. Große Worte, je sais. Mais puis, ca m'est égàl.

Kleine Geschichtsstunde mit Florian: Toxik ist keine neue Band. Die Truppe aus dem Umland New Yorks erschien Mitte der 1980er auf der Bildfläche und veröffentlichte mit "World Circus" (1987) und "Think This" (1989) zwei Studioalben über Roadrunner beziehungsweise Roadracer, die beide mittlerweile zu den Kultalben der zweiten Speed/Thrash Welle zählen. Vor allem das im Vergleich zum eher progressiven Zweitwerk leichtfüßigere und speedigere Debut ist zurecht gefeiertes Material für die Ruhmeshallen des Heavy Metal. Toxik wurden zunächst wegen der enttäuschenden Verkaufszahlen von "Think This" angezählt und dann final vom Alternative-Boom der neunziger Jahre ausgeknockt. Seit 2013 ist die Band im veränderten Lineup wieder aktiv. Von der Originalbesetzung ist lediglich Gitarrist Josh Christian noch mit von der Partie. "Dis Morta" ist somit erst das dritte Album von Toxik - und das erste seit 33 Jahren. 

Wer sich noch an meine Einschätzungen zu so manchem Comeback meiner alten Thrash Metal-Helden der letzten 15 Jahre erinnert, wird eine Ahnung haben, dass ich nicht gerade mit dem Laden der Konfettikanone zu tun hatte, als "Dis Morta" angekündigt wurde. Zerfledderte Besetzungen, kein Feuer, keine Leidenschaft, Dienst nach Vorschrift, grauenhafte und künstlich aufgepumpte Produktionen, Marketing über Substanz - die Liste großer Enttäuschungen ist lang und reicht von Heathen über Forbidden und Testament bis hin zu Sacred Reich. Von kompletten Knallchargen wie Agent Steel oder Onslaught will ich erst gar nicht reden. Aber meine alte Metal-Loyalität verpflichtet eben. Also, Toxik! Make my day!

Und, FUCK ME - wie arg sie meinen Day machten! Von der ersten Sekunde des Openers und Titelsongs bis zum Rausschmeißer "Judas" gibt es auf dieser Platte KEINE! EINZIGE! LANGWEILIGE! SEKUNDE! 

"Dis Morta" gibt alles. Volle Pulle. Volle Möhre. Volles Rohr. Die! Ganze! Fucking! Zeit! 

Ich hatte in den letzten Monaten versucht, ein angemessenes sprachliches Bild für dieses gnadenlose Gehacke zu finden, und als ich eines gefunden hatte, schrieb ich es in meiner Begeisterung gleich an zwei Stellen in dieses Internet hinein. Weil mir seitdem nichts Besseres eingefallen ist und mir außerdem sowieso gar nichts mehr peinlich zu sein scheint, schreibe ich es hier zum dritten Mal: 

"Maximaler Stress. Permanentes Gefühl der Überforderung. Als würde man bei 300 Sachen auf der Autobahn den Kopf aus dem Fenster halten und das Grünzeug vom Mittelstreifen ins Gesicht geballert bekommen."
 
Und um alles noch viel schlimmer zu machen, klopfe ich mir jetzt auch nochmal auf die Schulter und sage: "Dis Morta" klingt genau so! Das Intensitätslevel kurz vor der Kernschmelze. Ein bisweilen völlig außer Kontrolle geratener Speed, den Lord Helmchen sehr akkurat mit "wahnsinnige Geschwindigkeit" beschreiben würde; vor allem "Sharp Razor" überdreht sich sogar manchmal über die Grenze zur Parodie hinaus. Die Songs schlagen Haken wie Mike Tyson in voller Blüte, sind kompliziert und progressiv - es geht rauf und runter, hin und her. In einem der Höhepunkte "Creating The Abyss" (uargh, diese Riffs!) channeln die Verrückten die Mitt- bis Spätneunziger-Phase von Nevermore in nie dagewesener Perfektion. Mit Ron Iglesias hat die Band zudem einen Sänger in ihren Reihen, der mit extrem hoher Stimme und maximaler Kontrolle durch die waghalsigsten musikalischen Stromschnellen marschiert, die ihm die Instrumentalabteilung im Hintergrund zwischen die Stimmbänder wirbelt, und der dabei noch die abgepfiffensten Gesangslinien wie in "Hyper Reality" aus dem Hut zaubert. Er ist jederzeit der absolute König jeder noch so verzwickten Situation. Und scheißrein: Josh Christian hat sich solche gleich säckeweise ausgedacht. Die ganze Band bewegt sich technisch auf allerhöchstem Niveau. 

Werfen wir einen Blick auf die bisherigen Teilnehmer in meinem kleinen Jahres-Countdown, stellen wir eine gewisse stilistische Diskrepanz zu "Dis Morta" fest. Von meiner Lebensrealität im Hier und Jetzt ist so eine Platte ganze Universen entfernt, und ich habe mich hier in meinem virtuellen Musikzimmer nicht erst einmal darüber ausgelassen, wie sehr ich Ruhe und Einkehr als Gegenpol zu all dem Getöse um mich herum schätze, und wie sehr vor allem das Hören introvertierter elektronischer Musik mein Leben verbessert. Und doch gibt es nun hier diese besinnungslose Lobhudelei über "Dis Morta" zu lesen? Dazu zwei Einlassungen. Erstens: ich kann nicht aus meiner Haut. Ich liebe progressiven und abgedrehten Metal, ich liebe Thrash Metal, ich liebe geile Sänger über alles, ich liebe die Intensität, die Wucht, den Wahnsinn. "Dis Morta" drückt sämtliche Knöpfe bei mir - und dass es das im Jahr 2022 noch schafft, ist eine Grenzerfahrung in sich. Das bringt uns zu zweitens: "Dis Morta" ist im aktuellen musikalischen Klima des Metal ein geplatztes Furunkel am Arsch der Gleichmacherei und des stromlinienförmigen Formatmetals, den die ganzen Angsthasen und Nixkönner einer im tiefsten Koma liegenden Szene unentwegt ins Gesicht kotzen. Würde es heutzutage mehr Metalbands geben, die so mutig, so tollkühn, so virtuos und so kraftvoll klingen wie Toxik auf "Dis Morta", ich wäre mit einem Wimpernschlag wieder in der allerersten Reihe. 


Vinyl: Sorry, aber bei dem erbarmungslosen Geschrote ist alles scheißegal, sogar die ungefütterte Innenhülle und die sehr schmale Aufmachung. Immerhin gibt's einen Einleger mit Texten. Sieht gut aus, klingt gut. Fertig. Bitte einfach nur kaufen, lieben, umarmen und bitte keine weiteren Fragen stellen. (+++++)


 



Erschienen auf Massacre Records, 2022. 


29.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 6: Joachim Spieth - Terrain




JOACHIM SPIETH - TERRAIN



Schuldgefühle. Das Auslassen meiner Jahresbestenliste für das Jahr 2021 ließ einige Platten im Regen stehen, die eine detaillierte Aufarbeitung wirklich verdient gehabt hätten. Es gäbe so viel nachzuholen. Das Problem: es fehlen Energie, Kraft und Zeit. Dabei waren die Titel und ihre Platzierungen schon fertig ausgearbeitet, ausgeknobelt und unter den üblichen starken Schmerzen versiegelt. Daher weiß ich auch immer noch, dass "Ousia", das vierte Album des Produzenten und Labelgründers von Affin Joachim Spieth, meine Nummer 1 gewesen wäre. Ich habe im Jahr 2021 vermutlich keine andere Platte so oft gehört wie "Ousia", ein von aquatischen Motiven durchzogenes Album, das eine warme Klangwelle nach der anderen über den Körper spült und den Geist immer weiter in einen unendlich erscheinenden Raum entlässt. Es ist ein Erlebnis, mit "Ousia" auf Reisen zu gehen. Sollte das bis hierhin noch nicht klar geworden sein, möchte ich explizit eine Kaufempfehlung für dieses kleine Wunderwerk aussprechen. 

Nun sind wir im Jahr 2022 und ich bin hocherfreut, endlich über den Nachfolger "Terrain" schreiben zu dürfen. "Terrain" erschien Ende Oktober des letzten Jahres und fiel damit genau in jene Zeit, in der sich der Gesundheitszustand unseres Hunds Fabbi immer weiter verschlechterte, und ich für eine Weile praktisch aufhörte, Musik zu hören. Ich war emotional so ausgelaugt, so stumpf und leer, dass Stille das einzige zu sein schien, womit ich noch halbwegs umgehen konnte. Die Auseinandersetzung mit "Terrain" begann also mit einiger Verzögerung, aber es war in vielen Bereichen das Rettungsseil, mit dessen Hilfe ich mich aus diesem Loch wieder befreien konnte. Das ist auf den ersten Blick nicht selbstverständlich, denn viel Licht ist hier nicht zu finden. Ich sage das, weil ich allzu Abgründigem, Dunklem, Kaltem bekanntermaßen mit einiger Skepsis begegne und es mir oft nicht leicht fällt, einen Zugang zu solchen Sounds zu finden; noch herausfordernder wird es, wenn ich selbst seelisch angeknackst bin. 

Was die Beschäftigung mit "Terrain" indes so lohnenswert macht, ist die Wahrnehmung des Raums, den es kreiert und die Gegensätze, die aus unterschiedlichen Perspektiven entstehen. Wo "Ousia" den Lebensmittelpunkt in flüssigem, bewegten Wasser fand, empfinde ich "Terrain" als erdig, zerklüftet und verwittert. In der Großaufnahme wirkt es, als würden Kontinentalplatten sich im Zeitraffer grob übereinanderschieben und sich verkanten, ausgelöst und angetrieben von einem sonoren, mächtigen Bassdröhnen, der sich wie ein endlos ausklingender Pulsschlag in der Erdatmosphäre ausbreitet. Ein bedrohliches Szenario, weil jeder Versuch der Kontrolle unter gigantischen Massiven bedeckt wird. Das Makro-Panorama, das "Terrain" in der Folge auffächert, löst diese Gefahr wieder auf und lässt im Kontext mit dieser unnachgiebigen Kraft eher ein Gefühl der Ergebenheit entstehen und entschlüsselt damit auch den nächsten Raum dieses Albums: Die Vertiefung.

"Terrain" entwickelt einen erheblichen Sog ins Innere, bis in die winzigsten Verästelungen von Raum und Zeit. Es durchdringt Materie und öffnet die Brennweite bis in unterste Schichten, vergrößert Strukturen und macht sie sichtbar. Insofern trügt der erwähnte erste Eindruck, hier sei kein Licht. Wir erleben eher ein Wechselspiel der Blickwinkel und der sich daraus ergebenen Gegensätze von Licht und Schatten. Je tiefer und kraftvoller uns die Strömung mitreißt, desto deutlicher - und heller - wird das Terrain in uns. 


Vinyl: Das beeindruckende Coverartwork von Markus Guentner unterstützt den "erdigen" Charakter von "Terrain" perfekt. Ungefütterte Innenhülle, kein Bandcamp Downloadcode. Die Pressung ist einwandfrei. (++++)

 


Erschienen auf Affin Records, 2022. 

23.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 7: Pablo Bolivar & Sensual Physics - Details Am Rande




PABLO BOLIVAR & SENSUAL PHYSICS - DETAILS AM RANDE


Das zweite Album aus dem Hause Seven Villas Music in meiner Bestenliste des Jahres 2022 kommt immerhin zur Hälfte vom Chef persönlich. Pablo Bolivar betreibt das Label in der Region Kantabrien an der Nordküste Spaniens und veröffentlicht mit beeindruckender Stilsicherheit elektronische Musik im Spannungsfeld zwischen Deep House, Ambient und Dubtechno - mal schmissiger, mal mehr laid back, aber der Vibe spannt sich über alle Veröffentlichungen von Seven Villas: warm, maritim, organisch, elegisch. 

Eine Beschreibung über Pablos Zusammenarbeit mit Sensual Physics (aka Jörg Schuster; u.a. bekannt als LUFTH und Digitalverein) auf "Details Am Rande" könnte an dieser Stelle bereits in die Zielgerade einbiegen, denn mit "warm, maritim, organisch, elegisch" wäre im Prinzip alles gesagt. Und wenn solche elektronischen Sounds auch Dein mesolimbisches System fröhlich und quietschvergnügt mit Dopamin fluten, könnte die Lektüre ebenfalls hier und jetzt abgebrochen werden, damit der Mailorder Deines Vertrauens mit dem Verpacken beginnen kann, und die Post möglichst schnell zwei Mal klingelt. Manchmal ist es wirklich so einfach. "Details Am Rande" klingt genau so. 

Die Synthie-Melodie-Pads watteweich und seidenfein, die trippigen Dub-Flächen erzeugen Raum und Tiefe und Umspielen die verästelten perkussiven Elemente spielerisch und zärtlich, der Sound ist lückenlos gefüllt mit Sonne und schwüler Hitze. Es riecht nach Orangenblüten aus Valencia und die Brise, die vom Atlantik herüberströmt, befreit Seele, Herz und Geist endgültig von jeder auch nur entfernt gräulich-schimmernden Wolke. Atmosphärisch bewegen wir uns eher in the heat of the night, aber mein über Wochen sorgfältig austariertes Testszenario ergab, dass auch das Hineingleiten in einen neuen Tag mit Morgenlatte und dazu gehörendem -kaffee bedeutend erträglicher, um nicht zu sagen: lustvoller, wird, dreht sich "Details Am Rande" auf dem Plattenteller.

Wer es nicht ganz so gut mit mir meint und außerdem mit eintätowiertem Binärcode durchs Leben geht, also zwischen Nullen und Einsen keinerlei Differenzierung und Abstufung existieren, könnte jetzt meine oftmals geäußerte Abneigung gegenüber als zu glatt und steril empfundener Musik ins Spiel bringen. Der Kniff von "Details Am Rande" liegt aber genau in dieser vermeintlichen Sorgenfalte: diese Musik pulsiert, atmet, tanzt, sie ist verführerisch, sexy und einnehmend. Ihr Substrat ist Expansion. Es ist vielleicht nicht zwingend im Erstkontakt zu begreifen, aber das Album nimmt seit Monaten jeden Lebenswinkel in Beschlag. Die Welt ist ein bisschen besser, wenn "Details Am Rande" im Dämmerlicht seine Kreise zieht. 


Vinyl: die Pressung der Doppel-LP auf schwarzem Vinyl ist fehlerfrei, das wunderbare Cover-Artwork spiegelt die Atmosphäre der gesamten Produktion wider. Leider kein Bandcamp-Downloadcode inklusive, dafür aber bereits direkt vom Label mit 40 Euro (plus Versand aus Spanien) unangenehm - ich bin versucht "unangemessen" zu schreiben - teuer. Andererseits klemmt man sich einfach den nächsten lieblos hingerotzten Universal-Majordreck für 50 Euro und schmeißt die Kohle lieber in Richtung der echten Basis. Das Album gehört auf Vinyl gehört. Klingt nach prätentiösem Scheißdreck aus der Redaktionsstube der MINT, aber ich kann das jetzt auch nicht ändern. Your call!


 



Erschienen auf Seven Villas Music, 2022.

17.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 8: Earthen Sea - Ghost Poems


EARTHEN SEA - GHOST POEMS


Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, welcher Teufel mich ritt, Jacob Longs letztes Album als Earthen Sea "Grass And Trees" nicht in die Bestenliste des Jahres 2019 aufzunehmen, weiß aber immerhin noch, dass ich mit dem Werk anfangs tatsächlich etwas fremdelte. Long hatte seinen Sound bereits in den vorangegangenen Jahren Schritt für Schritt mehr in die Abstraktion geführt, die Dub Techno-Elemente zurückgefahren, oder besser: verschleiert, und stattdessen mit viel Raum und Tiefe experimentiert - und das kann schon mal an mir vorbeilaufen, wenn es mich auf dem falschen Fuß erwischt. Je eingehender ich mich indes mit "Grass And Trees" auseinandersetzte, desto klarer wurde mein Zugang für den überarbeiteten Ansatz. Heute würde "Grass And Trees" mit großer Sicherheit in den Top 20 landen. Das nur zur Rehabilitation - und obendrauf ein zwar ungefragter aber nichtsdestotrotz überaus lieb gemeinter Tipp, denn das ist eine tolle Platte. 

"Ghost Poems" hatte keine Probleme hinsichtlich einer länger andauernden Findungsphase, das Album brachte sofort alle Nervenbahnen zum Schwingen und das hat Gründe. Long hat seine Melodien ins Zentrum dieser Produktion gestellt; sphärische, softe Miniatur-Loops, die in der ständigen Wiederholung stets die Perspektiven wechseln können und einen hypnotischen, psychedelischen Effekt auf die Wahrnehmung haben. Irgendwann glaubt man, die Töne stehen kreiselnd im Zentrum des Raums und ziehen dort die Beats an wie ein Supermagnet. Schnipser, Kratzer, Hölzer, Wischer - alles findet seinen Weg in die Aura dieser Songs. Genau hier entsteht das Fundament von "Ghost Poems", das Spiel zwischen Isolation und Intimität, zwischen Überwärmung und Distanz. Die gleichzeitige Verschmelzung und Abtrennung von Intellekt und Intuition ist der Kern von "Ghost Poems". 

Entstanden ist das Album in New York während des ersten Covid-Lockdowns. Das Zurückgeworfen-Sein auf das eigene Selbst, die private Sphäre, die Kontemplation, ist auch drei Jahre später noch die Nährflüssigkeit, aus der "Ghost Poems" das Gefühl der Entgrenzung, der Entwurzelung zieht. Im gleichen Augenblick, und das gilt besonders aus heutiger Sicht für so viel Kunst, die in jener Zeit entstanden ist, ist das Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammenhalts, die Idee der Vereinigung immanent. Es ist in diesem Sinne auch eine Erinnerung an die Chance, uns selbst als einheitliche Entität zu erkennen, als Schicksalsgemeinschaft. Das wird dauern. Aber vielleicht ist auch der Weg das Ziel. 

Mit "Ghost Poems" auf den Ohren könnte es allerdings etwas schneller gehen. 


Vinyl: Kranky-Pressungen waren in der Vergangenheit oft ein Lotteriespiel und als ich "Ghost Poems" zum ersten Mal aus der natürlich immer noch ungefütterten Innenhülle zog, war mal wieder mit einer Niete zu rechnen: schmutzig, staubig und voller Schlieren. Aber ich sollte eines Besseren belehrt werden, denn die Pressung ist komplett einwandfrei. Keine non-fills, keine Knackser, flach, zentriert. Kein Downloadcode, aber dafür ein wunderbares Cover-Artwork. Empfehlenswert. (++++)

 


Erschienen auf Kranky, 2022. 

13.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 9: Cool Maritime - Big Earth Energy



COOL MARITME - BIG EARTH ENERGY

Das Cover kam, ich sah, und alle siegten. Ich musste nicht mal vorab in "Big Earth Energy" reinhören.

Beziehungsweise eben doch, aber - ich schwör's! - nur ganz knappe dreikommavier Sekunden und eigentlich auch nur, um sicherzustellen, nicht mit Reggae, Schrebergartenmetal oder tätowierten Karohemden-"Punk" für Bausparer zunächst über- und dann unterrascht zu werden. Über die Stilfrage hinaus musste ich mir indes keine Sorgen machen. Und ich kann meinen Leser*innen versichern, dass auch über ihren Köpfen nur die rosaroteste Wolke schweben wird, wenn diese Platte sich auf dem Plattenteller dreht. 
 
Vielleicht ist die Wolke aber auch eher grünlich (pun intended) anstatt rosarot, denn "Big Earth Energy" ist...grün. Von oben nach unten, rechts nach links, Westen nach Osten, Norden nach Süden: grün. Es klingt grün, es riecht grün, es schmeckt grün, es fühlt sich grün an. Es ist grün. Was es außerdem ist: voller Leben, voller Wärme, voller Wunder, voller Kraft und voller Bilder. 

Wir tauchen ein in einen tiefen, dichten, unberührten Urwald. Regenzeit. Über den Baumkronen räkeln sich Dunstfelder und wirken in den diffusen Sonnenstrahlen wie eine funkelnde Aura, eine Schutzschicht. Darunter tobt Leben, tausendfach, millionenfach. Eine Reizüberflutung aus Reflexen, Bewegungen, Intuitionen, Fluchtpunkten. Zur gleichen Zeit findet man in diesem tosenden Wirbel zur eigenen Mitte, spürt die Atmung, den Puls, den Herzschlag. Spürt den Boden unter den Füßen. Setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, und entwickelt mit jedem Schritt diese fremde, mystische Welt von Neuem. Das Erleben ist unmittelbar. 

Der Kalifornier Sean Hellfritsch hat mit "Big Earth Energy" die vergegenwärtigendste Musik der letzten Jahre erfunden. Zwischen New Age und progressiver elektronischer Musik der 1980er Jahre tänzeln warme, perlende Synthie-Arpeggios wie Glühwürmchen durch die Nacht und setzen mit den lebhaften perkussiven Elementen kristalline Akzente voller Verve und Seligkeit. Darüber breitet sich ein Vibe aus, der mit melancholisch nur unzureichend beschrieben ist - es ist eher ein Innehalten, die Wahrnehmung von Zwischentönen, ein Aufsaugen, eine Verdichtung der Existenz. Eine Art universeller "What a time to be alive!"-Moment zwischen Euphorie, Demut, Empathie und Pathos. 

Das Universum sind wir. 



Vinyl: Obwohl bei der Pressung offenbar GZ Media die Griffel im Spiel hatte, ist meine grüne Vinylversion tadellos. Das Cover-Artwork, ganz besonders in Verknüpfung mit der grünen Schallplatte gehört zum Schönsten, was ich seit "A State Of Becoming" von Lav und Purl gesehen habe. Bekommt einen Ehrenplatz in der Sammlung. Gebe ich nie wieder her. (+++++)


 


Erschienen auf Western Vinyl, 2022.

11.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 10: The Beths - Expert In A Dying Field




THE BETHS - EXPERT IN A DYING FIELD


Die Beths waren DIE Entdeckung des letzten Jahres. Und vielleicht sogar noch mehr als das - ich kann mich kaum an eine andere Situation in den letzten zwanzig Jahren erinnern, bei der ich bereits beim Erstkontakt mit einer Band Feuer und Flamme war. Und for fuck's sake: das will bei mir altem und verbittertem Knallsack echt was heißen. 

Und das kam so: an einem warmen Juniabend tat ich das, was zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen zählt - ich goss mir eine warme Cola ein, öffnete eine schöne Flasche Pommes und stöberte nach neuen Platten. Die obligatorischen fünfundzwanzig Browser-Tabs geöffnet, vier Warenkörbe und neun Merkzettel im Anschlag, dazu lerne ich Band-Diskografien, Label-Kataloge und Presswerklisten auswendig. Ich bin praktisch Fluglotse für Schallplatten, und ich kann damit problemlos Stunden, Tage und Wochen verbringen. Ich habe eben nach wie vor die Verdrängungsleistung eines verkackten Öltankers. 

So scrollte ich mich also gerade durch das Programm von anost.net, dem Mailorder und Sublabel von Morr Music (u.a. The Notwist und Deaf Center), generell eine exzellente Adresse für die Anschaffung experimenteller und abseitiger Musik, als ich von einem Cover beinahe magisch angezogen wurde. Es war "Future Me Hates Me" der Beths, ihr Debutalbum aus dem Jahr 2018. Ich hatte vorher noch nie von der Band gehört und meine in den frühen bis mittleren Nullern eingeübten Reflexe, wirklich jede "The"-Band zumindest mal gehört haben zu müssen, wurden in den vergangenen Jahren nun auch wirklich nicht weiter trainiert. Aus irgendeinem Grund musste ich hier nun aber unbedingt reinhören. Das Ergebnis: Es brauchte exakt bis zum ersten Chorus des Openers "Great No One", um die Platte in den Warenkorb zu legen. Das war ein Rekord. It really hit different.

Das Geheimnis, was The Beths auch auf ihrem neuen Album "Expert In A Dying Field" so außergewöhnlich macht, ist das beispiellose melodische Gespür von Songschreiberin/Sängerin/Gitarristin Elizabeth Stokes. Hier nur von einem "Händchen" zu sprechen, müsste fast als bodenlose Beleidigung gewertet werden: Stokes schreibt die Songs für die großen, kleinen, funkelnden, melancholischen Melodien in ihrem Bauch, die gleichzeitig sowohl introvertiert und beinahe schüchtern als auch voller Selbstvertrauen und Kraft sind. Und wie es scheint tut sie das am Fließband: es gibt auf den drei bislang erschienenen Studioalben keinen einzigen mediokren Moment, keine Note, die nicht in glitzernden Regenbogenfarben vibriert, keine Gesangsharmonie, die keine Gänsehautwellen über den Astralleib schickt.

Das sind Hymnen zwischen Power-Pop, Indierock und ganz zärtlich eingetreuten Punk-Elementen, wie in einem der Höhepunkte "Head In The Cloud" oder auch der Single "Knees Deep". Immer mitreißend, immer tief bewegend. Wer das Video des unten verlinkten Titeltracks anschaut und beim großen Finale mit den schönsten Gesangsharmonien der Welt, der musikalisch perfekt inszenierten aufreißenden Wolkendecke und den dazu passend feierlich arrangierten Bildern der Musiker:innen nicht vor Ergriffenheit zusammenklappt, hat ein Herz aus Stein. Dazu kommt ein wunderbar doppelbödiger Text, der auf der offensichtlichen Trägerwelle über ausgestorbene Berufe und verloren gegangene Fähigkeiten die versteckten Bilder über erkaltete Liebesbeziehungen schickt, dass sich also zwei Menschen über viele Jahre der Zweisamkeit und Partnerschaft so viel Wissen übereinander und über sich selbst angeeignet haben, das bei einer Trennung sich schlicht in Luft auflöst. 

So erfrischend echt, sympathisch, frei von jeglichen Macho-Attitüden und aufgesetzter Härte - für mentale Pullunder-Träger wie meine Wenigkeit kann's kaum besser werden. 


Vinyl: Keine Ahnung, woran das genau liegt, aber mir ist leider keine fehlerfrei Vinylpressungen ihrer Platten bekannt, und ich habe mittlerweile und immerhin: alle. Carpark scheint's mit der Qualitätskontrolle nicht ganz so eng zu sehen. Hi-Fi-Nerds müssen hier also manchmal sehr stark sein und mit Hintergrundgeraschel und einigen Knacksern leben. Alle anderen, die sich in erster Linie an der tollen Musik und der tollen Aufmachung ergötzen wollen, kommen erneut auf ihre Kosten: das aufklappbare und farbenfrohe Coverartwork mit Prägedruck sowie die Platte in...äh...Kanariengelb sind einfach sensationell gestaltet und fügen der Hörerfahrung eine ganze Menge Spaß zu. Da sind mir die paar Knackser ehrlich gesagt fast schon egal - zumal ich es wenigstens bei meinem Exemplar nicht als überdurchschnittlich störend empfinde. Insgesamt also ambivalent, aber noch knapp erträglich. (++-)

 


Bandcamp:

 


Erschienen auf Carpark, 2022.  

08.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 11: Felix Laband - The Soft White Hand




FELIX LABAND - THE SOFT WHITE HAND


Ich habe gelernt, dass "cringe" Jugendsprache ist, und da sich sowohl Körper als auch Geist von Yours Truly nicht nach Jugend, sondern eher nach einem seit 100 Jahren in der schimmligen Ecke eines feuchten Kellers in Rodgau-Jügesheim vergessenen Sacks alter Wäsche anfühlen, erlaube ich mir die Verwendung des guten deutschen Schrebergartenworts "PEINLICH", um das zu beschreiben, was gleich kommt: ein Pamphlet! Ein Pamphlet gegen...weiß ich noch nicht. Keine Ahnung. Aber wir machen das jetzt wie alle anderen Vollidioten auch: wir entwickeln das jetzt gemeinsam

Ich habe erwiesenermaßen von praktisch Nichts eine Ahnung. Ich könnte den Kanisterkopp Joe Rogan und seine Selbsteinschätzung zitieren und sagen "I'm just an idiot who occasionally remembers things." und läge damit auch für meinereiner nicht so irre falsch, wenn ich nicht mittlerweile auch immer häufiger alles vergäße...das Alter, das Leben, die Menschen, es ist einfach zum Heulen. Ich habe im Prinzip auch keine Ahnung von elektronischer Musik. Ich mag sie und ich höre sie, aber ich bin ganze Universen von irgendeiner "Szene" entfernt, habe von Geschichte und Entstehungsprozess fast keinen sitzen, bei "Clubkultur" denke ich an den bevorzugten, äh, FKK-Saunaclub oder irgendein Mate-Gesöff, das sich gegeelte Marketingfuzzis ausgedacht haben und, und das Schicksal teilt sie sich mit der guten alten Rockmusik, ich habe ganz oft keinerlei Interesse am alten Kanon, diesem Gewese von "Das MUSS man kennen!!!einself" und "Ohne diese Platte gäbe es keine [hier bitte Band, Genre, Unterhosenmarke einfügen]!". Ich lebe beispielsweise in einem Haushalt, der, und das sage ich durchaus mit einem kleinen Anflug von Stolz, frei von Beatles-, Hendrix-, Dylan- und Beach Boys-Platten ist. Ich kenne auch keine einzige Kraftwerk-LP. Es ist sicherlich nicht über Gebühr originell, den alten Hildebrandt-Spruch über die Fliegen und die Exkremente aus der Mottenkiste zu zerren, auch und vor allem dann nicht, wenn die Nirvana-Sammlung beinahe den kompletten Westflügel meines Anwesens einnimmt, aber ich finde, es ist speziell in solchen Fällen globaler Unterwürfigkeit gegenüber den heiligen Kühen immer vorteilhaft, einen angemessenen Sicherheitsabstand einzuhalten. Lassen Sie es mich auf den einzig gültigen, echten, wahren Punkt bringen: im Prinzip ist alles, was in den Top 50 Listen des Rolling Stone auftaucht, vollumfänglich und aus tiefstem Herzen abzulehnen. 

"Shush! Shush! Listen, I don't care." (Ricky Gervais)

So, und jetzt kommt's: dass da draußen immer noch dieser unsägliche, alte Scheiß gehört wird, aber einer wie Felix Laband, einer der originellsten und kreativsten Durchgeknallten, nur einer überschaubaren Gruppe bekannt zu sein scheint, ist doch ein Treppenwitz?! Und andererseits ist's eben komplett und total glasklar: wer aus der Reihe tanzt, hat keine Chance. "Das war doch schon immer so?!" (Friedrich "Fotzenfritz" Merz)

Laband veröffentlicht seit fast 25 Jahren Musik, seit 2004 gar exklusiv auf dem Münchner Label Compost, und nicht nur ist seine Kunst sehr partikular, auch nimmt er sich immer viel Zeit für ein neues Abum. Seit dem mittlerweile als kleinen Klassiker gehandelten "Dark Days Exit" aus dem Jahr 2004 erschienen bis 2022 gerade mal zwei weitere Werke des Südafrikaners. 

Ich bin hocherfreut zu berichten, dass seine Musik selbst 2022 noch immer so ambivalent, herausfordernd, träumerisch, brütend und von strahlender Ästhetik durchzogen ist wie eh und je. Möglicherweise hat er nach dem manchmal krawalligen und oftmals bedrückenden "Deaf Safari" ein paar Gänge heruntergeschaltet, was sowohl die Verwendung als auch die Inhalte von obskuren und verwirrenden Sprachsamples betrifft (auch wenn sie nach wie vor integraler Bestandteil seines Sounds sind), aber auch "The Soft White Hand" ist so erzählerisch wie visionär wie seine Vorgänger. Laband verbindet Einflüsse aus dem House, Jazz, Ambient, Downtempo und IDM mit der melodischen Aura klassischer Musik und strickt daraus etwas völlig Einzigartiges, eine spleenige Melange aus futuristischer Clubmusik und nostalgischer Poesie, zwischen naiver, unberührter Schönheit und eskalierenden Momenten großer Verletzlichkeit. Sehnsuchtsvolle Spieluhrensounds, die Kindheitserinnerungen wecken und wie ein Wundpflaster für die Verletzungen der Adoleszenz wirken, staubige Beats und jazzige Vibes für die gegenwärtige Introspektion, Reminiszenzen an verdrogte, durchgetanzte Sommernächte, an Abstürze, Momente großer Erregung, Momente des Rausches. Über all dem schweben Labands Werte, seine Gedanken, seine Politik, unausgesprochen und doch stets präsent:

“I have sampled a lot from documentaries from the 80s crack epidemic in impoverished African American communities and believe my work speaks unapologetically for the lost and marginalised, for those who are the forgotten casualties of the war on drugs. In the past, I have had my issues with substance abuse, and I know first-hand about the nightmares and fears, what it feels like to be isolated and abandoned.”


"The Soft White Hand" ist ein Gefühlswesen. 


Vinyl: Die Doppel-LP auf schwarzem Vinyl (hier gibt's keine Extravaganzen) im Gatefold-Cover kommt mit Labands Signature-Collagen Artwork mit Downloadcode, und die Pressung ist vollkommen fehlerfrei. Uneingeschränkte Empfehlung. (+++++) 


 


Erschienen auf Compost Records, 2022. 

01.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 12: Strië & Scanner - Struktura Revisited




STRIE & SCANNER - STRUKTURA REVISITED


Alles auf Anfang. Wir lassen den Plüsch hinter uns, das Seifige, den Weichzeichner. Es wird kalt. Denn Kälte macht wach, sagt man. Wir sind aufmerksam und hochkonzentriert. 

Eintauchen.

Es ist karg und unwirtlich hier. Was sich im Weitwinkel als diffus zerklüftete Struktur darstellt, in großer Ferne und damit beinahe unerreichbar, entwickelt sich beim Blick durch das Elektronenmikroskop plötzlich zu einem komplexen Muster mit diffiziler Mechanik. Selbst der Weg dorthin, also jeder Schritt der Verdichtung und Fokussierung, verändert das Gebilde. Es lebt. Es lebt in den tieferen Schichten, auf molekularer Ebene. Im Land der Riesen ist es gleichbedeutend mit dem Zwielicht, dem Verborgenen und Unbekannten - aber welche Arroganz ist es, dieser usprünglichsten und klarsten Form der Existenz den Zweifel des Obskuren zu verleihen? 

Es ist kathartisch, Teil dieses Nanokosmos zu werden, weil die Vertiefung jeden Raum, jede Zeit und jedes Leben zum Erlischen zwingt. Man spürt, das ist die Stunde Null. Der Autor Roger Willemsen schrieb in seinem Buch "Die Enden der Welt" über ebenjene, dass sie sich anfühlten, als betrachte man die Landschaft nicht frontal, sondern eher über die Rückseite einer Landschaftsstickerei. "Struktura Revisited" vermittelt ein ähnliches Empfinden, nur dass der Blick auf einen winzigen Partikel eines einzelnen Fadens dieser Stickerei fokussiert ist. Das Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, ist allerhöchstens noch zu einer Ahnung geschrumpft - und doch ist die Erfahrung existenziell. Als höre man dem Urknall in Zeitlupe zu.

Olga Wojciechowska veröffentlichte "Struktura" im Jahr 2015 unter ihrem Alias Strië auf dem Label Serein in kleiner Auflage exklusiv auf CD. "Struktura" wurde inspiriert von moderner Malerei des 20.Jahrhunderts; so teilt jeder Track seinen Namen mit einem abstrakten Kunstwerk aus jener Epoche. Strië möchte es dem Hörer erlauben, die Musik frei von jedem begleitenden Narrativ zu erfahren, selbstständig zu entdecken und zu interpretieren. 

"There is pleasure to be found in viewing or hearing something without a definite narrative, allowing the mind to wander and find its own meaning."

Ryan von A Strangely Isolated Place hat für "Stuktura Revisited" nun Strië und Scanner an einen Tisch gebracht. Scanner ist der Alias von Robin Rimbaud, einem Londoner Produzenten und Multimediakünstler, der seit den 1990er Jahren für einige Meilensteine der elektronischen Musik gesorgt hat. Scanner interpretiert "Struktura" für dieses Projekt an einem Stück im Rahmen eines Live-Settings ohne nachträglich hinzugefügte Overdubs. Der Ansatz verleiht seiner Aufnahme einen unmittelbaren Charakter. Nicht nur erlaubt er neue Perspektiven auf "Struktura", in dem er dessen endlos erscheinende Tiefe auffächert und kinematographisch verbreitert - er fügt der ohnehin bereits beträchtlichen Abstraktion des Originals klandestine, bisweilen dystopische Ebenen hinzu. "Struktura Revisited" flechtet mit seiner Exegese damit ein unheilvolleres, zu gleichen Teilen morbideres wie nervöseres Bild. 

Nach der Struktur kommt die Unordnung. 


Vinyl: Neben der Musik von Strie und Scanner ist das atemberaubende Coverartwork des niederländischen Künstlers Rep Ringel eine  fundamentale Komponente des Gesamtwerks. Rep kreierte seine Kunst zunächst auf sehr großen Leinwänden. Im Laufe der Zeit begann er damit, die Bilder für ein Artbook zu fotografieren, das er exklusiv an seine Kunden verteilte, die eines seiner Werke kauften. In diesem Prozess fiel ihm auf, wie viele neue Perspektiven sich eröffnen, wenn er sehr weit in seine Bilder hineinfokussiert. Eines der Ergebnisse sehen wir auf dem Cover von "Struktura Revisited" und ich hoffe inständig, die Parallelen zwischen der Musik und dem Artwork im obigen Text wenigstens in Ansätzen erfolgreich herausgearbeitet zu haben. Die Platten selbst sind in ihrer grau-schwarzen "Halb und Halb"-Optik ein wichtiger Teil des konzeptionellen Designs. Die Pressung meines Exemplars ist trotz der etwas anfälligen Gestaltung einwandfrei. Darüber hinaus, und wie immer bei ASIP: gefütterte Inlays, Bandcamp-Downloadcode, Album-Flyer. (+++++)


 


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022.

26.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 13: Wardown - Wardown II




WARDOWN - WARDOWN II

Ab und an muss ich mich ein wenig hüten, nicht gleich ganze Spermatsunamis über so manche Platte schwappen zu lassen - und was sagt es bitte über mich aus, zu glauben, das sei eine gute, angemessene Formulierung, hm? Frag' ich Sie! Zwar habe ich keinerlei Interesse am professionellen und damit emotionslosen "Loggerpeder" (Matthäus) -Schongang, und es so deutlich auszusprechen ist angesichts der letzten...*checks notes*..., uff: 16 Jahre auf diesem Blog, als trage man einen Satz Lobotomiebesteck in die AFD-Parteizentrale, aber der erste und vielleicht einzige Grundsatz, den ich im Jahr 2007 wie Melchior auf den Türrahmen des virtuellen Eingangs zu meinen 3,40qm kritzelte, lautet immer noch, immer nur über das zu schreiben, was mich (unsittlich, im besten Sinne) berührt, inspiriert, bereichert und eskalieren lässt. Und dann gibt's eben Jubelarien in fast jedem Posting. Die folgende Ausgabe einer solchen beginnt mit der Feststellung, eine höhere Platzierung in meiner Jahresbestenliste wäre "unter strengen Maßstäben" (Dr. Wolfgang "Briefumschlag" Schäuble) für das zweite Album von Wardown durchaus zu rechtfertigen gewesen. 

Achtung, jetzt:

Eine höhere Platzierung in meiner Jahresbestenliste wäre für das zweite Album von Wardown durchaus zu rechtfertigen gewesen ("unter strengen Maßstäben", Dr.Wollo "Opfer" Schäuble). Diesen Satz bitte gleich wieder vergessen, denn er wird für die nächsten Minuten das letzte professionelle Musikredaktionsgequalle gewesen sein, das die Netzhaut meiner allerschönsten Leser:innen bestrahlt. 

Vielleicht wird es erst in ein paar Jahren ins kollektive Langzeitgedächtnis der Elektrofummler hineingelasert, wie wichtig und innovativ die Arbeiten von Pete Rogers zu Beginn der zwanziger Jahre waren. Sein Debut "Wardown" erzählte in einer Zurückführung an den Ort seiner Kindheit von Sehnsucht und Nostalgie, die er mit all jener Ambivalenz herausarbeitete, die aus dem Gefühl warmer Intimität und kühler Distanz entstehen muss - und entwarf so mit einigen Zaubergriffen ein Werk, das das eigene Sentimentalitätszentrum in eine universelle Schwingung versetzte. Mit dem Nachfolger "Wardown II" ist ihm im Grunde ähnliches gelungen, nur kommt Rogers dieses Mal aus der Zukunft. 

"Wardown II" reist zurück in eine Zeit, die heute als die optimistischste in Bezug auf unsere Zukunft gesehen wird. Die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren randvoll mit der Fazination einer besseren Zukunft, einem besseren Leben für alle. Fantastische Ideen, Utopien, Träume kulminierten in erstaunlich konkret gefasste Vorstellungen und sogar Zeitpläne über den technischen Fortschritt. Visionen von kompletter und in jeden Lebensbereich einziehender Automatisierung, der Einsatz von Robotern und fliegenden Autos waren das eine. Das andere, dass die Lust an der eigenen Berauschtheit angesichts eines solchen herbeigewünschten oder -halluzinierten Fortschritts, sowohl die bereits damals bekannten Probleme als auch jene der Zukunft - und deren Verstärkung - so vollständig ausblenden konnte. 

Rogers hat den naiven Optimismus aus jener Zeit zum zentralen Element des Albums gemacht, und er gibt seinen Songs jeden Raum, ihre Geschichten zu erzählen. Rein stilistisch hat sich dabei im Vergleich zum Debut nicht irrsinnig viel getan, die grob formulierte und extrasanft umgesetzte Mischung aus Ambient-Tiefe und Drum'n'Bass und Jungle-Geflacker hat auch auf "Wardown II" nichts von seinem Reiz eingebüßt und wird mit Spoken Word-Passagen aus damaligen Werbe- und Wissenschaftssendungen zusätzlich für das angereichert, was die größte Kompetenz des Albums ist: sein Storytelling. Wie aus jeder Note und jeder Persepktive sowohl Hoffnung und Erwartung wie auch Wehmut und Nostalgie entstehen. Wie sich dabei jeder Erzählstrang wie eine Doppelhelix um die innersten Motive herumwickelt. Wie seine Sounds Farben und Designs entstehen lassen, ganze Gebilde und Architekturen, die wir im kulturellen Bewusstsein als "DIE ZUKUNFT" abgespeichert zu haben scheinen. 

"Wardown II" schaut zurück in die Zukunft. Voller Sehnsucht. Voller Traurigkeit. Mit besinnungsloser Hoffnung. 


Vinyl: Nicht nur tadellos und ohne einen einigen Kratzer gepresst, sondern bereits wie beim Debut mit bestechender Dynamik und Tiefe. Ein durch und durch begeisternder Klang. Bestens mit dem Thema des Albums harmonierendes Artwork, dazu vier Drucke mit Zitaten aus dem Albumkontext. Die Platten stecken leider in dünnen, ungefütterten Papierhüllen. (++++)

 


Erschienen auf Blu Mar Ten, 2022.