26.02.2014

2013 ° Platz 1 ° Stephan Mathieu & David Sylvian - Wandermüde



STEPHAN MATHIEU & DAVID SYLVIAN - WANDERMÜDE


Wie auch bei Brock van Weys BVDUB-Projekt ist es manchmal nicht einfach, Bewunderer von Stephan Mathieu zu sein, denn der 46-jährige Klangmeister aus Saarbrücken hat bisweilen eine ähnlich getaktete Veröffentlichungsfrequenz wie der ernste Denker aus China. "Wandermüde" steht demnach hier exemplarisch auch für die anderen Werke Mathieus aus dem vergangenen Jahr: das epische, achtzigminütige  Doppelalbum "The Falling Rocket", das selbst in leisen Momenten Wände zum Zittern bringen kann und "Un Cœur Simple". Seine Kollaboration mit dem französischen Musiker Sylvain Chauveau (u.a. empfehlenswert: "Le Livre noir du capitalisme", 2000) - "Palimpset" - zählen wir auch noch mit dazu.

"Wandermüde" basiert auf einem experimentellen Album des Briten David Sylvian: "Blemish" erschien im Jahr 2003 erstmals auf Sylvians eigenem Label Samadhi Sound und bot spröde, zerfaserte Kompositionen, die sich inhaltlich vor allem mit der just erfolgten Scheidung von seiner Ehefrau Ingrid Chavez auseinandersetzten. Was man dem Werk auch folgerichtig anhört: "Blemish" ist starker Tobak, manchmal scheint es gar, als wolle es als eine Art trostloser Version von Mark Hollis' erstem Soloalbum in die Musikgeschichte eingehen, gilt jedoch unter seinen treu ergebenen Fans bis heute als Meilenstein der experimentellen Phase Sylvians. Genau jene Fans waren, betrachtet man die Unmutsäußerungen aus dem Internet, alles andere als amused, als ihnen "Wandermüde" unter die Haut kroch. Dabei ist es aus meiner Sicht immer ein gutes Zeichen, wenn Anhänger eines etablierten und als intellektuell geltenden Künstlers den Kopf schütteln, vor allem dann, wenn sich die Kritik aufgrund der Abstraktion der Musik auf "Wandermüde" wie ein hilfloses Herumrudern beider Arme liest. Wenn die einzigen Ansatzpunktpunkte die fehlende Stimme Sylvians, sowie die vermeintlich ausbleibenden Verweise auf das Ursprungswerk lauten, dann, Freunde: wird's doch erst so richtig spannend.

Ich muss zugeben, dass ich natürlich einen Wissensvorsprung habe. Ich kannte Stephan Mathieu, war mit seinem Werk vertraut, und ich wusste zumindest in Ansätzen, was mich erwartete. "Wandermüde", ursprünglich nur als Begleitmusik für eine iPhone App gedacht, die Sylvians Digitalfotografie untermalen sollte, stellt dabei für mich, und damit lege ich mein offizielles und irrelevantes Veto gegen die manchmal verbreitete Meinung ein, das Album sei extremer als "Blemish", es setze einen "Kontrapunkt" zum Ursprungswerk und sei dunkel und ernst, einen Weichzeichner dar, der die lückenhafte und zerrissene Vorlage vereint, der die klaffenden Wunden auf "Blemish" versorgt und heilt. Die direkten Bezüge mögen kaum offensichtlich sein - der Verweis im Opener “Saffron Laudanum” auf Sylvians "The Only Daughter" kann aber einem kurioserweise selbst dann auffallen, wenn das Original unbekannt ist - was Stephan Mathieu allerdings auf geradezu magische Weise gelingt, ist "Wandermüde" zu einem Teil von "Blemish" zu machen - und umgekehrt "Blemish" zu einem Teil von "Wandermüde". "Blemish" ist nicht abwesend oder nur in homöopathischen Dosen zu erahnen, das genaue Gegenteil ist der Fall: es ist überall. "Blemish" schwingt in jeder Frequenz mit, in jedem Rauschen des Transistorradios, in jeder modulierten Klangwelle.

Mathieus Soundästehtik ist auch hier wieder exakt jene, die meine Ohren beim ersten Aufeinandertreffen mit seinem "Radioland" im Jahr 2009 zum Glühen brachte: der feingliedrigste und tiefste und schönste Klang der Welt. Einzigartig, vollständig ausgebildet, mit einer nie dagewesenen Übersicht und Weite über sämtliche feinstofflichen Ebenen der Musik gespannt.

Erschienen auf Samadhi Sound, 2013.

18.02.2014

2013 ° Platz 2 ° Dexter Story - Seasons



DEXTER STORY - SEASONS


Am Anfang war das Cover. Wenn eine Platte so aussieht, werde ich immer hellhörig. Was gleichzeitig bedeutet, und das ist ein weiteres Merkmal des Florian'schen Musikjahres 2013, dass Artworks so wichtig sind wie vielleicht niemals zuvor. Wenigstens für mich. Natürlich, es gibt Platten, die man sich auch dann kauft, wenn man sich zwei extralange Stricknadeln in die Klüsen treiben will, will man aber als Überraschungsgast in meinem Warenkörbchen landen, ist es ratsam, seine Platte nicht so aussehen zu lassen. Und noch weniger nennt man sie dann "Bumsen". Grundgütiger.

Im Falle von Dexter Story ging der zweite Blick auf den Labelnamen. Kindred Spirits waren mir unter anderem dank der großartigen Mia Doi Todd Single in bester Erinnerung. Das niederländische Label veröffentlicht nicht gerade Tonnen an neuer Musik, aber wenn sie es tun, machen sie es immer gut und "Seasons" ist keine Ausnahme.

Der dritte Blick war genaugenommen das dritte und vierte Ohr: "Seasons" ist ein sonnendurchfluteter Nachmittag am Strand, funkelnd und bei aller Hippieattitüde urban und auch schon so ein bisschen hip. So hip man halt sein kann, wenn die musikalischen Fixpunkte eines Multiinstrumentalisten Soul, Funk, (Spiritual) Jazz, Progressive Rock und 60s/70s Psychedelia sind. Die Ausstrahlung dieser von Carlos Nino (The Life Force Trio) co-produzierten Songs ist überwältigend positiv, wärmend und aufbauend, die Aussage und der Anspruch klar und deutlich formuliert:

"The message (...) was one of optimism and empowerment, to create a classic record that would reward repeat listens, and grow with the listener, that could be enjoyed through several decades."

Geholfen haben dabei mit Miguel Atwood-Ferguson, Mark de Clive-Lowe, Dwight Trible, i_Ced und Gaby Hernandez Teile der jungen Soul- und Jazzszene aus Los Angeles. Sie haben "Seasons" zu einem großen, verbindenden, versöhnlichen und spirituellen Kollektivkunstwerk gemacht, das, wie schon Freund Simon anmerkte, ohne die kurzen, manchmal eingestreuten elektronischen Interludes zwischen den Songs, klingen würde, als sei es 1975 geradewegs aus einem verlorengegangenen Earth, Wind & Fire-Album rausgefallen.

Oder, um mich selbst zu zitieren: "Bock auf geile Hippiegedröhnschunkelei, live von der Strandpromenade in Los Angeles, auf Rollschuhen, mit Blumen im Haar, Love'n'Peace, Wärme, Sonnenstrahlen, Vanilleeis und leichte Lektüre aus der Harlem Renaissance?"

Ihr kennt die Antwort. Weil es im Grunde auch nur eine gibt.

Erschienen auf Kindred Spirits, 2013.

15.02.2014

2013 ° Platz 3 ° INC - No World



INC - NO WORLD

Es ist der Morgen des 27.Dezember 2006, 7 Uhr 23. Der US-amerikanische Popstar, Multiinstrumentalist und -millionär formerly und jetzt also again known as Prince Rogers Nelson erwacht in seinem 4 x 4 Meter großen Bett. Er ist allein. Minneapolis kann alt und grau sein, wenn man selbst alt und grau wird, und wenn die Feiertage vorbei sind und die Hangovers sich die Klinke in die Hand geben, wird aus dem grauen Schleier über der Stadt ein schwarzer Klumpen Menschenteer. Gestern Nacht noch hat er im Auftrag der Zeugen Jehovas an die Türen von unschuldigen Menschen geklopft, um mit ihnen "seinen Glauben zu diskutieren". Eines seiner Opfer bekam umgehend einen Schlaganfall, das Ergebnis lautet ein blaues Auge und eine gebrochene Rippe. Princeova, wie seine Freunde - ein sprechendes Usambaraveilchen in blass-purple und eine Alf-Handpuppe - ihn nennen dürfen, ist down mit sich und Minneapolis. Alles ist grau (wir berichteten) und ruhig, Jehova ist gerade einkaufen. Die gebrochene Rippe schmerzt beim Lachen. JEHOOOVAAA, JEHOOVAAAA. Nelson lacht.

Der laufende Meter hat heute nichts mehr vor, die Quoten gestern waren in Ordnung: er hat auf seinem Rundgang zwei Bluttransfusionen eigenhändig gestoppt und damit zwei Seelen näher zu Gott gebracht. Und vor allem schneller. Die Veganische [sic!] Volksfront hat ihn gerade zum erotischsten Vegetarier des Jahres gewählt und die anstehende Hüftoperation lässt sich mit einem Leben im Rollstuhl bestens aussitzen. Trotzdem neigt der GröKleiGAZ (größter kleiner Gitarrenspieler aller Zeiten) seit der Listeningsession zu seinem Album "3121" zu psychischer Verstimmung, weil der gelieferte Schampus nur Rotkäppchensekt war und die Redakteurin vom Rolling Stone das Bidet mit dem Pissoir verwechselte. Während der frisch geschorene Bonsai also in seiner Küche verspielt an einer frischen Schweinehaxe herumnagt, Rohkost hält die Backen glatt, geht der Griff wie an jedem Tag mit ungerader Stundenzahl in den Bereich des begehbaren Kleiderschranks, in denen der ehemalige Krösus und Hollywoodbezirksbeschäler (Carmen Electra) seine Schmerzmittel und Beruhigungspillen aufbewahrt. Ein Tässchen Ketamin in das Kuttelmüsli, ein Esslöffel frischer Stutenmilch dazu - ein Frühstück für Gewinner. Jetzt ist Prince bereit für neue Musik.

"No World" der beiden Brüder Andrew und Daniel Aged könnte das Ergebnis dieses wenig herausfordernden Morgens des Prince Rogers Nelson sein. "No World" ist alles und nichts; dabei immerhin sehr angemessen betitelt, denn ihre Musik erweckt manchmal tatsächlich den Eindruck, nicht von wenigstens dieser Welt zu sein. Die beiden Herren sind seit Jahren als Produzententeam für angeblich gar nicht so unbekannte RnB-, Soul- und Popsternchen (nicht) in Erscheinung getreten und veröffentlichen nun auf dem renommierten 4AD Label ihr zweites Album unter dem Projektnamen INC. "No World" ist sedierter Soul, zwischenweltlich. Ich würde jetzt gerne melancholisch schreiben, aber eigentlich sind ihre Kompositionen nicht melancholisch. Ich würde reflexartig eine unterkühlte, distanzierte Atmosphäre erwähnen, nur um im nächsten Moment mich daran zu erinnern, wie tief, einlullend und wärmend ein Song wie "Five Days" sein kann. Eine gewisse Gleichförmigkeit? Negativ - wer genau hinhört, erkennt die subtilen, meisterhaft ins Szene gesetzten dynamischen Griffe zum Schwungrad. Es ist eine Art blauer Cremigkeit, eine zärtliche und unprätentiöse Musik ohne Rockstargestus, ohne jedes Klischee, mystisch, esoterisch. Mit den in sich verlaufenden, übereinandergelegten Layern ihrer komplexen Arrangements und mit dem Entzug von allem Stofflichen ist "No World" die Ambient-Version des Soul. Eine einzigartige Musik.

Erschienen auf 4AD, 2013.

13.02.2014

2013 ° Platz 4 ° Justin Timberlake - The 20/20 Experience I



JUSTIN TIMBERLAKE - THE 20/20 EXPERIENCE I


Hi. Ich bin Flo. Ich mag die Musik von Justin Timberlake. And now: fuck off.

Viel mehr gibt es zu der Diskussion, warum sich nicht wenige der vermeintlich im Undergroud herumtaumelnden Zeitgenossen gerade auf Justin Timberlake einigen können, nicht zu sagen, denn vermutlich geht's vielen ähnlich wie mir: ich mag seine Musik. Stylerpunkte sammelt man damit jedenfalls, knietief im Mainstream watend, eher nicht so viele, vor allem dann nicht, wenn man nebenher noch in einer Punk- und Hardcoreband spielt.

Nach der fantastischen "Futuresex/Lovesound" Scheibe aus dem Jahr 2006, auf der Timberlake mit Produzenten-Superheld Timbaland das "Thriller" des neuen Jahrhunderts zusammenstrickte und mich damit gar derart begeistern konnte, dass ich mich inmitten zehntausend kreischender Teenies in der Frankfurter Festhalle wiederfand (und natürlich während des unerträglich schlechten HipHop-Teils des Abends und nach einigen, äh, kritischen Bemerkungen meinerseits Streit mit einem zweibeinigen Stiernacken bekam; ich zitiere:"Geh' do na Hause, wenns der net passt!"), musste ich also knappe sieben Jahre auf den Nachfolger warten, und auch wenn's mir freilich keine schlaflosen Nächste bereitete, dass sich Timberlake in all den Jahren lieber auf seine Karriere als Schauspieler konzentrierte, als neue Platten aufzunehmen, habe ich mich über die Rückkehr ins Aufnahmestudio durchaus gefreut - und nach exzessiver ohraler Liebkosung des ersten Teils der "20/20 Experience" (dessen Klasse der im Herbst nachgeschobene zweite Teil zu keinem Zeitpunkt erreicht) ist die Freude blankem, kindischem, "naiv-minderbemitteltem" (Peter Weihnacht) Fanatismus gewichen.

Dabei kommt die Platte etwas schwer in die Gänge: die erste Single "Suit & Tie" ist zu Beginn eine Spur zu zugeknöpft und erinnert vor allem klanglich an die großen US-Entertainer aus den vierziger und fünfziger Jahre des 20.Jahrhunderts, überrascht dazu noch mit einem komplexen Arrangement, wächst nach einigen Durchläufen aber zu einer soliden Nummer heran. Und wer mit dem beinahe schon progressiven Achtminüter "Pusher Love Girl" seine erste Platte seit sieben Jahren eröffnet, der macht es sich und uns nicht gerade einfacher. Aber spätestens ab "Don't Hold The Wall" brechen für die nächsten knapp 60 Minuten sämtliche Dämme: Timberlake croont sich mit faszinierend spiegelnden und funkelnden Pop/Dancetracks in die Ewigkeit. Zwischen dunkel pumpendem Beatgestrüpp wie dem erwähnten "Don't Hold The Wall", dem textlich völlig behämmerten "Strawberry Bubblegum", ebenfalls mit acht Minuten ein vielschichtig und sorgfältig aufgebauter Prog-Popper aus dem Bilderbuch, den drei extrasmoothen super-slowmo-sperma-schlürfenden Soulballaden "Tunnel Vision", "Spaceship Coupe" und "That Girl", dem latinbeeinflussten Arschwackler "Let The Groove Get In" und der deepen und im Vergleich erfrischend unkitischigen Megaballade "Blue Ocean Floor", steht vor und über allem der Song, der so ziemlich alles über Timberlake und diese Platte aussagt:"Mirrors" ist ein kommender moderner Klassiker populärer Musik, eine Liebeserklärung an die Menschen, den Groove, die Freude, die Lust und an positive Power. Und, logisch, die Liebe. Da fällt die jetzt folgende Exkursion nach Vocal-Nerdhausen natürlich total aus dem Rahmen, aber als einer, der gute Stimmen und gute Sänger über alle Maßen schätzt, muss ich es sagen, wenn nicht gar schreiben: Als Timberlake den schwierig zu singenden Titel im Rahmen der Brit Awards 2013 live aufführte und ich den ein oder anderen nicht getroffenen Ton und eine generelle Eckigkeit in der Performance ausmachte, nicht wirklich störend, aber eben doch wahrnehmbar, dachte ich schon, der olle Kiffer hätte kurz vor der Show eine Runde zu tief in die Bong gelinst. Schwamm drüber, ist halt nicht besonders einfach zu singen.

Einige Wochen später sah ich eine Aufzeichnung der US-amerikanischen Talkshow "Ellen". Und Justin sang "Mirrors". Wie auch zuvor in England mit kompletter, großer Band. Und Chor. Und Brass-Section. Und er sang. Und meine Fresse - wie er sang. Er war perfekt. Live. Das war die dickste Gänsehaut des Jahres.


Mein Gott, wie er singt. Wie die Band spielt. Woah!

Erschienen auf RCA, 2013.

09.02.2014

2013 ° Platz 5 ° Bvdub & Loscil - Erebus



BVDUB & LOSCIL - EREBUS


Für eine ziemlich lange Zeit sah es so aus, als wäre Bvdubs "A Careful Ecstasy" der Gewinner, um aus dem Fundus von Brock van Weys Arbeiten des Jahres 2013 für diese Liste auserwählt zu werden. Und tatsächlich ist das im Januar des letzten Jahres erschienene Album des Wahlchinesen eines seiner schönsten und vor allem stimmigsten Werke geworden. Ich erinnere mich noch gut an diesen einen und einsamen Gedanken zur Jahresmitte, als ich davon überzeugt war, Brock habe seinen Stil hiermit endgültig perfektioniert. "At Night This City Becomes The Sea" ist im Vergleich luftiger und leichter, das im Herbst veröffentlichte "Born In Tokyo" fiel mit leicht erhöhtem Kitschfaktor wieder etwas ab, weswegen die Sache klar schien: "A Careful Ecstasy" soll es sein.

Dann kam "Erebus".

Im Oktober schrub ich dazu:
Es gibt Momente auf dieser Platte, die mir schier die seelenlose Hülle meines irdischen Daseins sprengen. Es ist laut, manchmal nah an der Unerträglichkeit. Ich will, ach was: ich muss platzen. Ich bekomme körperliche Reaktionen. Schweißausbruch. Husten. Jetzt könnte man sagen, ich soll aufhören das Poster von Kristina Köhler anzuschauen, aber was alleine "Aether" mit mir anstellt, ist beeindruckend, beängstigend und macht einen am Ende des Tages dann eben doch zwei Köpfe größer, mindestens aber zu einem besseren Menschen. Genug der Lobhudelei, nur eins noch: "Erebus" erscheint auf Glacial Movements. Spätestens jetzt wissen die Eingeweihten, was zu tun ist. Genau, Fieberthermometer und Wadenwickel.

Und jetzt sitze ich vier Monate später immer noch hier rum, natürlich mit Fieberthermometer und Wadenwickel. "Erebus" ist frei von Beats, ähnelt daher eher den großen Bvdub-Momenten wie "The Truth Hurts" oder "The Art Of Dying Alone" und liegt in meiner Wahrnehmung einen kleinen Hauch vor seinen zaghaft groovebetonteren Alben, die sich in den letzten beiden Jahren in seiner Diskografie etwas behaupten konnten. Mit "Erebus" fügt Brock van Wey ebenjener ein weiteres Juwel hinzu; ein Juwel, das sich seit Oktober 2013 zuverlässig in meiner Abspielvorrichtung für kleine, silberne Plastikscheiben eingenistet hat und immer dann zum Einsatz kommt, wenn ich ein Antidot gegen das ohrenbetäubende Tosen von Draußen benötige.

Erschienen auf Glacial Movements, 2013.

05.02.2014

2013 ° Platz 6 ° Four Tet - Beautiful Rewind



FOUR TET - BEAUTIFUL REWIND


"no pre order, no youtube trailers, no itunes stream, no spotify, no amazon deal, no charts, no bit coin deal, no last minute rick rubin." - Kieran Hebden

Im Rückblick auf die bisher vorgestellten Platten und die darüber geschriebenen Worte fiel mir auf, dass die Abstände zwischen den einzelnen Titeln im vergangenen Jahr, im Vergleich mit den Ergebnissen aus den Jahren zuvor, deutlich geringer ausgefallen sind, in manchen Fällen erscheinen sie geradewegs mikroskopisch klein, fast nicht wahrnehmbar. Will sagen: das alles verschwimmt mehr und mehr zu einer großen, aber vor allem großartigen Masse Musik, und trotzdem ist jede Scheibe für sich eine mitreißende und einzigartige Ein- und Schönheit. Dass ich diese Einleitung ausgerechnet bei Four Tets "Beautiful Rewind" verwende, kommt nicht von Ungefähr. Kieran Hebdens neues Album, das erste seit dem überwältigenden "There Is Love In You" aus dem Jahr 2010 (die schwache 2012er 12-Inch-Compilation "Pink" mal außen vor gelassen), könnte auch gut und gerne kurzfristig, ergo just in diesem Moment, in dem ich diese Zeilen in den Laptop einhacke, in der Reihenfolge nach vorne preschen, ohne damit die anderen Platten abzuwerten.

Es ist einerseits der bloße, konkrete Moment, andererseits aber auch der beliebig tiefe Pinselstrich, der auf "Beautiful Rewind" so viele Ebenen und Plattformen zum Leben erweckt, die die Auseinandersetzung mit dieser Platte so lohnenswert machen. Inmitten der Massen an Wohnzimmerfuchtlern, die außer der Dekonstruktion nur selten einer weiteren musikalischen Idee folgen, ist einer wie Hebden vielleicht nicht (mehr?) der innovativste, abgefahrenste, wildeste Typ der Welt, dafür rollt sein 2013er Werk klarer als vielleicht jemals zuvor nicht nur den Charakter und die Virtuosität seines Erschaffers, sondern auch dessen stilistische Unnahbarkeit auf einer Großbildleinwand aus. Wer hier auf einzelnen Tracks herumreitet und die Dechiffrierung anstrebt, kann seine Spekuliereisen gleich wieder einpacken. Damit ist diesem Album nicht beizukommen.

"Beautiful Rewind" ist anders als alles, was Du in den letzten Jahren gehört hast, und seine Tracks sind bei aller innewohnender Heterogenität das endgültige Manifest von einem, der nie still steht, der dabei in seinem eigenen Kosmos voranschreitet und nur wenig auf die hört, die in den letzten 15 Jahren an ihm vorbeigeschlittert sind. Kieran Hebden ist immer noch da und hört viel mehr auf das, was seine Plattensammlung aus 100 Jahren so alles ausspuckt. Sein Wille zur Weiterentwicklung, nach seinen Erfahrungen mit Jazzdrummer Steve Reid offensichtlich nochmals geschärft, mündet sogar noch stärker als früher in ein Amalgam des Klangs: auch wenn Hebden in erster Line für Rhythmus und Groove steht, zunehmend auch aus afrikanischer Kultur destilliert, sind seine schrägen Miniaturen aus Melodien und Samples fundamentaler Bestandteil dessen, was sich mehr und mehr als "Jazz" enttarnt. Hebden mag kein musiktheoretisch geschulter Instrumentenmusiker sein und wird damit von den Puristen sicherlich niemals in ihre vermeintlich heiligen Hallen aufgenommen werden; dass er aber den freien Geistern des Jazz aus den 60er und 70er Jahren viel näher steht als so manches in den Mainstream hochgejazzte Kalkül aus kuschligem Nichts, ist keine zu vernachlässigende Randnotiz, sondern viel mehr sich bahnbrechende Realität.

Erschienen auf Text Records, 2013.

2013 ° Platz 7 ° Maschinedrum - Vapor City



MACHINEDRUM - VAPOR CITY

Der erste richtig große Bassblitz im Opener "Gunshotta" trifft einen, wenngleich erwartbar, nicht weniger überwältigend direkt zwischen die Augen - dort zentriert sich tatsächlich dieses tiefe, ewige Brutzeln, über das die nervöse Snare klackert und über den sich ein Stimmenecholon annährt und wieder entfernt, sich annährt und wieder entfernt ... entfernt ... entfe.....

Ich muss an mich halten, um nicht den Kritikerquatschnusssatz "Das ist die Platte, die man nach dem Debut von Burial erwarten musste" hier hinzuschreiben, und jetzt ist er mir doch aus der holen Rübe direkt in die gichtigen Griffel gefallen, aber eher als ein Anschauungsobjekt im Proseminar "Musikkritik gone horribly wrong", denn auf Albumdistanz wär's dann doch kompletter Mumpitz. Der US-Amerikaner Travis Stewart, der seit seinem zwölften Lebenjahr elektromusikalisches Terrain erobert und mittlerweile mit über zehn LPs und ungezählten Singles und Projekten (u.a. mit Praveen Sharma als Sepalcure und zusammen mit Wunderkind Jimmy Edgar als Jets) klotzt, ist bedeutend weniger klaustrophobisch und manisch, als man es vom scheuen Londoner Burial vermuten könnte, der aus meiner Sicht immer noch erfolglos auf der Suche nach dem Ausgang aus dem goldenen Käfig ist, in dem er es sich seit Jahren gemütlich gemacht hat. Denn auch wenn Stewart seine Soundsozialisation inmitten von originären UK-Clubsounds wie Dubstep, Garage und Drum'n'Bass austoben lässt, lebt auch "Vapor City" wie schon der grandiose Vorgänger "Room(s)" von seinem untrüglichen Gespür für kilometerdicke Schichten aus Melodie und Groove und seiner Unbekümmertheit im Umgang mit Grenzen. Mal weht ein funkiger Chicago House-Groove durch die entfernt dahindämmernde Stadt, mal steppt der Jazz unter einem Regenschirm im Immergrünpark umher, mal geht's ab in die Unterwelt, zu den dunklen Träumen, den Nebelschleiern aus Emotion und Romantik - wo sich dieser hypersensible, feingesponnene Granitblock am wohlsten fühlt. Hier ist er geboren. Das ist seine Stadt, das sind seine Mauern, das ist sein Leben.

Erschienen auf Ninja Tune, 2013.

P.S. Das war mein 500.Blogpost. *tusch*

31.01.2014

2013 ° Platz 8 ° Pinnick, Gales, Pridgen



PINNICK, GALES, PRIDGEN



Die große Überraschung des vergangenen Jahres ist das erste Album dieses All-Star Trios, und ich hätte all das wirklich nicht für möglich gehalten: Bassist/Sänger dUg Pinnick von King's X, Gitarrenwunderkind Eric Gales und der zwischen Genie und Wahnsinn pendelnde Thomas Pridgen, der schon bei den Koffeinüberdosis-Alben von The Mars Volta für sowas ähnliches wie "Groove" zuständig war, haben unter der Regie von Mike Varney (u.a. Shrapnel Records, die älteren werden sich erinnern) dessen musikalischer Vision Leben eingehaucht und ein vor Kraft und Groove nur so strotzendes Rockalbum zusammengebastelt, das mir unter normalen Umständen gar nicht aufs Radar geplumpst wäre - hätte ich nicht im letzten August ein aktuelles Interview mit dUg Pinnick gelesen, in dem er über seine Schulden, seinen Hausverkauf, seinen Umzug nach Los Angeles, sein Soloalbum und eben diese Kollaboration berichtete. Da machte sich der Florian anschließend mal wieder Gedanken: der Mann ist nun seit 23 Jahren mehr oder weniger an meiner musikalischen Seite, und gerade in den letzten drei Jahren ist meine Wertschätzung gegenüber seiner Hauptband nochmal deutlich größer geworden - wie kann es sein, dass dieser Typ nach 40 Jahren im Musikbusiness, mit Majordeals und zig Welttourneen, zudem als hochrespektierter und -verehrter Musiker seine Rechnungen nicht bezahlen kann?

Das Ergebnis: ich las, klickte und kaufte. An einem Abend gleich vier Platten. "Pinnick, Gales, Pridgen" war eine dieser Spontankäufe, und selbst wenn ich anfangs eher an ein trauriges, stehengelassenes und kaltes Resteessen dachte, wurde ich vom Probelauf der Single "Collateral Damage" ordentlich durchgeschüttelt. Das Video ist zwar ein Skandal und selbst mit ordentlich Ironie unter der Mütze noch nicht mal ein halbsteifer Witz, aber der Song kann alles. ALLES! Wenn man ihn laut hört. LAUT! Und nicht nur der: Gales, ein Rechtshänder, der eine Gitarre für Linkshänder spielt, die auch noch saitenverkehrt (pun intended!) aufgezogen ist, feuert ein mächtiges, bluesinspiriertes Riff nach dem anderen ab und zeigt sich auch bei den von ihm gesungenen Tunes bestens bei (Blues)Stimme, Pridgen gibt dem Affen spätestens bei "Black Jeans" ordentlich Zucker, lehnt sich aber ansonsten nicht über Gebühr aus dem Fenster, dUg beeindruckt wie gehabt mit seiner einzigartigen Stimme und einem Basssound, für den andere töten würden. Zusammen brutzeln die drei Helden an einem kochendheißen Grooverock-Sud, deutlich an der Rockmusik der 70er Jahre orientiert, aufgepeppt mit klassischen, manchmal leicht alternativen King's X Verweisen ("Wishing Well") und moderner, saftiger Produktion. Das für mich bemerkenswerteste Element von "Pinnick, Gales, Pridgen" ist hingegen eines, das nur schwer zu erklären ist - es findet sich eine Art Hedonismus in dieser Musik, der zwar so manch dunkleren Note und bitterem Wort gegenübersteht, mich aber gleichzeitig mit satter Lust am Leben an die Wand nagelt. Nicht klischeehaft breitbeinig, ohne Macho-Attitüde, dafür im allerbesten Sinne cool, aufrichtig und in den besten Momenten tatsächlich einen Tacken rebellisch. Eine Platte für stilvolles Feiern mit guten Freunden. Dafür schalte ich meinen Nihilismus gerne mal einen Abend lang ab. Für mich ist das die beste Rockplatte des Jahres.

Erschienen auf Magna Carta, 2013.

28.01.2014

2013 ° Platz 9 ° Segue - Pacifica



SEGUE - PACIFICA

Auf dem Siegertreppchen für das schönste Coverartwork des Jahres steht "Pacifica" ja schon, musikalisch hat es im "Leicht & Locker"-Modus für die Top Ten gereicht. Der kanadische Produzent Jordan Sauer erschafft auf seinem vierten Album als Segue eine ambivalente Stimmung aus sonnendurchfluteten, ultrarelaxten, perkussiven Dub-Techno Sounds, und einer sich trotz aller Wärme und Gelassenheit immer wieder bahnbrechenden Distanziertheit und Melancholie. Ich bin noch nicht ganz dahintergekommen, woher gerade der zweite Teil meiner Beobachtung stammt, denn offensichtlich ist sie nicht - in genau dem Maße, in dem ich verstehe, dass "Pacifica" eine weiche Wattewolke sein kann, in der man man einfach versinkt und sich sonst nichts weiter tut, weil sich als ultimative Basis eines solchen Sounds eben auch nichts tun muss, erkenne ich eine Art überwältigender, bittersüßer Traurigkeit. Durchaus im Rahmen eines fröstelnden "Alles ist gut"-Gefühls, aber dennoch wenigstens nachdenklich. Vielleicht bin ich auch einfach mit den Emotionen überfordert, die "Pacifica" bei mir auslöst.

Mich erinnert das an die eindrücklichen Momente während meines letzten Urlaubs im Jahr 2008: Spanien, Meer, Costa Blanca. Im Oktober und deshalb abends und nachts arschkalt. Nun war wenige Tage vor Urlaubsantritt gerade Reiner verstorben, und wo ich das gerade schreibe merke ich, dass es über fünf verdammte Jahre sind. Und als ich da also abends so stand, in gefühlsduseligen Nebel, am Rand der Hotelterasse, auf das Meer schaute, es hörte und es riechen konnte, da war ich erschlagen von der Größe und der Macht der Welt, von der eigenen kleinen Existenz, die sich zu Hause um Anschlusszüge und farblich abgestimmte Socken Gedanken macht, von der Vergänglichkeit, von der lächerlich kurzen Zeit, die uns allen bleibt.

Was klingt, als würde ich mich demnächst von der Fensterbank stürzen (Erdgeschoss), ist ganz und gar nicht so gemeint: mir ging es damals gut und mir geht es heute gut. Wenn mich Musik an solche Orte transportieren kann, wenn sie inspiriert, wenn sie provoziert, dann darf ich dUg Pinnick zitieren:"It's all good, it's all good."

Erschienen auf Silent Season, 2013.

26.01.2014

2013 ° Platz 10 ° Kentyah Presents M1, Brian Jackson & The New Midnight Band - Evolutionary Minded -Furthering the Legacy of Gil Scott-Heron



Kentyah Presents M1, Brian Jackson & The New Midnight Band - Evolutionary Minded -Furthering the Legacy of Gil Scott-Heron

Der Interpret und der Titel sind ja nicht besonders catchy; in Zeiten des rasenden Internets hört die Mehrheit wohl spätestens nach der Nennung Brian Jacksons nicht mehr hin und twittert lieber "HDGDL" an Justin Biebers Piephahn, aber sei's drum: 2013 war das Jahr von Gil Scott Heron Tributes. Nicht nur der kürzlich vorgestellte Kayo bastelte seine persönliche Anerkennung für den großen Soulpoeten zusammen, auch der bislang unbekannte Produzent Kentyah aus den USA konnte sein Projekt nach jahrelanger Arbeit endlich veröffentlichen. In diesem Fall fällt das Ergebnis aber eine ganze Nummer größer aus - nicht zwangsweise qualitativ, aber wo Kayo alleine in seinem Schlafzimmer vor sich hinwurschtelte und am Ende 300 LPs pressen ließ, hat Kentyah die legendäre Midnight Band Scott-Herons und Jacksons mit frischem Blut reanimiert und nicht nur das Hip Hop Duo Dead Prez, den - man höre und staune - gerade in den Jazz-Mainstream durchstartenden Jazzsänger Gregory Porter, Chuck D von Public Enemy ("RIP GSH...we do what we do and how we do because of you."), Martin Luther McCoy (u.a. The Roots), Bobby Seale (Black Panther Party), und Mike Clarke, Paul Jackson und Bill Summers von den Headhunters für dieses Projekt begeistern können, sondern sogar Scott-Herons langjährigen kongenialen Partner Brian Jackson dazu gebracht, sich an jene berühmte Hammond zu setzen, die schon "The Bottle" zu einem der bekanntesten Kompositionen des Duos machte.

Alleine das Personal kommt also einer kleinen Sensation gleich und die Musik steht dem in Nichts nach, es klingt tatsächlich genauso, wie es die Auflistung der Musiker vermuten lässt. Ein smoother, aber politisch aufgeheizter Blend aus Soul, Jazz, Funk und Hip Hop, ein Groover mit Herz und Hirn, zuckende Spoken Word Feuerblitze, Faust in der Luft, Tanzkurs, Kopfnicker, Turnschuhe (wer "Sneakers" sagt, fliegt! Zum Beispiel raus.), Spiritualität. Mein "Dokumentationsprofil" bei Last.fm verrät mir, dass ich ich den letzten sechs Monaten keine Platte öfter gehört habe als ebenjene - freilich sind die Ergebnisse der Statistik verfälscht, weil ich immer noch zu 70% Schallplatten höre, die nicht in den Web2.0-Quatsch übernommen werden, aber dennoch reflektiert die Platzierung den zentralen Punkt dieser Platte: "Evolutionary Minded" nimmt die Kunst, die Tiefe und die Message der alten Scott-Heron Platten an die Hand und führt sie ins das Heute und in das Jetzt. Große Musiker, große Sänger, große Musik.

Erschienen auf Motema Music, 2013.

24.01.2014

Meat!

"Awareness is bad for the meat business. Conscience is bad for the meat business. Sensitivity to life is bad for the meat business. DENIAL, however, the meat business finds indispensable."
-John Robbins


Wir unterbrechen unsere Jahresbestenliste für eine kleine Sonderbeilage der Deutschen Bahn: in deren ICE Zügen (ÖKOSTROM, ÖKOSTROM, ÖKOSTRglglglglgl) liegt, hängt und gammelt seit zwei knapp zwei Wochen dieser obszöne Scheißdreck aus, beziehungsweise herum:


Das "Meat Magazin". Auf dem Cover zwei Steaks von irgendeinem armen Rindvieh mit Pfefferkörnern und einem Kräuterquatsch draufgepackt, damit den Damen und Herren Zuginsassen heiter der Geilheitssabber in die Galoschen rinnt, dazu bereits jetzt schon legendär zu nennende Quatschnuss-Schlagzeilen wie "Gut, gesund, nachhaltig - Fleisch gehört dazu" und - mein Favorit - "Reportage: Schwein haben, jeden Tag". Jetzt kann man sich natürlich eins Grinsen, den Kopf schütteln oder den Müll einfach ins ICE-Klo werfen, man kann auch erstaunt die Augenbraue hochziehen und sich darüber wundern, ob die Fleischmafia angesichts von milliardenschweren Exportüberschüssen und 30 Meter langen Fleisch-und Wursttheken in jedem verkackten Supermarkt in Hinterbumshausen tatsächlich schon derart am Hungertuch nagt, dass sie uns nun also derlei Propaganda ins Hirn drillen muss. Andererseits empfinde ich dieses peinliche "Hallo, wir sind übrigens auch noch da, mmhhmmm, lecker Wurst und Fleisch, so lecker, und so gesund - hört nicht auf die ganzen Umweltstalinisten und Gutmenschennazis, Fleisch ist lecker, gesund und wir hätten jetzt wieder ganz gerne, dass Du Dir 18 Mal pro Tag tote Tiere in den Ranzen ballerst, Du Homo!"-Abgestrampel als eine schöne Bestätigung dafür, dass sich der Wind dreht - langsam zwar, aber er dreht sich.

Wie ich nun mal so bin, es geht sich halt partout nicht aus, habe ich weder gegrinst, noch den Kopf geschüttelt, stattdessen tobte das Adrenalin in mir. Und was macht der Florian, wenn er sich noch ein bisschen mehr in blindem Zorn suhlen mag? Richtig: er recherchiert, aus welchen Knallköpfen dieser Fleisch-Unrat herausgefallen ist. Das Ergebnis finde ich gerade so super, dass ich es posten muss - morgen früh, wenn ich ausgeschlafen bin, fällt das Urteil wohl weniger euphorisch aus, aber es geht ja immer um echte Gefühle und Spontanität und um Klobrillen mit Stacheldraht. Und ums Bumsen. Klar.

Auf der Seite www.susonline.de, dem hochglanzpolierten Webauftritt von "Schweinezucht und Schweinemast", einem Titel aus dem Repertoire des Landwirtschaftsverlags und damit Bestandteil des vielteiligen Bauernlobby-Mosaiks, kann man außer Rechtschreibfehlern und einem Kurzfilm zum Thema "Einblicke in den Transport von Nutztieren", wie ein heißes Messer durch Butter sausend vom Deutschen Raiffeisenverband (DRV) produziert, zu "Meat" folgendes lesen:

"In diesen Tagen ist das Magazin „Meat“ erschienen, das der Deutsche Bauernverband (DBV) für die Internationale Grünen [sic] Woche entwickelt hat. Hiermit werde die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Tierhaltung und Fleischgenuss gestärkt, erklärt DBV-Pressesprecher Dr. Michael Lohse"

vermutlich bevor er sich selbst vollgekotzt hat, weil ihn schlicht der Selbsthass und die Scham überkam.

"Neben Berichten über Landwirte, die Schweine beziehungsweise Rinder halten, bietet „Meat“ unter anderem Tipps zum Wintergrillen, zur Lagerung und zum Einfrieren von Fleisch. Geboten werden dem Leser außerdem ein Steak-ABC sowie diverse Feinschmeckergerichte."

Und wenn der liebe Leser brav ist, findet er vielleicht auch noch ein paar Tipps zum fachgerechten Abknallen von Regenwürmern, Tontauben und Wählern der Grünen.

Soweit hätten wir's dann mitbekommen: es geht um geiles Fleisch und die geilen Stecher, die geiles Fleisch fressen, damit einen die prächtige Bomberpriemel in der Unterhose irgendwann mal am Morgen mit einem kräftigen "MUUUUH!" wecken kann.

Richtig amüsant, jedenfalls für meinen durch Otto Waalkes und Didi Hallervorden geprägten "Humor", wird es indes, wenn man den zweiten auffindbaren Link anklickt und auf die Seite des Zentralverbands der Deutschen Schweineproduktion e.V. (alleine dieses Wort - "Schweineproduktion", es glitscht einem ja wie Seide über die belegte Zunge) stolpert und sich verwundert die Klüsen reibt:

"Kochsendungen sind IN und Ernährungsthemen En-Vogue. Hiervon profitiert ein Zeitschriftenmarkt, der allzu oft jedoch zur Verbreitung von Diätmythen und Ernährungsregeln missbraucht wird. Einen neuen Weg geht das neue Magazin „Meat“ bei dem die ausgewogene Ernährung im Vordergrund steht. In der aktuellen Ausgabe erhält der interessierte Leser Informationen zu seinem Rohstofflieferanten und Tipps und Tricks zur Zubereitung ausgewogener Mahlzeiten. Mit Mythen wird auch aufgeräumt. Eine Zeitschrift für den interessierten und aufgeklärten Konsumenten."

Der aufgeklärte Konsument also. Das scheue Reh, das jeder kennt, aber noch nie gesichtet wurde, es ist praktisch ein Einhorn, ein scheues noch dazu, ein Wesen aus der Fabelwelt, Märchenonkelhausen, ja schießt mir doch einer einen Bolzen ins Gehänge: der klassische Mythenaufklärer, jedenfalls: wie sich die Redakteure des Zentralverbands der Deutschen Schweineproduktion e.V. "ausgewogene Ernährung" vorstellen, wissen wir dann jetzt auch endlich mal: Fleischtomaten, Wurstsalat, Blutorangen und "ein gutes Steak" (vgl. auch: "Die gute Flasche Wein" oder "Ein gutes Buch"). Ausgewogene Ernährung und ausgewogene Mahlzeiten - ausgewogen ist DAS "En-Vogue"-Wort der Gegenwart. Gegen die Gutmenschen-Bourgeoisie, gegen Mythen und Regeln, gegen den ganzen esoterisch verquasten Klappermist mit Pflanzen, Popeln und Paprika, denn die, Hoppla!, Ernährungsregel im Falle "Meat" heißt ja ganz offenkundig: sei aufgeklärt, friss Tiere.

Wie eine mächtige Lobby wahnhaft versucht, im Kampf um Information, konzeptionelle Déformation und der Neueroberung des Common Sense die Oberhand zu behalten.

Zum Abschluss der großartige Jon Stewart. Ab 12:00. "Look at it."



Nachtrag: Das Video wurde mittlerweile gelöscht und ist auch an anderen Stellen leider nicht mehr auffindbar. Meh.

19.01.2014

2013 ° Platz 11 ° Function - Incubation



FUNCTION - INCUBATION

Ganz "interessant", was die Gemeinde der Technojünger so alles in dieses Internet reinschreiben *tut-tut*, wenn die Rede von Functions Debutalbum ist. Wobei - vermutlich schreiben die Technojünger rein gar nichts ins Internet, weil sie am Tanzen, Leben und Lieben sind, jedenfalls hoffe ich das - was allerdings auch bedeutet, dass die Kommentarfunktion der einschlägigen Fachpresse in erster Linie wohl den Budengammlern in die Griffel fällt, die dem Glauben an die eigene Relevanz verfallen sind. Qua Definition könnte ich das auch über mich geschrieben haben, Abteilung "Reflektierte Selbstkritik". Bitte lachen Sie jetzt. Höhnisch.

Egal, zurück zum beinahe Wesentlichen: die einen finden Functions Livesets besser als seine Studioarbeit und glauben, dass Produzenten von "Technoalben" grundsätzlich zuviel auf Ambient machen. Die anderen bevorzugen das letzte Sandwell District Album, an dem David Sumner aka Function ebenfalls großen Anteil hatte, wieder andere - und jetzt wird's schön, beziehungsweise arschtraurig - empfinden Functions Sound angestaubt und nicht im Geringsten innovativ. Wie gut, dass ich mich um derlei inhaltliches Geplänkel in der Regel nicht kümmern und nur die Musik hören muss. Es ist zwar richtig, dass "Sandwell District" (der Preis ist übrigens beides: ein Witz und kein Witz) ein Jahrhundertalbum ist, das so oder so nur schwer zu toppen sein wird, und es ist auch richtig, dass ein sorgfältig ausgetüftelter Spannungsbogen jener originär für den Club kreierten Musik den Musiker ganz schön herausfordern kann. Dennoch muss man sich für "Incubation" keinerlei Sorgen machen. Sumner hat wie schon bei Sandwell District ein strahlend goldenes Händchen für die herausragende Dramaturgie einer Technoplatte, ein nicht zu unterschätzendes Element dieser Kunstform und nicht zuletzt eines, an dem so viele Produzenten scheitern. Es macht riesigen Spaß, sich das dunkle Märchen des elektronischen Zeitalters am Stück anzuhören, bevorzugt über Kopfhörer, ungestört und konzentriert. "Incubation" hält das aus. "Incubation" ist so reich und vielschichtig, dass selbst die eigentlich tödliche Länge von 60 Minuten ihm nichts anhaben kann. Die De:Bug schrieb in ihrer Rezension, die 60 Minuten wirken in ihrer Geschlossenheit eher wie eine Single als ein Album - und sie liegt damit goldrichtig.

Ich bezeichnete Functions Sound im April 2013 bereits als "Science Fiction-Techno", und tatsächlich ist es auch heute noch der Soundtrack zum Sternengleiten. Ein hypnotisches, zeitloses Manifest elektronischer Musik, schwer und dunkel, vielschichtig und komplex, mit einer in jedem Aggregatzustand fast physisch spürbaren Kraft und einem offenen Geist.

Erschienen auf Ostgut, 2013.

18.01.2014

2013 ° Platz 12 ° Lusine - The Waiting Room



LUSINE - THE WAITING ROOM

Lusines "The Waiting Room" war ein Spätzünder. Den Opener "Panoramic" hatte ich mir eigens für meinen semi-legendären "Songs des Jahres"-Sampler aus der Bumskatze herausgefummelt, der Rest des Albums erschien mir zur damaligen Zeit auf das erste Hören noch zu anschmiegsam und zu seicht. Nach einigen Wochen sprang mir die Scheibe eher zufällig nochmal aufs Radar und plötzlich hat's gefunkt, vermutlich war ich in diesem Moment besonders sensibel - und ich bin's offensichtlich bis zum heutigen Tag. Jeff McIlwain saust seit knapp 15 Jahren durch die Welt elektronischer Musik, zwischen abstraktem Ambient und fusseligem Glitch-Gefummel mit Pop-House Allüren hat es der Mann mittlerweile auf elf Alben und noch zahlreichere Singles und EPs gebracht. "The Waiting Room", wie alles ab 2004 stilsicher auf Ghostly International erschienen, ist in erster Linie ein großes Sammelbecken von unterschiedlichen Stilrichtungen, die sich untereinander zwar miteinander vermengen, sich im big picture aber zu rasiermesserscharfen Grenzen zusammenziehen. Das ist sehr einzigartig - und ein Beleg dafür, dass McIlwain seine Kompetenzen wie selten zuvor gebündelt und mit "The Waiting Room" ein großflächiges Kunstwerk geschaffen hat, das mit großer Lässigkeit und Empathie in jeden Winkel meines Herzens ausgerollt wird.  Das Highlight dieser Platte ist übrigens die Coverversion des alten Electronic-Hits (Johnny Marr!) "Get The Message",  das die wunderbar melancholische Melodie des Originals mit kühler Entrücktheit verheiratet und damit auch problemlos auf  einem Label wie Morr Music hätte erscheinen können. 

Solange mir bis zum nächsten Frühjahr (und das klopft ja schon ziemlich bald and die Hütte) nichts Vergleichbares unterkommt, könnt ihr sie öfter in meiner Hood, auf meiner Terrasse, direkt neben der Kaffeemaschine hören. Ich muss bis dahin nur überlegen, was ich mit den ganzen Wespen anstelle.

Erschienen auf Ghostly International, 2013.