23.03.2014

Stop being a dick!




“Watching television is like taking black spray paint to your third eye.” (Bill Hicks)

Achtung, langweiliger Allgemeinplatz: es gibt viele furchtbare Fernsehformate, insbesondere jene, die sich den Weg aus verrotteten Hirnschwämmen deutscher Redakteure an die frische Luft bahnen - und ich kenne bei Weitem noch nicht mal allen Unrat, der vor allem, aber nicht nur, tagsüber ins Volk gepustet wird: bei uns springt die Glotze in der Regel in den Abendstunden an, und wir haben eben unseren Krimiserienquatsch (keinen Tatort!), den wir uns anschauen. In wirklich intellektuelle Seenot geraten wir immer nur dann, wenn uns die Vorschau die eingangs erwähnten Sendungen schmackhaft machen will: Restaurant-Tests, Promi-Dinner, The Voice Kids (jeden humorlos nach Offenbach ausweisen, der mit diesem perfiden, in jeder Hinsicht ekelerregenden, besinnungslosen Konkurrenz-Quadratscheißdreck - und sei es nur über achtzehn Ecken - verbunden ist, von mir aus der Kabelträger genauso wie die sich vor gar nichts schämende Cateringklitsche, die Lena Hirnlos-Doppelnuss die belegten Schnittchen in die Gummizelle bringt), oder The Biggest Loser. Ich habe bis heute nicht verstanden, was das Konzept von letztgenannter Sendung ist, was darin begründet liegen mag, dass meine beiden übriggebliebenen Hirnzellen (ich nenne sie "Schubi" & "Dubi") sich beim bloßen Versuch es verstehen zu wollen, hysterisch nach einem Strick umsehen, um sich im Hinterlappen des Hypothalamus zu erhängen. Trotzdem empfinde ich die offensichtliche Darstellung dieser großen Verzweiflung, sich bei dieser, dank einer sich an körperlichen und seelischen Degenerierung aufgeilenden Konsumgesellschaft, größten aller öffentlichen Demütigungen tatsächlich als Kandidat zu bewerben, bereits als derartig beschämend, dass ich trotz Big Brother und Dschungelcamp-Schwachsinn geneigt bin, für diesen unerhörten Dreck in die Kiste mit den nicht ganz so liebgemeinten Beschimpfungen zu greifen. Für den Fall, dass sich jetzt die ein oder andere Augenbraue lüftet: bis hierhin war's noch Spaß.

In diesem Zusammenhang möchte ich einen ganz wunderbaren Wutausbruch des englischen Moderators (Anmerkung vom 3,40qm-Redaktionshund: der Moderator ist Australier, die moderierte Sendung ist ein englisches Format, pass halt besser auf!) Adam Hills zeigen, der am gestrigen Abend als Gedankenauslöser für diesen Eintrag herhalten musste, und der einer ganz und gar von vermeintlichen Schönheitsoperationen entstellten Schachtel namens Joan Rivers, einer US-amerikanischen Schauspiel- und Entertainment-Luftnummer, die es sich offenbar zum Ziel gesetzt hat, optisch nicht nur dem Joker aus den ollen Batman-Streifen möglichst nahe zu kommen, sondern auch menschlich so sympathisch rüberzukommen wie eine bis zum Rand mit Exkrementen von Kakerlaken gefüllte Plastiktüte, den guten Rat mitgibt, sich die peinlichen Aussagen zum Aussehen des Goldkehlchens Adele in ihren gelifteten und gebleichten Arsch zu schieben. Frei übersetzt.


22.03.2014

Close your eyes and see the beauty



BROCK VAN WEY - HOME

“And those who were seen dancing were thought to be insane by those who could not hear the music.”  Friedrich Nietzsche

Am liebsten will ich das Licht löschen. Und ich möchte nur hier sitzen, im Dunkeln. Und ich möchte diese Musik so laut hören, dass jemand die Bullen ruft. Oder die Aliens vom Nachbarplaneten aufmerksam werden und mal schnell auf einen Kaffee vorbeifliegen. Ich mache ja ganz guten Kaffee - Bio, Fairtrade, das Gewissen trinkt und ritualisiert mit. Sehen die Aliens ganz bestimmt ähnlich.

Erstaunlich, wie aus einem halbwegs normalen Abend ein melancholisches, wohliges Zusammenkuscheln werden kann, obwohl ich mittlerweile weiß, was mich erwartet, wenn ich mich dazu entschließe, "Home" aufzulegen. Dabei ist es keine leichte Aufgabe, diese Platte am Stück und in einem Rutsch zu hören; zum einen sind zweieinhalb Stunden verteilt auf zwei CDs zumindest im Alltag fast nicht zu bewältigen, zum anderen, und das ist der größere Hügel, über den wenigstens der Kröterich aus Sossenheim drüber muss, verwandelt mich die Musik van Weys innerhalb weniger Minuten in einen verletzlichen, grüblerischen, romantischen, introvertierten Menschenklumpen, der in diesen Momenten glaubt, nie wieder eine andere Musik hören zu wollen, als immer wieder nur "Home", in einer nie enden wollenden Schleife, "Spiral Out, Keep Going" (Maynard). Und vor die Tür will ich dann bitteschön auch nicht mehr, denn die Illusion der Schönheit der Welt, der Natur und des Lebens soll bitte von meinem antrainierten, abscheulichen Zynismus verschont werden.

“I do not believe this darkness will endure.” J.R.R. Tolkien

Ich werde mit zunehmendem Alter offensichtlich immer sensibler - und das, obwohl ich noch nie zu den toughen Lautsprechern zählte, die emotions- und empathiebefreit auf die Pauke hauen. Aber die nach oben offene Sensibilitätsskala schaukelt sich seit einigen Jahren immer wieder in neue Höhen, und sei es nur beim freien Blick auf Wald, Hügel, Hund und Katze, wenn sich also die Größe und Schönheit von LEBEN offenbart und wenn ich sie - selten genug - zwischen all dem Wirrwarr von Alltag, Arbeit, Handy und selbstgewählter Emailsklaverei auch noch entdecke und mir eine Träne ins Knopfloch rutscht.

Brock van Weys Musik auf "Home" schleudert mich selbst dann ins Tal der Freudentränen, wenn der Blick schlicht auf die mausgraugestrichene Wand gegenüber fällt, weil mich diese unermessliche Weite und Tiefe seines Sounds auf das Leben und die Natur und die Existenz und den Tod blicken lässt und mich bei der Auseinandersetzung mit all dem, worüber Florian eben immer noch keinen blassen Dunst hat, also dem Leben, der Natur, der Existenz und dem Tod, immer wieder grandios scheitern lässt. Das klingt ganz schön dick aufgetragen für einen Musiker, der nach eigenen Angaben fast nie das Haus verlässt und Videospiele spielt, wenn er nicht gerade neue Musik komponiert, aber ich hatte dieses Gefühl schon ab der allerersten Begegnung mit seiner Kunst: "The Art Of Dying Alone" aus dem Jahr 2011 traf mich wie ein Schlag, wie ein Blitz aus dem hellsten Licht des Universums. "Home" gelingt ähnliches.

Und wie lange musste ich hierauf warten: "Home" war seit Jahren auf Brocks Website angekündigt, genauso früh stand auch schon fest, dass es nach seinem Echospace-Debut "White Clouds Drift On And On" die zweite Arbeit für das legendäre Label aus Michigan werden sollte. Der britische Mailorder Boomkat listete "Home" seit dem Spätsommer 2013 in seinem Katalog, versah es dennoch immer wieder mit den Ankündigungen "Ships in 17 days..." und setzte den Versandtermin praktisch jedes Mal kurz vor Erreichen desselben wieder nach hinten. Das Label selbst hüllt sich traditionell in Schweigen und von Brock hört man für gewöhnlich so oder so nicht viel, wenn er nicht gerade eine neue Platte unter seinen Pseudonymen BVDUB, Earth House Hold oder East Of Oceans herausbringt. Der Grund für das "Chinese Democracy" des Ambient: Labelchef Stephen Hitchell war mit dem Mastering überfordert. In einem Facebook-Post spricht er später vom härtesten Mastering-Job, der er jemals zu bewältigen hatte - und wer alleine die ersten Minuten von "Home" hört, der versteht, dass dieses Dickicht aus Schleiern, Nebelkerzen, Wind, doppelten Böden und Fluchtpunkten, vor allem aber Emotion, Sehnsucht und Liebe unüberwindbar sein kann.

Out in February, the best work I've ever heard from Brock. This was the hardest mastering job I've ever done, it took months and months, I had tears in my eyes through the entire process, the emotion felt here is unlike anything I've heard before. If this doesn't capture the heart and souls of people, well, I don't know what will. -Stephen Hitchell

Erschienen auf Echospace, 2014.

05.03.2014

De La Dilla


Wir müssen nochmal kurz in Hiphophausen bleiben, für die Großmeister, die alten Säcke, diese wunderbaren alten Säcke.

Wenn es eine Band gibt, die mir gezeigt hat, dass es neben all dem Macho- und Tough Guy-Hip Hop noch etwas anderes, etwas aufrichtiges und humorvolles und lebensbejahendes gibt, dann ist es De La Soul. Selbst als vierzehnjähriger Betonkopf, der obenrum noch viel zu unterentwickelt und also gerade mal ein Kieselgehirn war, um Rap und Hip Hop zu raffen (=sich selbst einzugestehen, dass es nicht immer harte und laute Gitarren sein müssen) wusste ich beim damaligen Anschauen der De La Soul Videos auf MTV, dass das etwas sehr Besonderes ist.

Nach jahrelanger Funkstille veröffentlicht das Trio offenbar gleich zwei Mixtapes im Jahr 2014 - Nummer 1 von Dilla produziert, bei Nummer 2 mischen Pete Rock und DJ Premier mit - und dann gibt's als finalen Lichtausmacher noch das Album "You're Welcome" obendrauf.

Das alles geschieht zur Feier des 25-jährigen Bandjubiläums und ich hoffe wirklich, dass sie nochmal 25 Jährchen dranhängen.

Eine wahnsinnig sympathische Band. Kann man auf Soundcloud hören.



04.03.2014

Yasiin Gaye




Der US-amerikanische Beattüftler und Produzent Amerigo Gazaway hat es wieder getan: nach seinen beiden monumentalen Mash-Ups "Fela Soul" (Fela Kuti & De La Soul, 2011) und "Bizarre Tribe" (The Pharcyde & A Tribe Called Quest, 2012) knöpfte er sich nun Rapper Mos Def und Soulgigant Marvin Gaye vor und strickte aus diesen Basiszutaten neue Musikgewölle.

Das Ergebnis heißt "Yasiin Gaye". Es besetzt seit Tagen die Florian'sche Abspielstation und läuft auf Heavy Rotation. Es ist ein frischer, funkensprühender, positiver Mix, hochmusikalisch und tanzbar. Der vorab veröffentlichte Track "Inner City Travellin' Man" begleitet mich morgens in Endlosschleife ins Badezimer, wieder heraus und auf die Arbeit. Wie geil wohl der Frühling mit der Platte wird?

Und damit wird's dann auch wieder eng: wie schon im Falle von "Bizarre Tribe" hat die Recording Industry Association of America erneut laut losgefurzt und die Verbreitung mit einer einstweiligen Verfügung gestoppt.

Aber wir sind ja schlau. Sind wir? Wir sind.

Beeilung! Beeilung!




26.02.2014

2013 ° Platz 1 ° Stephan Mathieu & David Sylvian - Wandermüde



STEPHAN MATHIEU & DAVID SYLVIAN - WANDERMÜDE


Wie auch bei Brock van Weys BVDUB-Projekt ist es manchmal nicht einfach, Bewunderer von Stephan Mathieu zu sein, denn der 46-jährige Klangmeister aus Saarbrücken hat bisweilen eine ähnlich getaktete Veröffentlichungsfrequenz wie der ernste Denker aus China. "Wandermüde" steht demnach hier exemplarisch auch für die anderen Werke Mathieus aus dem vergangenen Jahr: das epische, achtzigminütige  Doppelalbum "The Falling Rocket", das selbst in leisen Momenten Wände zum Zittern bringen kann und "Un Cœur Simple". Seine Kollaboration mit dem französischen Musiker Sylvain Chauveau (u.a. empfehlenswert: "Le Livre noir du capitalisme", 2000) - "Palimpset" - zählen wir auch noch mit dazu.

"Wandermüde" basiert auf einem experimentellen Album des Briten David Sylvian: "Blemish" erschien im Jahr 2003 erstmals auf Sylvians eigenem Label Samadhi Sound und bot spröde, zerfaserte Kompositionen, die sich inhaltlich vor allem mit der just erfolgten Scheidung von seiner Ehefrau Ingrid Chavez auseinandersetzten. Was man dem Werk auch folgerichtig anhört: "Blemish" ist starker Tobak, manchmal scheint es gar, als wolle es als eine Art trostloser Version von Mark Hollis' erstem Soloalbum in die Musikgeschichte eingehen, gilt jedoch unter seinen treu ergebenen Fans bis heute als Meilenstein der experimentellen Phase Sylvians. Genau jene Fans waren, betrachtet man die Unmutsäußerungen aus dem Internet, alles andere als amused, als ihnen "Wandermüde" unter die Haut kroch. Dabei ist es aus meiner Sicht immer ein gutes Zeichen, wenn Anhänger eines etablierten und als intellektuell geltenden Künstlers den Kopf schütteln, vor allem dann, wenn sich die Kritik aufgrund der Abstraktion der Musik auf "Wandermüde" wie ein hilfloses Herumrudern beider Arme liest. Wenn die einzigen Ansatzpunktpunkte die fehlende Stimme Sylvians, sowie die vermeintlich ausbleibenden Verweise auf das Ursprungswerk lauten, dann, Freunde: wird's doch erst so richtig spannend.

Ich muss zugeben, dass ich natürlich einen Wissensvorsprung habe. Ich kannte Stephan Mathieu, war mit seinem Werk vertraut, und ich wusste zumindest in Ansätzen, was mich erwartete. "Wandermüde", ursprünglich nur als Begleitmusik für eine iPhone App gedacht, die Sylvians Digitalfotografie untermalen sollte, stellt dabei für mich, und damit lege ich mein offizielles und irrelevantes Veto gegen die manchmal verbreitete Meinung ein, das Album sei extremer als "Blemish", es setze einen "Kontrapunkt" zum Ursprungswerk und sei dunkel und ernst, einen Weichzeichner dar, der die lückenhafte und zerrissene Vorlage vereint, der die klaffenden Wunden auf "Blemish" versorgt und heilt. Die direkten Bezüge mögen kaum offensichtlich sein - der Verweis im Opener “Saffron Laudanum” auf Sylvians "The Only Daughter" kann aber einem kurioserweise selbst dann auffallen, wenn das Original unbekannt ist - was Stephan Mathieu allerdings auf geradezu magische Weise gelingt, ist "Wandermüde" zu einem Teil von "Blemish" zu machen - und umgekehrt "Blemish" zu einem Teil von "Wandermüde". "Blemish" ist nicht abwesend oder nur in homöopathischen Dosen zu erahnen, das genaue Gegenteil ist der Fall: es ist überall. "Blemish" schwingt in jeder Frequenz mit, in jedem Rauschen des Transistorradios, in jeder modulierten Klangwelle.

Mathieus Soundästehtik ist auch hier wieder exakt jene, die meine Ohren beim ersten Aufeinandertreffen mit seinem "Radioland" im Jahr 2009 zum Glühen brachte: der feingliedrigste und tiefste und schönste Klang der Welt. Einzigartig, vollständig ausgebildet, mit einer nie dagewesenen Übersicht und Weite über sämtliche feinstofflichen Ebenen der Musik gespannt.

Erschienen auf Samadhi Sound, 2013.

18.02.2014

2013 ° Platz 2 ° Dexter Story - Seasons



DEXTER STORY - SEASONS


Am Anfang war das Cover. Wenn eine Platte so aussieht, werde ich immer hellhörig. Was gleichzeitig bedeutet, und das ist ein weiteres Merkmal des Florian'schen Musikjahres 2013, dass Artworks so wichtig sind wie vielleicht niemals zuvor. Wenigstens für mich. Natürlich, es gibt Platten, die man sich auch dann kauft, wenn man sich zwei extralange Stricknadeln in die Klüsen treiben will, will man aber als Überraschungsgast in meinem Warenkörbchen landen, ist es ratsam, seine Platte nicht so aussehen zu lassen. Und noch weniger nennt man sie dann "Bumsen". Grundgütiger.

Im Falle von Dexter Story ging der zweite Blick auf den Labelnamen. Kindred Spirits waren mir unter anderem dank der großartigen Mia Doi Todd Single in bester Erinnerung. Das niederländische Label veröffentlicht nicht gerade Tonnen an neuer Musik, aber wenn sie es tun, machen sie es immer gut und "Seasons" ist keine Ausnahme.

Der dritte Blick war genaugenommen das dritte und vierte Ohr: "Seasons" ist ein sonnendurchfluteter Nachmittag am Strand, funkelnd und bei aller Hippieattitüde urban und auch schon so ein bisschen hip. So hip man halt sein kann, wenn die musikalischen Fixpunkte eines Multiinstrumentalisten Soul, Funk, (Spiritual) Jazz, Progressive Rock und 60s/70s Psychedelia sind. Die Ausstrahlung dieser von Carlos Nino (The Life Force Trio) co-produzierten Songs ist überwältigend positiv, wärmend und aufbauend, die Aussage und der Anspruch klar und deutlich formuliert:

"The message (...) was one of optimism and empowerment, to create a classic record that would reward repeat listens, and grow with the listener, that could be enjoyed through several decades."

Geholfen haben dabei mit Miguel Atwood-Ferguson, Mark de Clive-Lowe, Dwight Trible, i_Ced und Gaby Hernandez Teile der jungen Soul- und Jazzszene aus Los Angeles. Sie haben "Seasons" zu einem großen, verbindenden, versöhnlichen und spirituellen Kollektivkunstwerk gemacht, das, wie schon Freund Simon anmerkte, ohne die kurzen, manchmal eingestreuten elektronischen Interludes zwischen den Songs, klingen würde, als sei es 1975 geradewegs aus einem verlorengegangenen Earth, Wind & Fire-Album rausgefallen.

Oder, um mich selbst zu zitieren: "Bock auf geile Hippiegedröhnschunkelei, live von der Strandpromenade in Los Angeles, auf Rollschuhen, mit Blumen im Haar, Love'n'Peace, Wärme, Sonnenstrahlen, Vanilleeis und leichte Lektüre aus der Harlem Renaissance?"

Ihr kennt die Antwort. Weil es im Grunde auch nur eine gibt.

Erschienen auf Kindred Spirits, 2013.

15.02.2014

2013 ° Platz 3 ° INC - No World



INC - NO WORLD

Es ist der Morgen des 27.Dezember 2006, 7 Uhr 23. Der US-amerikanische Popstar, Multiinstrumentalist und -millionär formerly und jetzt also again known as Prince Rogers Nelson erwacht in seinem 4 x 4 Meter großen Bett. Er ist allein. Minneapolis kann alt und grau sein, wenn man selbst alt und grau wird, und wenn die Feiertage vorbei sind und die Hangovers sich die Klinke in die Hand geben, wird aus dem grauen Schleier über der Stadt ein schwarzer Klumpen Menschenteer. Gestern Nacht noch hat er im Auftrag der Zeugen Jehovas an die Türen von unschuldigen Menschen geklopft, um mit ihnen "seinen Glauben zu diskutieren". Eines seiner Opfer bekam umgehend einen Schlaganfall, das Ergebnis lautet ein blaues Auge und eine gebrochene Rippe. Princeova, wie seine Freunde - ein sprechendes Usambaraveilchen in blass-purple und eine Alf-Handpuppe - ihn nennen dürfen, ist down mit sich und Minneapolis. Alles ist grau (wir berichteten) und ruhig, Jehova ist gerade einkaufen. Die gebrochene Rippe schmerzt beim Lachen. JEHOOOVAAA, JEHOOVAAAA. Nelson lacht.

Der laufende Meter hat heute nichts mehr vor, die Quoten gestern waren in Ordnung: er hat auf seinem Rundgang zwei Bluttransfusionen eigenhändig gestoppt und damit zwei Seelen näher zu Gott gebracht. Und vor allem schneller. Die Veganische [sic!] Volksfront hat ihn gerade zum erotischsten Vegetarier des Jahres gewählt und die anstehende Hüftoperation lässt sich mit einem Leben im Rollstuhl bestens aussitzen. Trotzdem neigt der GröKleiGAZ (größter kleiner Gitarrenspieler aller Zeiten) seit der Listeningsession zu seinem Album "3121" zu psychischer Verstimmung, weil der gelieferte Schampus nur Rotkäppchensekt war und die Redakteurin vom Rolling Stone das Bidet mit dem Pissoir verwechselte. Während der frisch geschorene Bonsai also in seiner Küche verspielt an einer frischen Schweinehaxe herumnagt, Rohkost hält die Backen glatt, geht der Griff wie an jedem Tag mit ungerader Stundenzahl in den Bereich des begehbaren Kleiderschranks, in denen der ehemalige Krösus und Hollywoodbezirksbeschäler (Carmen Electra) seine Schmerzmittel und Beruhigungspillen aufbewahrt. Ein Tässchen Ketamin in das Kuttelmüsli, ein Esslöffel frischer Stutenmilch dazu - ein Frühstück für Gewinner. Jetzt ist Prince bereit für neue Musik.

"No World" der beiden Brüder Andrew und Daniel Aged könnte das Ergebnis dieses wenig herausfordernden Morgens des Prince Rogers Nelson sein. "No World" ist alles und nichts; dabei immerhin sehr angemessen betitelt, denn ihre Musik erweckt manchmal tatsächlich den Eindruck, nicht von wenigstens dieser Welt zu sein. Die beiden Herren sind seit Jahren als Produzententeam für angeblich gar nicht so unbekannte RnB-, Soul- und Popsternchen (nicht) in Erscheinung getreten und veröffentlichen nun auf dem renommierten 4AD Label ihr zweites Album unter dem Projektnamen INC. "No World" ist sedierter Soul, zwischenweltlich. Ich würde jetzt gerne melancholisch schreiben, aber eigentlich sind ihre Kompositionen nicht melancholisch. Ich würde reflexartig eine unterkühlte, distanzierte Atmosphäre erwähnen, nur um im nächsten Moment mich daran zu erinnern, wie tief, einlullend und wärmend ein Song wie "Five Days" sein kann. Eine gewisse Gleichförmigkeit? Negativ - wer genau hinhört, erkennt die subtilen, meisterhaft ins Szene gesetzten dynamischen Griffe zum Schwungrad. Es ist eine Art blauer Cremigkeit, eine zärtliche und unprätentiöse Musik ohne Rockstargestus, ohne jedes Klischee, mystisch, esoterisch. Mit den in sich verlaufenden, übereinandergelegten Layern ihrer komplexen Arrangements und mit dem Entzug von allem Stofflichen ist "No World" die Ambient-Version des Soul. Eine einzigartige Musik.

Erschienen auf 4AD, 2013.

13.02.2014

2013 ° Platz 4 ° Justin Timberlake - The 20/20 Experience I



JUSTIN TIMBERLAKE - THE 20/20 EXPERIENCE I


Hi. Ich bin Flo. Ich mag die Musik von Justin Timberlake. And now: fuck off.

Viel mehr gibt es zu der Diskussion, warum sich nicht wenige der vermeintlich im Undergroud herumtaumelnden Zeitgenossen gerade auf Justin Timberlake einigen können, nicht zu sagen, denn vermutlich geht's vielen ähnlich wie mir: ich mag seine Musik. Stylerpunkte sammelt man damit jedenfalls, knietief im Mainstream watend, eher nicht so viele, vor allem dann nicht, wenn man nebenher noch in einer Punk- und Hardcoreband spielt.

Nach der fantastischen "Futuresex/Lovesound" Scheibe aus dem Jahr 2006, auf der Timberlake mit Produzenten-Superheld Timbaland das "Thriller" des neuen Jahrhunderts zusammenstrickte und mich damit gar derart begeistern konnte, dass ich mich inmitten zehntausend kreischender Teenies in der Frankfurter Festhalle wiederfand (und natürlich während des unerträglich schlechten HipHop-Teils des Abends und nach einigen, äh, kritischen Bemerkungen meinerseits Streit mit einem zweibeinigen Stiernacken bekam; ich zitiere:"Geh' do na Hause, wenns der net passt!"), musste ich also knappe sieben Jahre auf den Nachfolger warten, und auch wenn's mir freilich keine schlaflosen Nächste bereitete, dass sich Timberlake in all den Jahren lieber auf seine Karriere als Schauspieler konzentrierte, als neue Platten aufzunehmen, habe ich mich über die Rückkehr ins Aufnahmestudio durchaus gefreut - und nach exzessiver ohraler Liebkosung des ersten Teils der "20/20 Experience" (dessen Klasse der im Herbst nachgeschobene zweite Teil zu keinem Zeitpunkt erreicht) ist die Freude blankem, kindischem, "naiv-minderbemitteltem" (Peter Weihnacht) Fanatismus gewichen.

Dabei kommt die Platte etwas schwer in die Gänge: die erste Single "Suit & Tie" ist zu Beginn eine Spur zu zugeknöpft und erinnert vor allem klanglich an die großen US-Entertainer aus den vierziger und fünfziger Jahre des 20.Jahrhunderts, überrascht dazu noch mit einem komplexen Arrangement, wächst nach einigen Durchläufen aber zu einer soliden Nummer heran. Und wer mit dem beinahe schon progressiven Achtminüter "Pusher Love Girl" seine erste Platte seit sieben Jahren eröffnet, der macht es sich und uns nicht gerade einfacher. Aber spätestens ab "Don't Hold The Wall" brechen für die nächsten knapp 60 Minuten sämtliche Dämme: Timberlake croont sich mit faszinierend spiegelnden und funkelnden Pop/Dancetracks in die Ewigkeit. Zwischen dunkel pumpendem Beatgestrüpp wie dem erwähnten "Don't Hold The Wall", dem textlich völlig behämmerten "Strawberry Bubblegum", ebenfalls mit acht Minuten ein vielschichtig und sorgfältig aufgebauter Prog-Popper aus dem Bilderbuch, den drei extrasmoothen super-slowmo-sperma-schlürfenden Soulballaden "Tunnel Vision", "Spaceship Coupe" und "That Girl", dem latinbeeinflussten Arschwackler "Let The Groove Get In" und der deepen und im Vergleich erfrischend unkitischigen Megaballade "Blue Ocean Floor", steht vor und über allem der Song, der so ziemlich alles über Timberlake und diese Platte aussagt:"Mirrors" ist ein kommender moderner Klassiker populärer Musik, eine Liebeserklärung an die Menschen, den Groove, die Freude, die Lust und an positive Power. Und, logisch, die Liebe. Da fällt die jetzt folgende Exkursion nach Vocal-Nerdhausen natürlich total aus dem Rahmen, aber als einer, der gute Stimmen und gute Sänger über alle Maßen schätzt, muss ich es sagen, wenn nicht gar schreiben: Als Timberlake den schwierig zu singenden Titel im Rahmen der Brit Awards 2013 live aufführte und ich den ein oder anderen nicht getroffenen Ton und eine generelle Eckigkeit in der Performance ausmachte, nicht wirklich störend, aber eben doch wahrnehmbar, dachte ich schon, der olle Kiffer hätte kurz vor der Show eine Runde zu tief in die Bong gelinst. Schwamm drüber, ist halt nicht besonders einfach zu singen.

Einige Wochen später sah ich eine Aufzeichnung der US-amerikanischen Talkshow "Ellen". Und Justin sang "Mirrors". Wie auch zuvor in England mit kompletter, großer Band. Und Chor. Und Brass-Section. Und er sang. Und meine Fresse - wie er sang. Er war perfekt. Live. Das war die dickste Gänsehaut des Jahres.


Mein Gott, wie er singt. Wie die Band spielt. Woah!

Erschienen auf RCA, 2013.

09.02.2014

2013 ° Platz 5 ° Bvdub & Loscil - Erebus



BVDUB & LOSCIL - EREBUS


Für eine ziemlich lange Zeit sah es so aus, als wäre Bvdubs "A Careful Ecstasy" der Gewinner, um aus dem Fundus von Brock van Weys Arbeiten des Jahres 2013 für diese Liste auserwählt zu werden. Und tatsächlich ist das im Januar des letzten Jahres erschienene Album des Wahlchinesen eines seiner schönsten und vor allem stimmigsten Werke geworden. Ich erinnere mich noch gut an diesen einen und einsamen Gedanken zur Jahresmitte, als ich davon überzeugt war, Brock habe seinen Stil hiermit endgültig perfektioniert. "At Night This City Becomes The Sea" ist im Vergleich luftiger und leichter, das im Herbst veröffentlichte "Born In Tokyo" fiel mit leicht erhöhtem Kitschfaktor wieder etwas ab, weswegen die Sache klar schien: "A Careful Ecstasy" soll es sein.

Dann kam "Erebus".

Im Oktober schrub ich dazu:
Es gibt Momente auf dieser Platte, die mir schier die seelenlose Hülle meines irdischen Daseins sprengen. Es ist laut, manchmal nah an der Unerträglichkeit. Ich will, ach was: ich muss platzen. Ich bekomme körperliche Reaktionen. Schweißausbruch. Husten. Jetzt könnte man sagen, ich soll aufhören das Poster von Kristina Köhler anzuschauen, aber was alleine "Aether" mit mir anstellt, ist beeindruckend, beängstigend und macht einen am Ende des Tages dann eben doch zwei Köpfe größer, mindestens aber zu einem besseren Menschen. Genug der Lobhudelei, nur eins noch: "Erebus" erscheint auf Glacial Movements. Spätestens jetzt wissen die Eingeweihten, was zu tun ist. Genau, Fieberthermometer und Wadenwickel.

Und jetzt sitze ich vier Monate später immer noch hier rum, natürlich mit Fieberthermometer und Wadenwickel. "Erebus" ist frei von Beats, ähnelt daher eher den großen Bvdub-Momenten wie "The Truth Hurts" oder "The Art Of Dying Alone" und liegt in meiner Wahrnehmung einen kleinen Hauch vor seinen zaghaft groovebetonteren Alben, die sich in den letzten beiden Jahren in seiner Diskografie etwas behaupten konnten. Mit "Erebus" fügt Brock van Wey ebenjener ein weiteres Juwel hinzu; ein Juwel, das sich seit Oktober 2013 zuverlässig in meiner Abspielvorrichtung für kleine, silberne Plastikscheiben eingenistet hat und immer dann zum Einsatz kommt, wenn ich ein Antidot gegen das ohrenbetäubende Tosen von Draußen benötige.

Erschienen auf Glacial Movements, 2013.

05.02.2014

2013 ° Platz 6 ° Four Tet - Beautiful Rewind



FOUR TET - BEAUTIFUL REWIND


"no pre order, no youtube trailers, no itunes stream, no spotify, no amazon deal, no charts, no bit coin deal, no last minute rick rubin." - Kieran Hebden

Im Rückblick auf die bisher vorgestellten Platten und die darüber geschriebenen Worte fiel mir auf, dass die Abstände zwischen den einzelnen Titeln im vergangenen Jahr, im Vergleich mit den Ergebnissen aus den Jahren zuvor, deutlich geringer ausgefallen sind, in manchen Fällen erscheinen sie geradewegs mikroskopisch klein, fast nicht wahrnehmbar. Will sagen: das alles verschwimmt mehr und mehr zu einer großen, aber vor allem großartigen Masse Musik, und trotzdem ist jede Scheibe für sich eine mitreißende und einzigartige Ein- und Schönheit. Dass ich diese Einleitung ausgerechnet bei Four Tets "Beautiful Rewind" verwende, kommt nicht von Ungefähr. Kieran Hebdens neues Album, das erste seit dem überwältigenden "There Is Love In You" aus dem Jahr 2010 (die schwache 2012er 12-Inch-Compilation "Pink" mal außen vor gelassen), könnte auch gut und gerne kurzfristig, ergo just in diesem Moment, in dem ich diese Zeilen in den Laptop einhacke, in der Reihenfolge nach vorne preschen, ohne damit die anderen Platten abzuwerten.

Es ist einerseits der bloße, konkrete Moment, andererseits aber auch der beliebig tiefe Pinselstrich, der auf "Beautiful Rewind" so viele Ebenen und Plattformen zum Leben erweckt, die die Auseinandersetzung mit dieser Platte so lohnenswert machen. Inmitten der Massen an Wohnzimmerfuchtlern, die außer der Dekonstruktion nur selten einer weiteren musikalischen Idee folgen, ist einer wie Hebden vielleicht nicht (mehr?) der innovativste, abgefahrenste, wildeste Typ der Welt, dafür rollt sein 2013er Werk klarer als vielleicht jemals zuvor nicht nur den Charakter und die Virtuosität seines Erschaffers, sondern auch dessen stilistische Unnahbarkeit auf einer Großbildleinwand aus. Wer hier auf einzelnen Tracks herumreitet und die Dechiffrierung anstrebt, kann seine Spekuliereisen gleich wieder einpacken. Damit ist diesem Album nicht beizukommen.

"Beautiful Rewind" ist anders als alles, was Du in den letzten Jahren gehört hast, und seine Tracks sind bei aller innewohnender Heterogenität das endgültige Manifest von einem, der nie still steht, der dabei in seinem eigenen Kosmos voranschreitet und nur wenig auf die hört, die in den letzten 15 Jahren an ihm vorbeigeschlittert sind. Kieran Hebden ist immer noch da und hört viel mehr auf das, was seine Plattensammlung aus 100 Jahren so alles ausspuckt. Sein Wille zur Weiterentwicklung, nach seinen Erfahrungen mit Jazzdrummer Steve Reid offensichtlich nochmals geschärft, mündet sogar noch stärker als früher in ein Amalgam des Klangs: auch wenn Hebden in erster Line für Rhythmus und Groove steht, zunehmend auch aus afrikanischer Kultur destilliert, sind seine schrägen Miniaturen aus Melodien und Samples fundamentaler Bestandteil dessen, was sich mehr und mehr als "Jazz" enttarnt. Hebden mag kein musiktheoretisch geschulter Instrumentenmusiker sein und wird damit von den Puristen sicherlich niemals in ihre vermeintlich heiligen Hallen aufgenommen werden; dass er aber den freien Geistern des Jazz aus den 60er und 70er Jahren viel näher steht als so manches in den Mainstream hochgejazzte Kalkül aus kuschligem Nichts, ist keine zu vernachlässigende Randnotiz, sondern viel mehr sich bahnbrechende Realität.

Erschienen auf Text Records, 2013.

2013 ° Platz 7 ° Maschinedrum - Vapor City



MACHINEDRUM - VAPOR CITY

Der erste richtig große Bassblitz im Opener "Gunshotta" trifft einen, wenngleich erwartbar, nicht weniger überwältigend direkt zwischen die Augen - dort zentriert sich tatsächlich dieses tiefe, ewige Brutzeln, über das die nervöse Snare klackert und über den sich ein Stimmenecholon annährt und wieder entfernt, sich annährt und wieder entfernt ... entfernt ... entfe.....

Ich muss an mich halten, um nicht den Kritikerquatschnusssatz "Das ist die Platte, die man nach dem Debut von Burial erwarten musste" hier hinzuschreiben, und jetzt ist er mir doch aus der holen Rübe direkt in die gichtigen Griffel gefallen, aber eher als ein Anschauungsobjekt im Proseminar "Musikkritik gone horribly wrong", denn auf Albumdistanz wär's dann doch kompletter Mumpitz. Der US-Amerikaner Travis Stewart, der seit seinem zwölften Lebenjahr elektromusikalisches Terrain erobert und mittlerweile mit über zehn LPs und ungezählten Singles und Projekten (u.a. mit Praveen Sharma als Sepalcure und zusammen mit Wunderkind Jimmy Edgar als Jets) klotzt, ist bedeutend weniger klaustrophobisch und manisch, als man es vom scheuen Londoner Burial vermuten könnte, der aus meiner Sicht immer noch erfolglos auf der Suche nach dem Ausgang aus dem goldenen Käfig ist, in dem er es sich seit Jahren gemütlich gemacht hat. Denn auch wenn Stewart seine Soundsozialisation inmitten von originären UK-Clubsounds wie Dubstep, Garage und Drum'n'Bass austoben lässt, lebt auch "Vapor City" wie schon der grandiose Vorgänger "Room(s)" von seinem untrüglichen Gespür für kilometerdicke Schichten aus Melodie und Groove und seiner Unbekümmertheit im Umgang mit Grenzen. Mal weht ein funkiger Chicago House-Groove durch die entfernt dahindämmernde Stadt, mal steppt der Jazz unter einem Regenschirm im Immergrünpark umher, mal geht's ab in die Unterwelt, zu den dunklen Träumen, den Nebelschleiern aus Emotion und Romantik - wo sich dieser hypersensible, feingesponnene Granitblock am wohlsten fühlt. Hier ist er geboren. Das ist seine Stadt, das sind seine Mauern, das ist sein Leben.

Erschienen auf Ninja Tune, 2013.

P.S. Das war mein 500.Blogpost. *tusch*

31.01.2014

2013 ° Platz 8 ° Pinnick, Gales, Pridgen



PINNICK, GALES, PRIDGEN



Die große Überraschung des vergangenen Jahres ist das erste Album dieses All-Star Trios, und ich hätte all das wirklich nicht für möglich gehalten: Bassist/Sänger dUg Pinnick von King's X, Gitarrenwunderkind Eric Gales und der zwischen Genie und Wahnsinn pendelnde Thomas Pridgen, der schon bei den Koffeinüberdosis-Alben von The Mars Volta für sowas ähnliches wie "Groove" zuständig war, haben unter der Regie von Mike Varney (u.a. Shrapnel Records, die älteren werden sich erinnern) dessen musikalischer Vision Leben eingehaucht und ein vor Kraft und Groove nur so strotzendes Rockalbum zusammengebastelt, das mir unter normalen Umständen gar nicht aufs Radar geplumpst wäre - hätte ich nicht im letzten August ein aktuelles Interview mit dUg Pinnick gelesen, in dem er über seine Schulden, seinen Hausverkauf, seinen Umzug nach Los Angeles, sein Soloalbum und eben diese Kollaboration berichtete. Da machte sich der Florian anschließend mal wieder Gedanken: der Mann ist nun seit 23 Jahren mehr oder weniger an meiner musikalischen Seite, und gerade in den letzten drei Jahren ist meine Wertschätzung gegenüber seiner Hauptband nochmal deutlich größer geworden - wie kann es sein, dass dieser Typ nach 40 Jahren im Musikbusiness, mit Majordeals und zig Welttourneen, zudem als hochrespektierter und -verehrter Musiker seine Rechnungen nicht bezahlen kann?

Das Ergebnis: ich las, klickte und kaufte. An einem Abend gleich vier Platten. "Pinnick, Gales, Pridgen" war eine dieser Spontankäufe, und selbst wenn ich anfangs eher an ein trauriges, stehengelassenes und kaltes Resteessen dachte, wurde ich vom Probelauf der Single "Collateral Damage" ordentlich durchgeschüttelt. Das Video ist zwar ein Skandal und selbst mit ordentlich Ironie unter der Mütze noch nicht mal ein halbsteifer Witz, aber der Song kann alles. ALLES! Wenn man ihn laut hört. LAUT! Und nicht nur der: Gales, ein Rechtshänder, der eine Gitarre für Linkshänder spielt, die auch noch saitenverkehrt (pun intended!) aufgezogen ist, feuert ein mächtiges, bluesinspiriertes Riff nach dem anderen ab und zeigt sich auch bei den von ihm gesungenen Tunes bestens bei (Blues)Stimme, Pridgen gibt dem Affen spätestens bei "Black Jeans" ordentlich Zucker, lehnt sich aber ansonsten nicht über Gebühr aus dem Fenster, dUg beeindruckt wie gehabt mit seiner einzigartigen Stimme und einem Basssound, für den andere töten würden. Zusammen brutzeln die drei Helden an einem kochendheißen Grooverock-Sud, deutlich an der Rockmusik der 70er Jahre orientiert, aufgepeppt mit klassischen, manchmal leicht alternativen King's X Verweisen ("Wishing Well") und moderner, saftiger Produktion. Das für mich bemerkenswerteste Element von "Pinnick, Gales, Pridgen" ist hingegen eines, das nur schwer zu erklären ist - es findet sich eine Art Hedonismus in dieser Musik, der zwar so manch dunkleren Note und bitterem Wort gegenübersteht, mich aber gleichzeitig mit satter Lust am Leben an die Wand nagelt. Nicht klischeehaft breitbeinig, ohne Macho-Attitüde, dafür im allerbesten Sinne cool, aufrichtig und in den besten Momenten tatsächlich einen Tacken rebellisch. Eine Platte für stilvolles Feiern mit guten Freunden. Dafür schalte ich meinen Nihilismus gerne mal einen Abend lang ab. Für mich ist das die beste Rockplatte des Jahres.

Erschienen auf Magna Carta, 2013.

28.01.2014

2013 ° Platz 9 ° Segue - Pacifica



SEGUE - PACIFICA

Auf dem Siegertreppchen für das schönste Coverartwork des Jahres steht "Pacifica" ja schon, musikalisch hat es im "Leicht & Locker"-Modus für die Top Ten gereicht. Der kanadische Produzent Jordan Sauer erschafft auf seinem vierten Album als Segue eine ambivalente Stimmung aus sonnendurchfluteten, ultrarelaxten, perkussiven Dub-Techno Sounds, und einer sich trotz aller Wärme und Gelassenheit immer wieder bahnbrechenden Distanziertheit und Melancholie. Ich bin noch nicht ganz dahintergekommen, woher gerade der zweite Teil meiner Beobachtung stammt, denn offensichtlich ist sie nicht - in genau dem Maße, in dem ich verstehe, dass "Pacifica" eine weiche Wattewolke sein kann, in der man man einfach versinkt und sich sonst nichts weiter tut, weil sich als ultimative Basis eines solchen Sounds eben auch nichts tun muss, erkenne ich eine Art überwältigender, bittersüßer Traurigkeit. Durchaus im Rahmen eines fröstelnden "Alles ist gut"-Gefühls, aber dennoch wenigstens nachdenklich. Vielleicht bin ich auch einfach mit den Emotionen überfordert, die "Pacifica" bei mir auslöst.

Mich erinnert das an die eindrücklichen Momente während meines letzten Urlaubs im Jahr 2008: Spanien, Meer, Costa Blanca. Im Oktober und deshalb abends und nachts arschkalt. Nun war wenige Tage vor Urlaubsantritt gerade Reiner verstorben, und wo ich das gerade schreibe merke ich, dass es über fünf verdammte Jahre sind. Und als ich da also abends so stand, in gefühlsduseligen Nebel, am Rand der Hotelterasse, auf das Meer schaute, es hörte und es riechen konnte, da war ich erschlagen von der Größe und der Macht der Welt, von der eigenen kleinen Existenz, die sich zu Hause um Anschlusszüge und farblich abgestimmte Socken Gedanken macht, von der Vergänglichkeit, von der lächerlich kurzen Zeit, die uns allen bleibt.

Was klingt, als würde ich mich demnächst von der Fensterbank stürzen (Erdgeschoss), ist ganz und gar nicht so gemeint: mir ging es damals gut und mir geht es heute gut. Wenn mich Musik an solche Orte transportieren kann, wenn sie inspiriert, wenn sie provoziert, dann darf ich dUg Pinnick zitieren:"It's all good, it's all good."

Erschienen auf Silent Season, 2013.