11.01.2014

2013 ° Platz 15 ° Kayo - The Revolution Was Not Televised - A Tribute To Gil Scott Heron



KAYO - THE REVOLUTION WAS NOT TELEVISED
- A Tribute To Gil Scott Heron

Einer der schnellsten Impulskäufe des Jahres, ach was: des Jahrzehnts, war dieses kleine Album des französischen Beatschmieds und Produzenten Kayo, der mit seinem Mix dem im Mai 2011 verstorbenen Gil Scott Heron gedenkt. Trotz meiner ausgiebigen Auseinandersetzung mit der Musik des visionären Soulmonsters, der mittlerweile und in aller Seelenruhe in meine Hall Of Fame eingezogen ist und mir soviel inspirierende und besondere Momente brachte wie kaum jemand sonst in den letzten zehn Jahren, fühle ich mich immer noch als Frischling in seiner Welt. Und immer, wenn es etwas Neues zu entdecken gibt, bin ich wieder genau der 14-jährige Typ von damals, der aufgeregt auf seinem Stuhl hin- und herrutscht, wenn seine Helden aus dem Grunge-Zeitalter eine neue Platte ankündigten. Haut ihr mir bitte alle (!) eine runter, sollte ich irgendwann mal so scheiße abgebrüht zum Oberloggerpeter werden, den irgendwie nix mehr juckt? Es ist die schiere, naive Begeisterung, die meinen Kopf über Wasser hält.

Jedenfalls: ich sah' die Platte und - ich glaube, ich dachte noch nicht mal nach - musste sie natürlich sofort kaufen. Kein reinhören, kein doppeltes Netz, die 10 Euro schneide ich mir vom wöchentlichen Besuch des Bio-Markts ab, dann gibt's halt einen superdupermegabiologischfairverpackten Radicchio weniger, sag' ich immer. Ich sollte es, natürlich: nicht bereuen. "Der Franzose kann's"(Franz Beckenbauer) - ein zurückgelehntes, aber keinesfalls diffuses Album auf der Basis alter Tunes von Heron, größtenteils und bis auf kurze und wenige Samples instrumental (was zugegebenermaßen die politische Strahlkraft von Herons Lyrik ausbremst), beatlastig, warm-rötlich schimmernd und schwankend, musikalisch vielschichtig und anspruchsvoll. Wenn die Spiritual Jazz-Bewegung der siebziger Jahre schon Hip Hop gekannt hätte, dann hätten "Elevation" (Pharaoh Sanders) oder "Eternity" (Alice Coltrane) vielleicht schon so ähnlich geklungen - wenngleich der Jazzpurist nun womöglich aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweise aufschreien wird - was mir immer noch ziemlich egal ist. "The Revolution Was Not Televised" ist eine tiefe, persönliche  Verbeugung vor dem Werk Scott-Herons, mit viel Anerkennung und Augenmaß. Was nicht immer mit einem Stein in der Hand eskalieren muss. Es reicht, wenn man weiß, dass der Stein exisitiert und sorgsam geschliffen wird.

Erschienen auf Albatros Music, 2013.

07.01.2014

2013 ° Platz 16 ° Quiet Evenings - Impressions



QUIET EVENINGS - IMPRESSIONS

Wenn ich für gewöhnlich von Sommerplatten im Hause Dreikommaviernull spreche, dann ist nicht selten jene Musik gemeint, für die ich gemeinhin etwas schräg angeschaut werde, wenn ich meine Zuneigung offenlege. Das mögen Techno-, House-, Downbeat-, oder - mit etwas Mut zum verbotenen Wort: Pop-Alben sein, manchmal auch einfache Indiegeister, die einen Nerv vor allem in der warmen Jahreszeit treffen. In der ich mich übrigens am liebsten treffen lasse. Winter und Herbst können mich mal. Aber sowas von.

Die zweite LP von Quiet Evenings, dem Projekt des Ehepaars Grant and Rachel Evans, unter anderem sind die beiden auch unter den Bannern Nova Scotian Arms und Motion Sickness Of Time Travel tätig, passt nicht wirklich in die oben genannte Aufzählung. Dennoch: "Impressions" lief vor allem während der Post-Umzugsphase erstaunlich regelmäßig in den ruhigen, lauen und abgekühlten Abendstunden, in erster Linie deshalb, weil es mich so wunderschön hinfort trug wie allerhöchstens ein heißes Bad im Hanföl (no pun intended). Aber auch zum gemeinsamen Frühstück mit der Herzallerliebsten, im strahlenden Sonnenschein und inmitten von verkleisterten Pinseln, Laminatresten und wegen Stress drastisch abhaarenden Katzen machte "Impressions" einfach alles richtig. Dabei ist es kein leises Werk, und das Duo begeht nicht den Fehler, sich in die dezibellangen und tonlosen Legionen des Ambient-Drones einzureihen. "Impressions" ist Science Fiction und bisweilen sogar humorig blinkende Hochtechnologie aus Klang; hier fangen drölfbeinige Sauerkrautmonster mit Klaus Schulze Quallen im Höchster Stadtweiher um sie zu umarmen und ihnen den Weg in den Atlantik mit ausgetreuten Rosenblüten zu weisen. Anschließend funkeln sie drei Mal mit der Taschenlampe in den Himmel und Jean-Luc Picard beamt sie auf ein Raumschiff, das sie in den Deltaquadranten bringt (Achtung, finde den sachlichen Fehler!). "Impressions" hat Seele. Tiefe. Eleganz. Und unbedingte Dringlichkeit.

Erschienen auf Aguirre Records, 2013.

05.01.2014

2013 ° Platz 17 ° Plankton Wat - Drifter's Temple



PLANKTON WAT - DRIFTER'S TEMPLE

Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich hinter das Ofenrohr von "Drifter's Temple" schauen konnte. Das neue und aktuelle Album des, nennenwirihnmal: Ambientgitarristen Dewey Mahood erschien mir zunächst viel zu konkret und strukturiert, allerdings bin ich durch die löchrige und im rauhen Meereswind spröde flatternde Klangtapete "Spirits" auch vorgeschädigt, um nicht zu sagen auf beschämende Art und Weise voreingenommen. Aber ich ließ den guten Mann mit seiner noch besseren Gitarre nicht fallen, ganz im Gegenteil: "Drifter's Temple" landete immer öfter sowohl auf dem Plattenteller als auch auf dem Klingelknochen mit Touchscreen und von dort aus im Auto. Bei nächtlichen, kühlen und längeren Fahrten im Spießergolf, vorzugsweise nach der lauten und anstrengenden Bandprobe, wuchs das Album fast schon über sich hinaus. Es beruhigte, öffnete und verwandelte selbst die Begrenzungspfosten am Rande der Autobahn zu melancholischen Manifestationen des eigenen Stillstands. Im Gegensatz zu seinen früheren Arbeiten, die aus improvisierten Sessions heraus entstanden und nachträglich bearbeitet wurden, ist "Drifter's Temple" aus Proben und Liveauftritten gewachsen, haben sich seine Songs im Zeitraum von einem Jahr zigfach gehäutet und entwickelt. Insofern ist meine eingangs geäußerte Beobachtung so falsch nicht, denn "Drifter's Temple" ist das detaillierteste und ausgereifteste Werk des Musikers aus Portland. Immer noch sehr naturverbunden, inspiriert und einen ganzen Zug psychedelischer als das, was ich bisher von ihm kannte, wenngleich sein Spiel und sein Klang trotzdem noch jederzeit identifizierbar sind. Ich möchte den Typen in meinem Universum nicht mehr missen.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2013.

04.01.2014

2013 ° Platz 18 ° Jessy Lanza - Pull My Hair Back



JESSY LANZA - PULL MY HAIR BACK


Die Spex, nach der Intro die unerträglichste aller Checkercliquen im trüben musikjournalistischen Abwasserauffangbehälter, bezeichnete das Debut dieser kanadischen Dame als "Entwurf von Pop als intelligente Lebensform", und nachdem ich die Kotzebrocken mit den Fingern durch den Ausguss gedrückt habe, können wir ja mal schauen, was davon übrigbleibt, wenn die Nadel im Kopf wenigstens schwach vor sich hin glimmt. Erstens ist Lanzas Debut grundlegend kein Entwurf, sondern im Gegenteil ein ziemlich finales Statement aus dem Destillat von dreißig Jahren Soul, Funk, Blues und elektronischer Clubmusik. Zwotens: es muss nicht immer alles Pop sein, was nicht bei "Drei" auf den Bäumen sitzt, nur um mutmaßliches Verständnis von kulturellen Zusammenhängen wie ein zerlaufendes Ed von Schleck-Eis aus der Hose hängen zu haben, in der Hoffnung, die unkritische Masse leckt's einem schon irgendwie vom schlaffigen Faltensack. Drittens: Pop ist keine Lebensform und er wird auch durch einen Entwurf nicht zu einer solchen. Viertens: ausgerechnet die Spex schmeißt 2013 noch das Pop-Stigma hoch, dass Popmusik nur von Amöben und niederen Pilzen goutiert werden kann?  Bitch, please...?!

Lanzas gemeinsam mit dem Junior Boys Mitglied Jeremy Greenspan sorgfältig erdachte Kompositionen erscheinen zunächst distanziert und kühl, wie sie sich so entstrüppt und befreit von Anbiederungskopfnicken durch die ersten Minuten des Albums schlängeln, allerdings fungiert spätestens die kleine Discohymne "Keep Moving" als Türöffner zu der Erkenntnis, dass dieses elegante und distinguierte Werk die mutmaßliche Distanz zum Hörer nur als Fata Morgana aufrechterhält. "Pull My Hair Back" ist also viel mehr die zaghafte Nebelmaschine zum intelligenten [sic!] Themenkomplex "Sexy, funky Fuckers", und das ikonenhafte Artwork - eines der schönsten des Jahres, wenn man mich fragt - fügt sich ganz hervorragend in das Bild einer zarten, und doch überaus selbstbewussten Musik ein.

Erschienen auf Hyperdub, 2013.

03.01.2014

2013 ° Platz 19 ° Myron & E with The Soul Investigators - Broadway



MYRON & E WITH THE SOUL INVESTIGATORS - BROADWAY


Ich hatte während meines Umzugs im Juli und August und im Zuge der notwendigen Umbau- und Renovierungsarbeiten in der neuen Behausung nicht nur eine, sondern gleich vier sogenannte Sommerplatten, und "Broadway" ist eine davon. Mit Ausnahme des vor allem textlich etwas deprimierenden Openers "Turn Back" strahlen auf "Broadway" zehn 60s Soulperlen im besten Motown-Stil um die Wette ("To me, that was the greatest music that ever existed." - Myron), die furchtbar entspannt durch diese immer lauter und anstrengender werdende Welt schwappen. Das kalifornische Gesangsdoppel wird dabei von den finnischen Soul Investigators unterstützt, von denen Experten sagen, keiner spiele diesen klassischen Sound so authentisch wie sie. Die Menanan Street Band, die den Screaming Eagle Of Soul Charles Bradley begleitet, wird das nicht gerne hören, aber die beiden Bands bewegen sich zumindest in ihren aktuellen Inkarnationen auf leicht unterschiedlichem Terrain. Die Soul Investigators interpretieren ihren Job smoother und wärmer, während die New Yorker Menahan Street Band schärfer und rauher klingt - wohlgemerkt jeweils passend zu ihren Sängern. "Broadway" ist ein Sack voll sonnengereiftes Seelenfutter, optimistisch, erdverbunden und positiv aufgeheizt. Unverzichtbar bei Autofahrten in den Baumarkt, wenn auch bei 38°C Außentemperatur lieber das Fenster runtergekurbelt wird, anstatt die öde Klimaanlage zu benutzen.

Erschienen auf Stones Throw, 2013.

01.01.2014

2013 ° Platz 20 ° Popstrangers - Antipodes



POPSTRANGERS - ANTIPODES

Ein Überraschungsgast eröffnet den Reigen meiner Top 20, immerhin ein Gast, auf den ich ohne ein "Sonderangebot!" kreischendes Neonblinklicht wohl niemals aufmerksam geworden wäre. Die Popstrangers sind ein Indierock Power Trio vom Ende der Welt, genauer gesagt aus Neuseeland, und sie klingen wie aus einer Zeit geplumpst, die mir aus heutiger Sicht so verführerisch erscheint wie das vermeintlich sorgenfreie Leben im Nest der Eltern. "Antipodes" ist ein seltenes Juwel in der heutigen Indierockwüste: pur und unverfälscht, nicht verwässert von Style und Image, sondern so aufrichtig, wie Indierock in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren eben noch war, bevor auch diese Bastion zusammen mit der Erfolgswelle des Grunge und des sogenannten Alternative Rocks in die Hände der Industrie fiel - und damit die Unschuld verlor. Eine rohe, kaum glattgebügelte Version des Indierocks mit psychedelischen, verhallten Sounds, noisigen und punkigen Stimmungsschwankungen für die Wechseljahre und manchmal überwältigend schönen Hooklines und einer Stimmung, die mich geradewegs dorthin zurückbeamt, als Musik noch Leben retten konnte. Ich weiß nicht, ob die heutige Generation damit noch was anfangen kann, aber wer den kindlich-naiven Spirit der damaligen Zeit zwischen Häusle baue, Krawattennadeln sammeln, Kinder hüten und dem freshesten Rentenfond-Portfolio noch aus der hinterletzten Ecke des Hirnkastels freischaufeln kann, der hat mit "Antipodes" ganz bestimmt seine helle Freude.

Erschienen auf Carpark, 2013.

31.12.2013

Narcotica Paradiso



GRACER - VOICES TRAVEL

Die Stilbeschreibung "melancholischer Rock" lässt einem vorab nicht viel Spielraum, um einer Platte ohne Vorurteile zu begegnen. Nickelback sind eben immer noch allgegenwärtig. Dass "Voices Travel" vom ehemaligen Elliott Mastermind Kevin Ratterman produziert wurde, entschärft die Lage dann doch etwas.

Vor nunmehr fast acht Jahren haben Revelation Records etwas ausgegraben, was man damals wie heute nicht mehr alle Tage hört. Einen Sound, der Mitte der Neunziger für kurze Zeit angesagt war, dann aber über die Jahre vom weitaus mainstreamigeren New Rock weggespült wurde. Gracer aus New York spielen fragilen, sehr melodischen und souverän-unaufgeregten Indierock. Hervorgegangen aus den beiden Long Island Bands On The Might Of Princes und Lux Courageous, vereinen Gracer Elemente ihrer Vorgänger zu einem zwar über weite Strecken ruhigen Album, das sich dennoch erfreulich von weinerlichem Herumgenöle fernhält.

Wer nun indes an "erdigen Rock" denkt, wird ebenfalls nicht fündig. Gracer bewegen sich genau in der Schnittmenge der beiden Extreme und fahren damit erstaunlich sicher und kompakt. Besonders die erste Hälfte von "Voices Travel" mit den beiden Sternstunden "Esperanza" und "Waiting For Departure" überzeugt. Die Gitarren erhalten mit ihren wunderbaren Arrangements ein wenig mehr Freigang, die Gesangsmelodien treffen mit ihrem melancholischen Unterton immer den richtigen Nerv, um sich wohlig in die Decke zu kuscheln. Immer, wenn Gracer ihren Songs eine Prise mehr Punch verleihen, wachsen sie über sich selbst hinaus, wie auch im feinen "Fires We Set", dem mitreißendsten Song des Albums.

Auch wenn die zweite Albumhälfte die Qualität der ersten Minuten nicht halten kann: wer Elliott und Mittneunziger-Gitarren-Indierock immer noch hinterhertrauert und bei melancholischem Rock nicht gleich die Dauerwelle von Chad Kroeger föhnt oder - noch schlimmer - an fucking Coldplay denkt, findet hier mit Sicherheit sein Glück.

Erschienen auf Revelation Records, 2006.

24.12.2013

Das war 2013 - beziehungsweise eben nicht

“How did it get so late so soon? It's night before it's afternoon. December is here before it's June. My goodness how the time has flewn. How did it get so late so soon?” 
Dr. Seuss

Der Rückblick auf das Jahr 2013 fällt schwer, sowohl der musikalische, als auch der persönliche. Es fühlt sich halt auch gar nicht nach Jahresende an, es ist nicht die Zeit für einen Rückblick, es ist doch praktisch erst Sommer?! Ich hatte doch eben erst noch über meine letztjährige Nummer eins geschrieben, über Propagandhi - und, großer Gott, lass es zwei Tage her sein, da war ich doch auf ihrem Konzert in Köln. Come the fuck on?!

Das Konzert war im April und meine warmen, weisen, wegalen Worte zu "Failed States" schrub ich im Februar. Was davor, dazwischen, danach kam, war schneller wieder weg als dieser komische Hautausschlag im September. "Komisch, für sowas hab' ich ein Gedächtnis."(Loriot).

2013 begann stilecht mit der wunderbarsten Grippeerkrankung seit Jahren, mit tagelangem Fieberscheißdreck und Schüttelfrost, und weil ich so ein positiver Mensch bin, schwenke ich trotzdem ganze zwei Mal das "Glück im Unglück"-Fähnchen, denn erstens wurde mir der jährliche Weihnachtsfamilien-Zinnober erspart, zweitens nahm ich dank der Temperatur von 39,5°C über volle sieben Tage volle vier Kilo ab und startete damit gleichzeitig das Projekt "UHU". Eingeweihte wissen, was ich meine, der Rest soll's halt in Gottes Namen googeln. Der Arbeitseinstieg nach zweiwöchiger Krankheit wurde indes genau die Katastrophe, nach der es sich anhört - ich hasste es. Ich glaube nicht, dass ich zu jener wirklich klinisch depressiv war, aber depressive Tendenzen stellte ich eindeutig fest. Der Höhepunkt dessen war erreicht, als ich für drei Tage "geschäftlich" (so sagt man das als total abgefahren in seine Arbeit verknallter Hornochs', oder?) nach London musste: ich betrat ein Flugzeug gegen meinen Willen, was eine ähnlich qualitative Aussage ist wie beispielsweise "Wasser ist Nass" oder "Markus Lanz besteht zu 99% aus Schleim, der Rest sind Haferflocken", wurde mit rund 500 Arbeitskollegen aus ganz Europa in einem viel zu kleinen, dafür aber absurd weitläufigen Hotel eingepfercht, und alleine das Einchecken mit all dem Gekrähe und Schulterklopfen empfand ich als einschüchternd und demütigend, von den Animationsmätzchen mal ganz zu Schweigen, und aß über drei Tage das einzig vegane Gericht des Hauses: halb durchfrittierte/gefrorene Kartoffelrösti mit trockenem Salat. Hut ab, diese Briten!

 Wenn man es dann mal ausdrücklich von seinem Körper erwartet, er möge mir im übertragenen Sinne mit einer Eisenstange den Kopf verbeulen und mich für mindestens vier Wochen aus dem Verkehr ziehen, passiert natürlich gar nichts. An die kommenden drei Monate kann ich mich wirklich ums Verrecken nicht mehr entsinnen (bis auf das erwähnte Konzerterlebnis in Köln), der Mai verschwindet um ein Haar in einer jobbedingten schwarzen Wolke, die dieses Mal immerhin so dunkel und verdunkelnd war, dass ich mich daran natürlich noch ausgesprochen exklusiv erinnere.

Im Juni trafen die Herzallerliebste und ich die ersten Umzugsvorbereitungen - unvergessen der Samstag, an dem wir um 4 Uhr morgens und nach drei Stunden Schlaf aufstanden, um unseren ausrangierten und für die Mitnahme in die neue Höhle nicht vorgesehenen Krempel auf einem Frankfurter Flohmarkt zu veräußern, ich am selben Nachmittag um 17 Uhr von den Jungs aus der Band abgeholt wurde, wir nach Kusel fuhren, um einen Gig zu spielen, und ich also Sonntagmorgen um 5 Uhr zu Hause ankam und damit 25 Stunden am Stück wach war. Liebe Leser, es ist ein höchst amüsantes Spiel, das der Körper in solchen Momenten mit einem spielt, vor allem, wenn man keine 20 mehr ist. Allerdings nicht amüsant genug, um es so schnell zu wiederholen. Außerdem stand ein Besuch in Tübingen auf dem Plan, um gemeinsam mit Freund Jens Bonobo anzuschauen, der auf der beschaulichen Waldbühne des Sudhauses gastierte.

Die zweite Jahreshälfte lässt sich schnurstracks abhandeln: Umzug, Umzug, Arbeit, Arbeit. Es blieb wirklich nicht mehr viel Zeit für irgendwas anderes, und wenn doch, dann habe ich es vergessen. Was blieb: Blank When Zero spielten in der zweiten Jahreshälfte noch zwei besondere Konzerte - eines sogar in der verbotenen Stadt Köln und mit Andreas als Gastbassist für den verhinderten Marek, der sich gerade auf die Geburt des zweiten Kindes vorbereitete. Den zweiten Gig spielten wir nur zwei Tage später in Mainz, der vor allem deshalb besonders war, weil Simon und ich unseren Kram nur zu zweit herunterzockten. Ich weiß nicht, woran es GENAU lag, aber das waren die schnellsten 20 Minuten der Welt. Ich kam fast noch nichtmal ins Schwitzen. Aber eben nur fast.

Das Konzert des Jahres 2013 sah ich im November im Frankfurter Bett bei Oddisee, der mit einer kompletten Band aus fünf grandiosen jungen Jazzmusikern tourte und der entgegen der Vorurteile, die auch ich gegenüber zeitgenössischem HipHop hege und pflege, durch einen mit positiver Power aufgeladenen Abend führte und mich damit einigermaßen aus meiner Einigelsuppe herausholte.

Die Frau des Jahres ist nun seit mehr als vierzehn Jahren die Frau an meiner Seite, ohne die dieses Leben nicht mehr vorstellbar wäre. Blindes Verständnis, großes Vertrauen. Große Liebe.

Was uns nun zu den Platten des Jahres führt. Es folgt der Standardsatz zum Jahresende, wir tauschen allerdings die Jahreszahlen aus: das Jahr 2013 war musikalisch das beste Jahr seit 2012. Und es sollte schon mit dem achtschwänzigen Hoeneß zugehen, wenn wir hier nicht zwanzig Exemplare finden, über die in den kommenden Wochen das gefürchtete Geschwurbel herabschwurbeln wird. Passend zur Einigeltaktik der Lebensrealität, denn am Wochenende verlasse ich nur noch unter Androhung von Waffengewalt das Haus, ist mir in diesem Zusammenhang aufgefallen, wie weit ich mittlerweile von dem entfernt bin, was "man" so "mittlerweile" "alles" "hört". Was man nun bitteschön ausdrücklich nicht als Exklusivitätsglibber missverstehen soll - aber die vor einigen Jahren getroffene Entscheidung, weder Musikmagazine noch Webzines zu lesen, mir also auch nichts mehr durch einen Filter hindurch vorschlagen oder aufdrängen zu lassen, sondern die monatliche Kaufentscheidung einzig und allein von meiner Intuition abhängig zu machen, hat besonders im beinahe abgelaufenen Jahr dazu geführt, dass ich mich mittlerweile wirklich nirgends mehr wiederfinden konnte. Das fällt während des Jahres nicht groß auf, aber wenn jetzt im Dezember die Jahresbestenlisten auf uns einprasseln, dann ist's vor allem deshalb diskussionswürdig, weil überall derselbe Brei präsentiert wird. Dieselben Bands, dieselben Alben. Meinetwegen alles genreabhängig, aber innerhalb eines Genres hat man den Eindruck, es wären wirklich nur diese 50 oder 100 Platten veröffentlicht worden, die jedes Schmierblatt, sei's nun gedruckt oder virtuell, in ihre Werbelisten für die Werbeanzeigen schaltenden Labels reinschaufelt. Und ich bin diese in erster Linie wirtschaftlich bedingte Konsenssoße an diesem anbiedernden und manipulativen Hipsterrotze-Risotto sowas von leid. Es ist zum Kotzen.

Zeit für ein kleines bisschen Gegengift.

"Du kannst vielleicht nichts bewirken, aber zu kannst dem Wahnsinn zumindest zwanzig Plattenkritiken entgegenhalten, mit diesen gewaltsam auftrumpfenden schwarzen und grünen Rhythmen, so als explodiere ein sehr junger Schutzmann." 
H.Schmidt

Ich wünsche Euch friedliche und besinnliche Weihnachten.

20.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 1



Platz 1:
DARK ANGEL - TIME DOES NOT HEAL


"9 songs, 67 minutes, 246 riffs!" (Sticker auf der US-amerikanischen LP-Ausgabe)


Oh Mann, diese Band. Und diese Platte. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß es wirklich nicht. 22 Jahre gemeinsame und bewegte Geschichte sind nicht so leicht zusammenzufassen.

"Time Does Not Heal" ist das letzte Studioalbum des Quintetts aus Kalifornien. Ich kaufte mir das Doppelvinyl kurz nach Erscheinen im Frühjahr 1991 im Franfurter Saturn-Hansa in Frankfurt-Bornheim. Die Erinnerung ist weniger der guten Gedächtnisleistung meinerseits, als viel mehr dem Preisschild auf der Rückseite des Covers zu verdanken. 21,95 DM liefen damals trotz Doppelalbum unter "ganz schön teuer", heute ist's ein Witz. Da ich spätestens ab Mitte der 90er wie viele meiner Generationsgenossen der Musikindustrie genauso auf den Leim gegangen bin, wie's die heutige Generation der Jung- und Altgebliebenen dank MP3 und Spotify-Schwachsinn tut - da merkt man dann ja schon, dass wir alle gleich bescheuert sind - und also meine schönen Vinyle wenn schon wenigstens nicht verkaufte, dann aber doch zugunsten der CD im Schrank stehen ließ, musste ich irgendwann UNBEDINGT "Time Does Not Heal" auf CD haben. Für meine jüngeren Leser (haha!) muss ich dazu sagen, dass wir damals kein Internet hatten um mal eben das übriggebliebene Exemplar in Kuala Lumpur mit drei Mausklicks einfliegen zu lassen. Tatsächlich wussten 1994 nur die Wenigstens, was überhaupt nur Mausklicks sind. Und ob Kuala Lumpur nicht doch eine neue Kaffeesorte von Eduscho ist.

Was blieb: alle fünf Tage im Frankfurter Musikladen reinschneien und fragen, ob die Bestellung denn mittlerweile angekommen sei: *gelächter*. Auf Plattenbörsen sorgte ich ebenfalls über Jahre für großes Hallo, wenn ich die Frage aller Fragen stellte:"Kannst Du irgendwie die "Time Does Not Heal" auf CD auftreiben?". Es wurden Telefonnummern ausgetauscht, ich sprach mit komischen Typen (die in erster Linie komisch waren, weil sie ihren Kram auf Plattenbörsen verkauften), die wieder komische Typen kannten. Der Mythos um diese Platte wurde durch Sätze wie "Der Cousin meiner Frau sei'm Onkel hat die neulich in einem Kiosk in Neuharlingersiel gesehen, warte mal, ich habe die Fax(!)nummer..." nur noch ärger angeheizt, und bevor jetzt jemand die Stirn runzelt und sich fragt, ob ich nicht wieder mal maßlos übertreibe: ich übertreibe nicht. Ich fand sowohl "Time Does Not Heal" als auch die beiden anderen als verschollen geglaubten CD Versionen des Debuts "We Have Arrived" und des Nachfolgers "Darkness Descends" Ende der neunziger Jahre für einen obszönen Geldbetrag, bevor die Dinger ein Jahr später wiederveröffentlicht wurden. Dann kam Ebay um die Ecke und dann war eh alles zu spät. Muss es in meinem Kopf damals dunkel gewesen sein, wa?!

So, nun ist's ja aber so: ich bin kein Sammler in dem Sinne, dass ich Platten kaufe, damit ich sie habe. Ich kaufe mir Platten, weil ich sie mag. Was ich nicht mag, wird nicht gekauft. Und jetzt müsst ihr eins und eins zusammenzählen: meine Liebe für dieses Album ist nur ein bisschen besorgniserregend.

Thinking Man's Thrash Metal

"Time Does Not Heal" ist das progressivste, komplexeste Thrash Metal Album aller Zeiten. Die überlangen Songs, die nicht selten an der 10-Minuten Marke kratzen, sind bis heute beeindruckende, herausfordernde Epen, die die engen Grenzen des Genres scheinbar mühelos sprengen und eigentlich von jeder Zutat noch ein Schippchen drauflegen. Die Produktion? Die beste, die Dark Angel je hatten. Wer's jetzt nicht gut mit mir meint, wird vermutlich "Das ist nicht schwer!" sagen. Die Riffs? Unfassbar. Eric Meyer und der von Viking gewechselte Brett Eriksen waren jahrelang meine Vorbilder und wenigstens auf dieser Platte das beste Gitarren-Duo des Thrash Metals. Nachdem ich meinen damaligen Gitarrenlehrer darum bat, wir sollten mal versuchen, uns die Riffs zu "An Ancient Inherited Shame" und "Trauma And Catharsis" herauszuhören, wurde der gute Harald nach den ersten Minuten ganz schön blass um die Nase, bis ihm irgendwann ein verzweifeltes

"DAS HABEN DIE ÄRSCHE NUR EINMAL SO GESPIELT - UND ZWAR ALS SIE ES AUFGENOMMEN HABEN! DAS KANN MAN SO NICHT SPIELEN. HAST DU MAL EINEN KAFFEE FÜR MICH?"

entfuhr. Dann dirigierte er mich wieder durch die Bedienung des CD Players, während er den nächsten Anlauf nahm:

"LOS! NOCHMAL! STOP! ZURÜCK! NOCHMAL! WEITER ZURÜCK! AAAAAAHHHHHH! NOCHMAL! JETZT! JETZT! JETZT HAB ICH'S! NEE, DOCH NICHT! ZURÜCK! KAFFEE!"

Ich werde das nie nie nie nie vergessen.

Das Riffing der beiden Saitenhexer Meyer und Eriksen entfaltet sich besonders mit einer Minidosis Aufmerksamkeit unter dem Kopfhörer in voller Pracht und wird damit zu einer beinahe spirituellen Erfahrung - wie oft sie im Grunde gegen jeden Takt spielen und mal hier, mal da rüberspringen, wieder zurückfedern, um plötzlich wieder bretthart und unisono mit aller Macht nach vorne drücken, manchmal nur von den Wahnsinnsdrums von der Legende Gene Hoglan und den ungewöhnlichen, überraschend melodischen Vocallines zusammengehalten, das ist einzigartig, das ist herausragend. Und wo ich gerade den Gesang ansprach: mir ist bewusst, dass der ein oder andere Betonkopf die Stimme von Originalsänger Don Doty für die reine Metallehre hält, ich ziehe allerdings zu jeder Sekunde seinen auch auf "Time Does Not Heal" am Mikro stehenden Nachfolger Ron Rinehart vor. Rineharts Stimme ist kontrolliert und melodiös, dabei gleichfalls sehr, sehr originell.

Rinehart ist auch einer der Gründe, warum ich das von vielen so bös' verschmähte "Leave Scars" Album aus dem Jahr 1989 so gerne mag, auf dem er noch etwas räudiger und weniger poliert klingt. Auf "Leave Scars" deutete sich mit den ebenfall überlangen Songs "The Promise Of Agony", "No One Answers" und dem sagenhaften Titeltrack übrigens schon an, zu was diese Band noch in der Lage sein sollte. Folgerichtig spielten Dark Angel spätestens ab "Time Does Not Heal" auch stilistisch in einer ganz eigenen Liga. Ein dazu beitragendes Element ist das ungewöhnliche Hitpotential einiger Songs, die nicht nur mit intelligenter Härte die dichtesten Riffteppiche der Welt zusammenknüpften, sondern wie im Falle von "Act Of Contrition" oder "Pain's Invention, Madness" auch große Refrains präsentierten, die sich im Ohr festsetzen konnten. Jedenfalls glaube ich das nach den 22 Jahren, in denen ich "Time Does Not Heal" rauf und runter gehört habe.


Vieles verklärt sich, vieles ist hinter dem jugendlichen Schleier schlicht käsige Romantik - manches aber bleibt. Dark Angel und "Time Does Not Heal" bleiben.

Und das beste zum Schluss: Harald und ich konnten "An Ancient Inherited Shame" übrigens nach zwei drei Wochen relativ unfallfrei auf der Gitarre nachspielen und wieder feste Nahrung zu uns nehmen.

Erschienen auf Combat, 1991.

18.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 2



Platz 2
SLAYER - SEASONS IN THE ABYSS


Mein Verhältnis zu Slayer ist ein höchst ambivalentes, und ich könnte es im Prinzip keinem verdenken, der mich nun wegen Heuchelei, Doppelmoral und der Tatsache, dass in meinem Kühlschrank gerade tatsächlich veganer Käse liegt an den Kalbshaxenpranger stellt. Slayer sind keine sympathischen Jungs. Genau genommen machen sie auf mich den Eindruck, sie seien intellektuell gerade aus dem Pleistozän gekrabbelt - nur dass sie anstatt der Keule eben eine Gitarre über die Schulter geworfen haben. Ihre verursachten Skandale in den achtziger Jahren, meinetwegen allesamt selbstinszeniert und durch eine sich schon damals an Remmidemmi abarbeitende und aufgeilende Medienlandschaft forciert, der heikle "Angel Of Death" Text, die auf die Gitarre geklebte Nazischeiße von Jeff Hannemann, Kerry Kings angebliche Verstrickungen in zumindest konservativ-redneckig angestrichene Kreise und nicht zuletzt der Umgang mit der mutmaßlichen Krankheit und dem späteren Tod Jeff Hannemanns einerseits, aber auch der Umgang mit der Kündigung von Schlagzeuger Dave Lombardo andererseits, tragen nicht dazu bei, dass die Kapelle bei mir hoch im Kurs steht. Und auch wenn es immer wieder aufs erste Hinsehen verblüffend ist, wie wenig all das die Metalszene juckt, solange die Mucke geil und der Pimmel auf halb elf steht, und was beim näheren Hinsehen eben doch genau so - und zwar GENAU SO - sein muss, ist jetzt vielleicht die Stelle gekommen, an der das berühmte "Aber!" hingehören sollte. Ich kurbel auch mal schnell den Pimmel hoch. Schuldig im Sinne der Anklage. Live with it.

Die Kehrseite der Medaille ist nämlich, dass die Band bis 1991 durchaus eine exponierte Stellung in meinem musikalischen Universum einnahm. Mein Bruder machte mir das Debut "Show No Mercy" schmackhaft, und ich hörte "Reign In Blood" zum ersten Mal in seinem Zimmer, obwohl er mir, also immerhin einem gerade mal elfjährigen Dreivegankäsehoch, kurz vorher noch mitteilte, die Platte sei "nix für dich." Womit er natürlich strahlend falsch lag - ich raffte die 29 Minuten Hartholz von "Reign In Blood" freilich damals kein Stück, was ich aber verstand war sein rowdyhaftes und irres Backcover sowie die schwarzen Augenringe Hannemanns und das umgedrehte Kreuz auf der Rückseite des Debuts. Ich raffte das vor allem deshalb, weil es Mutti Angst machte. Das musste irgendwie böse sein. Und böse war damals gut - nicht weil es böse, sondern das exakte Gegenteil war: es war lustig. Und weil es in erster Linie lustig war, mit diesen Provokationen zu spielen, verbrachte ich keine Sekunde damit, die Texte zu lesen. Verstanden hätte ich eh kein Wort.

Nun ist "Reign In Blood" natürlich der anerkannte Konsensklassiker und viel mehr als nur die weithin als Sternstunde Slayers geltende Pflichtveranstaltung für Metalfans, und tatsächlich ist der Einfluss besonders jenes Albums auf die weitere Entwicklung des Genres immens. Wenn wir aber über meine Lieblingsplatte der Band sprechen, und genau das tun wir hier, führt kein Weg an "Seasons In The Abyss" vorbei. Meinetwegen hätten sich Slayer spätestens nach der anschließenden Liveplatte "Decade Of Aggression" ins Thrashnirwana verabschieden können, das wäre der endgültige und würdige Schlusspunkt ihrer Karriere gewesen. Von hier aus konnte es nur noch bergab gehen. Was es ja dann auch - Wir sind alle schockiert! - auch tat.

"Seasons In The Abyss" bietet musikalisch alles, was Slayer ausmacht, und sogar noch ein bisschen mehr. Durch die Auseinandersetzung mit diesen Songs wird im Nachgang klar, dass der Vorgänger "South Of Heaven" ein Übergangsalbum war, oder, etwas provokativer formuliert, ein notwendiges, wenngleich ärgerliches Übel. Man sieht's mir nach: ich konnte mit "South Of Heaven" mit Ausnahme des apokalyptischen Titelsongs noch nie etwas anfangen, aber wenn es so klingen musste, damit wir uns zwei Jahre später in der Gruft namens "Seasons In The Abyss" suhlen durften - bon. Zwei zentrale Themen, die diese Platte so speziell machen, inhaltlich aber kurioserweise kaum voneinander zu trennen sind, was nebenbei gesagt viel, wenn nicht gar alles aussagt: Erstens haben die Songs soviel Hitpotential wie noch nie zuvor und/oder danach. Der klassische Albumsong, der für gewöhnlich nur deshalb existiert, weil man noch ein bisschen Platz auf der Platte hatte, existiert hier eben gerade nicht; das Format wird aufgelöst und bekommt stattdessen zehn Thrash Metal Giganten eingefräst, die sich stilistisch exakt zwischen "Reign In Blood" und "South Of Heaven" platzieren, sich indes qualitativ, sowohl melodisch und strukturell, als auch und ganz besonders atmosphärisch an die Spitze der (fast ganzen Thrash-) Welt setzen. Was uns zu Zwotens führt: der Sound. Mein Gott, dieser Sound! In meinen Einlassungen zu Sepulturas "Arise" schrieb ich, es gäbe praktisch nur eine Thrashplatte, die besser als eben "Arise" klingt, und hier haben wir sie. Eine morbidere, vernebeltere, im Wortsinn atemberaubendere Platte habe ich in meinem Leben nicht gehört. Wer die Ohren spitzt und tief in die schwarze Pestwolke eintaucht, muss befürchten, dass dieser von Rick Rubin verantwortete Staubklumpen in jedem Augenblick in sich zusammenfällt - es riecht nach Apokalypse, nach Dunkelheit, es ist dumpf, macht ohnmächtig, und trotzdem kann Metal zeitgleich nicht massiver, gewaltiger und bedrückender klingen. Diese Produktion ist ein Meisterwerk, das nicht aus technischer Limitierung, sondern aus einer Vision entstand, und sie bläst bis heute praktisch alles an die Wand, was seitdem ein Studio von innen gesehen hat.

Alleine der Sound von "Seasons In The Abyss" ist der Grund, warum ich mir seit Jahren keine aktuellen Metalplatten mehr anhören kann und mag: im Vergleich mit dieser nunmehr über zwanzig Jahre alten Scheibe erscheint mir alles visionslos, gleichförmig, leer, billig und flach.

Erschienen auf Def Jam, 1990.

15.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 3


Platz 3:
DEMOLITION HAMMER - EPIDEMIC OF VIOLENCE


"I threw my desk chair out of the window. Just a natural response to something so fucking heavy. Thank you, Demolition Hammer!" (User Danger555 auf Youtube)

Ich habe mir "Epidemic Of Violence" am Veröffentlichungstag der Iron Maiden-Single "Be Qick Or Be Dead" gekauft, am 13.4.1992, im alten Frankfurter Musikladen, als jener noch in der Kinopassage der Hauptwache war. Der Raum war kaum größer als meine heutige Küche, und die Plattencover in den Fächern waren leer, weil das schwarze Gold in den Wandregalen hinter dem Tresen stand. Brachte man also eine (leere) Hülle zu den coolen Fuckern, die die Herrscher über diesen wunderbaren Bestand waren, zogen sie in Rekordgeschwindigkeit das dazu passende Inlay nebst Schallplatte aus dem Regal, schoben beides in die Hülle und kassierten die Kohle. Und das waren wirklich coole Fucker. Einer von ihnen fragte mich mal (beim Kauf der zweiten Killers Platte "Murder One"), ob ich auch beim Gig von Paul Di'Anno in Frankfurt gewesen sei. Da war ich 15 und natürlich war ich nicht da. "Nee. War gut?" -"Boah, das war so hammergeil, ey." Hätte man damals schon gewusst, dass gut 20 Jahre später der Ausdruck "Fuck My Life" in diesem crazy little thing called Interfuckingnet den Blinddarmdurchbruch feiern würde, hätte ich es wohl 1992 zum ersten Mal laut ausgerufen. Dann Tantiemen, Hollywood, Koksüberdosis, Tod mit 32. In eine Mitarbeiterin des Musikladens war ich in meiner pubertären Phase ("Da kommst Du auch noch rein."(Mutti, vor 3 Tagen)) böse verknallt, und als ich sie beim Benediction Konzert 1993 im Frankfurter Negativ vor dem Club stehen sah, musste ich natürlich extrem supercool an meiner Cola nippen. Mit niederschmetterndem Erfolg. Nee, Moment: "Erfolg".

Kleiner Ausflug in mein Leben des Jahres 1992 (den anderen Teil mit Rollkunstlauf, blauen Flecken, Paiettenkostümen und Stretchhosen erzähle ich irgendwann mal. Später. Viel später.), der zugegebenermaßen nur am Rande etwas mit Demolition Hammers zweiten Album zu tun hat, aber man muss das hier ja auch alles mal auflockern. Außerdem, und das war es auch, was ich eigentlich sagen möchte, sollte "Be Quick Or Be Dead" ja eine der besseren Nummern auf Maidens späterer- pardon! - Scheißplatte "Fear Of The Dark" sein, und ich hörte den Song in meiner Vernarrtheit über Stunden hinweg auf Endlosschleife - was etwas aufwändig sein kann, wenn man sich die 12"-Single kauft und der Plattenspieler die Repeatfunktion nicht kennt. "Be Quick Or Be Dead" wurde allerdings nach den ersten Sekunden des Openers, Achtung, festhalten:"Skull Fracturing Nightmare" (gnihihihi) atomisiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Bands der damaligen Zeit wurde das New Yorker Quartett nicht langsamer oder grooviger, sie wurden schneller, härter, brutaler. Wie es schon Frank Albrecht in seiner Review zu "Epidemic Of Violence" im Rock Hard Magazin ausnahmsweise völlig richtig feststellte, muss man es diesen Wahnsinnigen hoch anrechnen, dass sie nach ihrem Debut "Tortured Existence" und dem darauf gebotenen Gemisch aus Thrash und Death Metal nicht etwa in Richtung Death Metal weiterliefen, sondern die Abfahrt für den wohl extremsten Thrash Metal aller Zeiten nahmen, und zwar mit Schmackes! "Epidemic Of Violence" ist mit Leichtigkeit eines der beeindruckendsten Metal-Alben der letzten 20 Jahre.

Wer sich bis zu dieser Stelle durch meine letzten Beiträge gekämpft hat, wird festgestellt haben, dass ich dem Produzenten Scott Burns ein Denkmal in mein Schlafzimmer gestellt habe und es jeden Abend mit einem Tässchen Tofublut und einem Lappen Seitansteak ehre. Umso schwerer wiegt der folgende Satz: Demolition Hammer haben mit der Entscheidung, "Epidemic Of Violence" nicht etwa wie das Debut von Burns, sondern von Tony Soares produzieren und mischen zu lassen, allesallesalles richtig gemacht. Zwar hat Soares wie Burns auch die Rhythmusfraktion in erster Linie auf dem Schirm und entsprechend nach vorne gezogen, die Gitarren und der Gesamtsound klingen indes deutlich transparenter und fokussierter als in den Produktionen von Burns. Und mein Gott, klingt das gut. Unbedingt originell, gnadenlos hart. Es ist nicht nur, aber zu einem großen Teil auch dieser fantastische Sound, der "Epidemic Of Violence" zu einer Genre-Sternstunde macht. Die weiteren Zutaten: bessere Riffs als auf "Tortured Existence", eine sprachlos machende Intensität und Kompromisslosigkeit, die heiser-brüllkrächzende Stimme von Steve Reynolds, die man unter Tausenden Schreihälsen sofort heraushört und ein komplett irrer Schlagzeuger, der beim Höhepunkt der Platte "Omnivore" mal eben den dritten Weltkrieg auslöst. Und vier Jahre nach Veröffentlichung dieses Albums angeblich an einer Vergiftung durch falsch zubereiteten Kugelfisch starb.

Um Classicthrash.com zu zitieren:"It doesn't get much heavier than this, really."

Erschienen auf Century Media, 1992.

08.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 4



Platz 4:
DEVASTATION - IDOLATRY

Wo sich insbesondere bei Overkill und Forbidden das Luxusproblem der Qual der Wahl einstellte, läuft's mir bei dieser Kapelle aus Texas ganz flüssig am Bein entlang. Devastation veröffentlichten zu Lebzeiten drei Alben, derer zwei man in aller Seelenruhe und gerade jetzt im Winter als Eiskratzer für die Karre verwenden kann. Sofern man eine Karre hat. Alternativ lassen sich auch schöne Obstschalen aus den Vinylen formen. Besonders das Debut "Violent Termination", von einigen komplett Schwachsinnigen für geradewegs obszön zu bezeichnende Geldbeträge im Internet angeboten, ist wenig mehr als naives, mies produziertes Gerumpel mit einem faszinierend schlecht klingenden Sänger. Was das Album übrigens zu einem Paradebeispiel für eine sich immer absurder entwickelnde Sammlerkultur macht, die sowohl ironischer- als auch konsequenterweise in einer Reihe mit nicht mehr ganz so neuen Streamingformaten steht: wenn es nur noch um den inhaltsfreien, tumben Konsum geht, um den Besitz und die Pose - dann können wir den Laden eigentlich heute schon zumachen. Die Lichter sind schließlich schon aus.

Der Nachfolger "Signs Of Life" lieferte vor allem klanglich eine Steigerung zum Debut ab, im Gesamtbild blieb das Quintett im Vergleich zur Konkurrenz aus der zweiten oder dritten Thrash-Garde noch immer (fast) alles schuldig. Gerade vor diesem Hintergrund ist es für mich bis heute ein großes Rätsel, was wohl zwischen "Signs Of Life" und "Idolatry" geschehen sein mag. Das dritte und letzte Album der Band ist ein perfektes Thrashalbum der dritten Generation und ein völlig fehlerloses, packendes Lehrstück harter, extremer Musik. Devastation müssen ihr letztes Hemd für diese Platte gegeben haben, denn sie stiegen direkt aus der Regionalliga in die Champions League auf.

Von der ersten bis zur letzten Minute ist der durchdringende Wille des Quintetts wahrnehmbar und das stilvolle Songwriting mit einem alles zerbröselnden Riffing ist ein Quantensprung zu den Vorgängerwerken - ultraheavy, stringent, mit Hand und Fuß. Scott Burns hatte in Sachen Sound seine Finger im Spiel, und in Momenten, in denen ich weniger gut gelaunt bin (entgegen der verbreiteten Meinung ist das bedeutend seltener der Fall als weithin angenommen), ertappe ich mich bei der bösen Vermutung, die Band konnte wohl keine zwei Schritte unfallfrei geradeaus laufen, bis sie auf einen Hexer wie Burns traf, der sich ihrer Musik annahm. In diesem Zusammenhang ist es ratsam darauf hinzuweisen, dass die Ansicht, Burns hätte in seinen Glanzzeiten sowieso nur einen einzigen Sound gehabt und diesen immer nur wiederholt, im Falle von "Idolatry" nicht greift. Sicherlich lässt es sich auch ohne güldene Ohren und ohne einzuholenden Expertenrat recht fix heraushören, wer das Gebretter am Mischpult zusammenstrickte, dass "Idolatry" trotzdem sehr eigenständig und einzigartig klingt, steht gleichfalls außer Frage. Für meine eben geäußerte Theorie spricht übrigens auch, dass sich die Band nach Veröffentlichung ihres dritten Albums auflöste - ab "Idolatry" konnte es im Prinzip nur noch bergab gehen. Vielleicht war selbst die Band sich dessen bewusst.

Erschienen auf Combat, 1991.

Nachtrag: Manchmal ist es vielleicht ganz gut, seine alten Helden in Ruhe zu lassen, um bloß nicht feststellen zu müssen, dass sie (mittlerweile?) alte, bärtige und aufgepumpte Rednecks sind, die mit Maschinengewehren posieren und sich Zitate von Hank "Hirnschaden" Williams Jr. auf Facebook hochknallen. In dem Fall wäre ich nämlich tatsächlich mal wieder ziemlich schlecht gelaunt. Andererseits...es is' halt Texas, ne?! "Where Fuck-Up's come alive." Bei uns wäre das ja Bayern. 

01.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 5



Platz 5:
FORBIDDEN - TWISTED INTO FORM

Noch so ein schwerer Kampf um das "richtige" Album, aber ich hatte mich im konkreten Fall schon vor einigen Jahren festgelegt, dass "Twisted Into Form" mit einer Nasenspitze Vorsprung vor dem Debut "Forbidden Evil" ins Ziel mosht. Ein Testdurchgang im Rahmen dieser Liste ergab keine Veränderung an dieser Entscheidung, auch wenn man mich zugegebenermaßen bei Killertracks wie "Chalice Of Blood" oder dem unglaublichen "Through Eyes Of Glass" mit Superkleber an die Heizung pappen muss, damit ich nicht auch hier die Einrichtung (und das Universum) zerlege. "Forbidden Evil" hat möglicherweise in Bezug auf die eben genannten Songs zwar die stärkeren Highlights, "Twisted Into Form" ist aber insgesamt konsistenter und vor allem atmosphärisch ungeschlagen.

Das 1990 erschienene Album wurde nach dem gefeierten Debut mit riesiger Spannung erwartet und konnte in den Reviews einschlägiger Magazine zunächst nicht unbedingt mit euphorischen Reaktionen punkten. Ich erinnere mich gut an die kritischen Stimmen, die das gedrosselte Tempo und die banalen Riffs monierten - vor allem der letztgenannte Vorwurf erscheint aus heutiger Sicht völlig grotesk. Es dauert genau genommen eine Minute und achtundfünfzig Sekunden, bis mich der Wahnsinn erstmals packt und an die Decke schleudert, denn alleine für dieses an der Stelle einsetzende Riff im Opener "Infinite" hätte ich damals die aufgerufenen 20 Mark gezahlt. Aber auch da kann man mal sehen, wie konservativ die "Szene", sofern es die damals überhaupt gab, auf Veränderungen reagierte - und ja bis heute reagiert. Forbidden haben im Vergleich zu "Forbidden Evil" ihren Sound auf "Twisted Into Form" freilich weiterentwickelt, sie haben die beeindruckende juvenile Frische und Naivität des Debuts gegen eine dunkle, beklemmende Stimmung ausgetauscht, darüber hinaus wurde in gleichem Maße, in dem sie das Tempo aus dem Songs herausnahmen, der technische, komplexe Aspekt ihrer Musik in den Vordergrund geschoben - ohne jedoch das Hitpotential ihrer Kompositionen unter der Last von ziellosem Gefrickel zerdrücken zu lassen. "Step By Step" oder der fantastische Titelsong sind Klassiker des Genres, die final belegen, dass sich herausragende Musikalität nicht mit feinen Hooklines und Eingängigkeit beißen muss.

Das Ergebnis ist ein stilvolles, ernsthaftes und düsteres Thrash Metal Werk mit einem knochentrockenen, wenngleich überwältigend dichten und zermalmenden Sound. Und wie auf jeder Platte der Bay Area Helden steht das größte Plus der Band hinter dem Mikrofon: Russ Anderson war einer der größten Thrash-Sänger seiner Zeit, gesegnet mit einer einzigartigen Stimme, die so brutal und hart auf der einen, so melodisch und schlicht angenehm auf der anderen seite sein konnte, und die in keinem dieser Aggregatzustände aufgesetzt klang. Der Typ konnte _WIRKLICH_ singen. Über seinen Zustand bei den Reunion-Shows im Jahr 2009 und 2011 decken wir gerade im Angesicht der Leistung auf den ersten vier Forbidden Scheiben einen ganz großen Mantel, denn darum soll es hier nicht gehen. "Twisted Into Form" ist eines der ganz, ganz großen Kunstwerke des Thrash Metal und qualitativ in seiner stilistischen Ausprägung bis heute unerreicht.

Erschienen auf Combat Records, 1990.