METAL CHURCH - HANGING IN THE BALANCE
"Ich werde ja oft gefragt...eigentlich werde ich oft gar nichts gefragt, aber ich muss sagen, ich werde oft gefragt, sonst geht's nicht weiter." (Harald Schmidt)
Ich werde ja oft gefragt, ob es in den 90er Jahren eigentlich noch gute Metalalben gab. Metalalben, die abseits des Grunge, des Crossover und des langsam aufkommenden Metalcore existieren konnten, und die das vielleicht letzte Ausrufezeichen eines Genres setzen konnten, das heute wie vom Erdboden verschluckt erscheint: Power Metal. Ein Sound, der von Bands wie Sanctuary, Lethal, Vicious Rumors, Jag Panzer, Armored Saint, Heretic, Metal Church oder den frühen Virgin Steele und Iced Earth geprägt wurde. Oft an der Grenze zum Speed und Thrash Metal, aber eben auch mit einem Bein in der Welt des Melodic Rock oder des ganz klassischen Hardrocks der 70er und frühen 80er Jahre. Trotz der nahezu vollumfänglichen Auflösung dieser Spielart kann ich meine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nur positiv fomulieren. Ja, es gab noch großartige Metalaben in den neunziger Jahren und "Hanging In The Balance" ist eines davon; genaugenommen ist es möglicherweise sogar eines der zehn besten Metalalben aller Zeiten.
Metal Church litten ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres selbstbetitelten Debutalbums an einem grundsätzlichen Phänomen, von dem nicht nur Bands wie Mr.Big oder Extreme, unter entgegengesetzten Voraussetzungen aber auch Slayer oder Metallica ein Liedchen singen können. Wenngleich die beiden letztgenannten Kapellen angesichts der angezeigten Nullen auf dem Bankkonto vermutlich vor Lachen vom vergoldeten Scheißhaus 'runterplumpsen, werden sie von der eingeschworenen, sich dem Mainstream vermeintlich entziehenden Fangruppe der "Early Birds" (ein Fachausdruck aus der Mykologie, Google hilft, oder eben auch nicht) immer und vor allem: FÜR IMMER (Hallo Doro! *stöhn*) an ihren frühen Werken gemessen, die allesamt soviel größer, geiler, wahnsinniger, jaleckmichamarschwiegeildiemalwaren sind als der ganze "angepasste", "weichgespülte" oder "kommerzielle" Mist, der danach kam. Mr.Big und Extreme sind nach ihren One Hot Wonders an ebenjener "Kommerzialität" gescheitert, denn wenn die Industrie dank eines schmusigen Schnulzenknallers mal schnell zehn Millionen Platten verkauft, dann schleift der Major-Boss bei den lumpigen drei Millionen des Nachfolgers mal fröhlich die Axt. Und weil sich genau dieser Typ um Qualität und Anspruch soviel schert wie unser Innenpudel Friedrich um Intelligenz, Logik und saubere Unterhosen sind ihm die leisen Proteste, die ihm zur Tante Araya und Onkel Hutfeld aus der Trinkhalle Essen-Karnap entgegenplärren aufs Geradewohl heraus latte, bums, schietegal, denn hier richtet es dann eben der Mainstream im Sinne der Industrie, der Anklage und des Künstlers. Alle Wege führen nach Rom, beziehungsweise in die Bedeutungslosigkeit - bei den einen in die künstlerische, bei den anderen in die soziale.
Metal Church aus dem US-amerikanischen Seattle mussten mit ihrer Auflösung im Jahr 1995 zunächst das soziale Nirwana in Kauf nehmen, bevor es nach der komplett missglückten Reunion mit Originalsänger David Wayne vier Jahre später auch künstlerisch begeisternd rasant bergab ging. Der weitere Versuch mit Sänger Ronny Munroe ist und war gleichfalls nicht von Erfolgen gekrönt, zumal das Line-Up mittlerweile mehr als nur ausgedünnt ist: Graig Wells und John Marshall haben ihre Gitarren schon lange an den Nagel gehängt, der zuckerkranke Kirk Arrington bekam das Touring nicht mehr zusammen und was aus Basser Duke Erickson geworden ist, weiß nur der Wind. Einzig Songwriter und Gründungsmitglied Kurdt Vanderhoof ist noch (oder besser: wieder) an Bord. Über die Qualität der späteren Platten darf man ruhigen Gewissens den Mantel des Schweigens legen.
Was das Quintett jedoch nach 1985 auch anpackte, die Reaktionen waren schon aus der Ferne deutlich zu vernehmen.
"So geil wie das Debut wird's wohl nicht mehr werden."
Bei jeder neuen Platte, in jeder Rezension dasselbe Spiel.
"Gute Platte, kommt aber nicht an die Genialität des Erstlings heran."
Damit waren die Weichen gestellt und es sickerte so langsam in jedes verpickelt-pubertäres Kinderzimmer, dass es die Band einfach nicht mehr bringt. Die hatten eben ihren Höhepunkt mit der ersten Platte.
"Da kommt nicht mehr viel."(Antitainment).
Es waren die Damen und Herren von Blackheart Records, das Label von Joan Jett, die den fünf Helden einen Anschlussvertrag anboten, um "Hanging In The Balance" zu veröffentlichen, 1993 zunächst in Japan, ein knappes halbes Jahr später in Europa. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich im Februar/März 1994 mit einer Erkältung flach lag und meine Eltern darum bat, dass sie mir von ihrem Frankfurter Einkaufsbummel eine CD mitbringen - es war "Hanging In The Balance". Ich brauche außerdem kein überbordendes Erinnerungsvermögen, um ohne jede Übertreibung festzustellen, dass ich diese Platte für mindestens ein komplettes Jahr fast täglich mindestens ein Mal hörte. Ich weiß das nicht nur deshalb so genau, weil ich als 16-jähriger dank langsam einsetzender Pubertät, Grunge-Wahn, den ersten durchgefeierten Nächten und immer länger werdenden Haaren eine sehr intensive Zeit verlebte, sondern auch darum, weil ich schon damals so bekloppt wie heute war und Woche für Woche meine (meist)gehörten Platten in einen karierten Schreibblock reinkritzelte. "Hanging In The Balance" war dort Stammgast, bis ich damit aufhörte - und das muss etwa im Frühling 1995 gewesen sein. Außerdem wuchs dann "Dopes To Infinity" von Monster Magnet gerade über sich selbst hinaus. Aber das ist vielleicht eine Geschichte, die ich mir für einen späteren Zeitpunkt aufhebe. Ich kann mich aber auch deshalb noch so gut daran erinnern, weil ich selbst heute noch jedes Wort mitsingen kann.
Alles an dieser Platte ist pures Gold. Ausdrücklich auch das Cover, über das die Hirnniedrigwasser-Gemeinde des Heavy Metal seit jeher Kübel voller Hohn und Spott ausschüttet. Jeder Song ist eine Sternstunde des Power Metal, geschrieben von einem der damals besten Songwriter, gespielt von zwei "Mega-Gitarristen" (Götz Kühnemund), einem Monsterdrummer und einem legendären Bassisten, gesungen von einem der besten Metal-Sänger aller Zeiten: Mike Howe, der nach dem Rausschmiss von David Wayne so böse damit zu kämpfen hatte, die Puristen von seinen Qualitäten zu überzeugen. Der sich nach der zwischenzeitlichen Auflösung der Band komplett aus der Musikszene verabschiedete und seitdem mit seiner Familie auf einer Farm in Tennessee lebt und nicht mal mehr gesichtet wurde. Er singt auf dieser Platte perfekt.
Alle spielen perfekt. Die Tracks sind perfekt. Makellos. Unglaubliche Riffs. Unglaubliche Melodien. Unglaubliche Power. Komplexe, leicht progressive Epen wie "Little Boy" und "End Of The Age" (Großer Gott!), straighte Power Metal Granaten wie "Conductor" oder "Down To The River", dazu mit dem düsteren und groovigen Opener "Gods Of Second Chance" (inklusive Gitarrensolo von Alice in Chains-Gitarrist Jerry Cantrell) und den filigranen Rockern "Losers Of The Game" und "A Subtle War" - Metal war danach nur ganz selten wieder so unfassbar großartig.
Erschienen auf Blackheart Records, 1993