CHICAGO UNDERGROUND DUO - AGE OF ENERGY
"Grauer Wollpullover. Dünner Stoff, ziemlich eng anliegend. Darunter ein weißes Hemd, der Kragen schaut oben raus. Unten sieht man die linke Hälfte des Stoffs rausschauen. Lässig. Aber glasklar strukturiert. Wie in Kunstharz eingegossen. Dazu passend die schmale, rahmenlose Brille, die Haare etwas länger als sie wenigstens meine Oma zu akzeptieren bereit wäre. Leicht zerzauselt, aber Barbara Schöneberger würde für ihn die absurde und kriminell zugerichtete Kartoffelpampe aus der Plastikschale stehen lassen, für die sie offensichtlich noch immer Werbung macht. Vor allem, weil er keine Hose trägt. Und sie, die Schöneberger, übrigens auch nicht. Ich natürlich auch nicht." Juli Zeh hätte für diese Textpassage den Nobelpreis für die erotischste Erzählung seit Didi Hallervordens Drehbuch zu "3 heiße Hexen auf dem Elektro-Tischgrill" bekommen (der ihr zweifellos zusteht). Ich bekomme dafür eine Tracht Prügel (die mir ebenso zusteht) --> Win-Win. Apropos Grillen (die Aktivität, nicht das Insekt): geht's hier auch nochmal um Musik?
Aus den Lautsprechern fließt ein leises Zischen, das sich nach wenigen Augenblicken in ein Brummen, ein Brodeln verwandelt. Die Melodie will sich neue Freunde besorgen, es ist immerhin Frühling. Die Bäume haben sich von Claudia Roth höchtpersönlich grün anmalen lassen und durch das Fenster zieht der Duft des sich anschleichenden Heuschnupfens herein. "Vielleicht einfach die Nasenlöcher zubetonieren, wär' auch total crazy und die Weiber stehen vielleicht drauf." Er trägt den Kaffeepott nicht am Henkel durch das Zimmer, das wäre viel zu konventionell, aber dafür am oberen Tassenrand. Der Tag kann kommen. Wie man so langsam an den Sekunden und Minuten entlangfließt, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Dies ist nicht der Beipackzettel zu einer Randvoll gefüllten Flasche Lachgas, sondern in Wirklichkeit ein kleiner Ausschnitt eines Einblicks in einen ganz typischen Tagesbeginn meines extra abgefahrenen Lebens. Bis auf die Sache mit dem grauen Pullover, der Brille, der Schöneberger und dem Beton in der Nase. Und ich würde auch niemals "Weiber!" sagen, dramaturgisch war es aber nötig. Und ob Didi Hallervorden wirklich dieses besondere Drehbuch geschrieben hat - naja. Ich wäre ja "zumindestens" (Pudel Friedrich) skeptisch. Bevor es nun allerdings allzu doll in die eh schon prallgefüllte Schwachsinnskiste des Musikjournalismus (oder des Wahnsinns - was praktisch dasselbe ist) abgleitet: "Age Of Energy" ist Musik für Architekten mit Kuschelfimmel. Wie aus dem Klischeebilderbuch rausgehüpft. Nun bin ich kein Architekt, aber Kuscheln finde ich total prima.
Was sich auf das erste Anhören wie ein durchgestyltes Stahlgerüst anfühlt (sic!), ein kunstvoll drappiertes meinetwegen, aber nicht besonders einladendes oder anziehendes, ergibt bei der weiteren Auseinandersetzung eine Entwicklung in Richtung eines organischen Freejazz-Entwurfs, dem es weniger um Technik, sondern tatsächlich um Emotionen geht. Es ist der größtmögliche Kompromiss, den Chad Taylor und Rob Mazurek im fünfzehnten Jahr ihres gemeinsamen Musizierens unter dem Banner des Chicago Underground Duos eingehen mögen, und er zeigt sich, gar nicht mal so schlecht versteckt, unter den kraftvollen und ästhetisch zusammengestellten Ebenen ihrer Improvisationen, die durchweg den Weg als Ziel ausgeben ohne dabei ziellos zu sein. "Age Of Energy" balanciert auf der dünnen Linie zwischen glasklarer Anordnung von Elementen auf der einen, und der direkten Ansprache und einem euphorisierten Gefühl der Lebensfreude auf der anderen Seite. Mal geht ein Schritt daneben, aber das ist eben das Risiko, das diesen Ansatz so reizvoll macht. Womit die Analogie zum Leben an sich auch hergestellt ist.
Juli Zeh würde kotzend applaudieren.
Erschienen auf Northern Spy, 2012.
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