21.01.2013

2012 ° Platz 12 ° Portraits - Portraits



PORTRAITS - PORTRAITS

Die spirituellste und meditativste Platte des Jahres kommt von einem US-amerikanischen Musikerkollektiv, einer All-Star Band der Rauschmusik: das neunköpfige Ensemble, unter anderem besetzt mit den beiden Barn Owl Musikern Caminiti und Porras, beinahe dem kompletten Lineup der Postrocklegende Tarentel, dem Root Strata Management, Higuma und Date Palms, entwickelt in großer Intimität eine erhabene, stimmungsvolle Musik aus einem Ziehen und Dehnen von Ton und Zeit. Versunken in die Aufgabe, jeden Geisteswinkel mit musikalischer Lava zu verkleiden, walzt sich ein Strom aus Tambourinen, Gitarren, Violinen, Klarinetten, Klangschalen, sakralen Mantras und Gongs in das kollektive Gedächtnis früherer Leben.

"Portraits", mit dem Nukleus aus Instrospektion und innerer Einkehr, erdet in zerrissenen Zeiten, klärt die getrübten Sinne und erinnert daran, dass im Draußen nichts zu holen ist, wenn das Innere Ich im Auge des tosenden Sturms nichts fühlen kann. "Portraits" lässt das Selbst das Leben spüren.

Erschienen auf Important Records, 2012.

19.01.2013

2012 ° Platz 13 ° Flying Lotus - Until The Quiet Comes



FLYING LOTUS - UNTIL THE QUIET COMES

In meiner ersten Review des aktuellen FlyLo-Fiebertraums vermutete ich, dass ich "Until The Quiet Comes" noch lange nicht verstanden habe, zusammen mit der Befürchtung, dass es unklar sei, ob mir es jemals gelänge. Außerdem habe ich ob ihrer grausamen Besprechung der Platte noch die Spex gedisst, und das völlig zurecht, wie ich nochmal betonen möchte. Ich kann allerdings auch zwei Monate später nicht sagen, dass ich einen Durchbruch hatte, nicht mal einen Blinddarm- oder Magendurchbruch, aber ich kam ein gutes Stück weiter voran. Vor wenigen Wochen dachte ich sogar mal für dreieinhalb Minuten, ich hätte das Rätsel geknackt. Bis halt der nächste Beat um die Ecke kam, und dann war's auch schon wieder "perdu" (G.Polt). Wenigstens halfen die dreieinhalb Minuten dabei, "Until The Quiet Comes" in die Top 20 des Jahres zu hieven.

Flying Lotus mag mittlerweile dunkler und intimer vorgehen, er mag seine Sounds auf die massivste Großbildleinwand des Universums ausrollen, er mag die Larger-Than-Life-Schablone hinter jeder ausgebrüteten Idee zusammenschnippeln, aber ich kenne keine andere Platte aus den letzten Jahren, die einen solchen Overkill an Winkeln, Ebenen, Dimensionen,  Reichtum und sprühenden Funken präsentiert wie dieses Mammutwerk. Es ist ein Mikrokosmos im Mikrokosmos im Mikrokosmos im Mikrokosmos: jede Andeutung eines Beats ist mit dem Elektronenmiskroskop ausgewählt und strategisch platziert, jedes Zischelsample bekam den Schulterklopfer, das wichtigste Zischelsample der Welt zu sein, jeder Handklatschloop ist die Schallmauer auf dem Weg zum nächsten Level, jedes Thundercat-Bassschnarren öffnet ganze Galaxien zum nächsten Mikrokosmos. Es sind komplett lebensfähige, hochkomplexe Welten, die nur wenige Augenblicke, manchmal keine volle Sekunde, am Leben sind. Sie funkeln im Zyklus des Albums kurz auf und verglühen wieder. Du wirst keine Zufälle in der Musik von Flying Lotus finden. Selbst die Stille ist Schicksal.

Erschienen auf Warp Records, 2012.

17.01.2013

2012 ° Platz 14 ° Plankton Wat - Spirits



PLANKTON WAT - SPIRITS


Dewey Mahoods Meditationsmusik über den Pazifischen Nordwesten der USA bleibt auch am Jahresende eine der beeindruckendsten Platten 2012. Der Gitarrist (u.a. Jackie-O Motherfucker) zwirbelt schamanische Trommelrhythmen wie Seetang um Treibholz, peitscht die mal folkige, mal noisige Gitarre wie Gischt ins unrasierte Gesicht und bläst auf der Friedenspfeife den tiefsten, grummeligen Bass der Welt in das Glutnest des Lagerfeuers.

Es mag sich wirklich balla-balla anhören, aber ich sitze über die gesamte Spielzeit an der steinigen Küste Oregons und habe den nach Salz und Herbst schmeckenden Wind im Haar. Neben mir sitzt der Geist Alice Coltranes, vier Meter über dem Erdboden schwebend. Der nächste Mensch ist meilenweit entfernt. Keine Zivilisation. Alles was ich habe sind meine Gedanken, die Reflektion des Ichs und die schaurig-schöne Illusion, dass ich wieder ein Stückchen mehr zu mir selbst gefunden habe.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2012.

12.01.2013

2012 ° Platz 15 ° Evan Caminiti - Night Dust



EVAN CAMINITI - NIGHT DUST

Ginge es hier um die Bewertung von Artworks, "Night Dust" fände sich locker in den Top 3 des Jahres wieder. Das aufklappbare Cover aus dickem Karton ist an Schönheit kaum zu übertreffen, und die Musik von der einen Hälfte des Barn Owl Duos steht dem in nichts nach. Als ich 2012 in Gedanken Revue passieren ließ, fiel mir auf, dass ich (i) viel unterschiedliche Musik viel mehr den unterschiedlichen Lebensphasen anpasste als früher und (ii) vor allem in den Zeiten, in denen ich fast nichts anderes hören konnte als ätherisches Rauschen und Dröhnen, von der Bildhaftigkeit so macher Platte und der Fokussierung derselben auf die Natur sehr beeindruckt war. 

"Night Dust" ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme, denn was Caminiti hier erbaut, ist so räumlich und greifbar, als könnten die Finger den Klang ertasten. "Night Dust" ist ein Kaleidoskop granularer Natur, perfekt in der Detailtiefe, perfekt in blanker Schönheit, inklusive Überlebenswille und Demut. Geometrische Figuren der Freiheit, des tosenden Winds, des um sich schlagendes Meeres, der aufbegehrenden Flügelschläge eines Kondors vor der rauhen Küste Schottlands. Es gibt keine Kondore vor der Küste Schottlands, aber wenn Du "Night Dust" gehört hast, gründest Du eine Organisation, die sich für den Erhalt von Kondoren vor der Küste Schottlands einsetzt.

Erschienen auf Immune, 2012.


Anmerkung des Autors: schlimmen der beinhaltete einen Satzbau ursprüngliche ganz Text. Ich bitten aufrichtigst um Entschuldigungs, wenn wir Lesevergnügen dadurch Schädeln nehmte. 

09.01.2013

2012 ° Platz 16 ° Minus The Bear - Infinity Overhead



MINUS THE BEAR - INFINITY OVERHEAD

Beim Betrachten der reinen Platzierung könnte man durchaus der Meinung sein, das Quartett aus Seattle habe mit "Infinity Overhead" einen bösen Absturz hinnehmen müssen. Vor zwei Jahren landete der Vorgänger "Omni" noch auf Platz 4 meiner Jahrescharts, und das sogar vor dem Hintergrund einer schwierigen Ausgangssituation - von "Omni" wollte ich nämlich zunächst mal gar nichts wissen, ich war mit "Menos El Oso" und "Highly Refined Pirates" bestens bedient und ausgelastet. Vielleicht machte auch die böse Erwartungshaltung einen Strich durch die 2012er Rechnung, denn nach dem immer noch fantastischen "Omni" hatte ich wieder brodelnde Leidenschaft für die Band in der Unterhose und hoffte, dass mich "Infinity Overhead" mindestens ebenso wuschig machen konnte. Um das Trauerspiel mit viel zu langen Einleitungen abzukürzen: "Infinity Overhead" macht mich tatsächlich ziemlich wuschig, aber der Schlüpper hat sich mittlerweile eine Klimaanlage geleistet und reguliert meine eben noch glühende Euphorie auf das grundsolide Niveau der Checker-Abgeklärtheit herunter. Ach, und dann ist's auch wieder Quatsch: "Infinity Overhead" ist eine großartige Platte mit großartigen Songs und fast noch großartigeren Hooklines geworden. Die Band spielt nachwievor in ihrer ganz eigenen Liga, und ich habe angesichts von Übersongs wie "Diamond Lightning", "Cold Company", "Toska" oder "Heaven Is A Ghost Town" den Herbst weitgehend knieend vor den Lautsprechern verbracht. Was mich einzig noch irritiert: auch wenn Minus The Bear das auf "Omni" begonnene Ausmisten von überflüssigen Spielereien noch weiter getrieben haben, die Strukturen sind noch klarer, die Arrangements noch straffer, wurden weder Eingängigkeit noch Hit-Appeal hinzugewonnen. Das denkt zumindest der Kopf. Der Fuß wippt und das "Herz weitet sich zu einem saftigen Steak"(H.Schneider). Fuß und Herz gewinnen.

Erschienen auf Dangerbird Records, 2012.

07.01.2013

2012 ° Platz 17 ° Robert Glasper Experiment - Black Radio



ROBERT GLASPER EXPERIMENT - BLACK RADIO


"Black Radio" war 2012 nicht nur Stammgast in dem mittlerweile legendären Plattenstapel vor der Anlage, sondern auch auf dem Plattenteller. Auch wenn Freund Jens mich vorwarnte, dass ich bei der Coverversion von "Smells Like Teen Spirit" wohl mit gerissener Halsschlagader in die Lautsprecher klettern würde, hinterlässt die Musik dieses von Glasper zusammengestellten Kollektivs nichts als ein zufriedenes Lächeln auf meinem Gesicht. Der Fluss dieses extrasanften Fonds aus Jazz, Hip Hop und Soul ist hochgradig infektiös: immer, wenn ich "Black Radio" auflegte, hörte ich es von Anfang bis Ende durch und es wurde fast zu einem Ritual, sich auf die gute Stunde voller Ohren- und Seelenschmeichler einzulassen. Der 34-jährige Pianist aus Texas hält dabei zu jeder Zeit die zusammenlaufenden Fäden von Gaststars wie Erykah Badu, Lalah Hataway, Lupe Fiasco, Mos Def und Bilal dicht an der Komposition und thront über dem Vibe jeder gespielten Note. Ich verbrachte einige wunderbare Abend- und Nachtstunden im Sommer des Jahres mit seiner nokturnen und doch strahlenden Musik. Und sogar "Smells Like Teen Spirit" ist, zu meiner eigenen Überraschung, kein Grund für einen mittelschweren Tobsuchtanfall. Eher schon der Pressfehler auf der D-Seite, der die Nadel zum zweimaligen Hüpfen zwingt. Sowas muss doch nicht sein, Blue Note.

Erschienen auf Blue Note, 2012.

06.01.2013

2012 ° Platz 18 ° Kleefstra, Bakker, Kleefstra - Griis



KLEEFSTRA, BAKKER, KLEEFSTRA - GRIIS


Bereits im April habe ich "Griis" lobend erwähnt, es verwundert daher nur ein kleines bisschen, dass meine Begeisterung bis in den Dezember hinein getragen wurde. Zugegeben, das zweite Album der Brüder Jan & Romke Kleefstra zusammen mit Anne-Chris Bakker entpuppte sich als kleiner Wackelkandidat für die besten zwanzig Platten des Jahres, bei der neuerlichen Auseinandersetzung vor wenigen Wochen war die Sache aber glasklar: an "Griis" komme ich nicht vorbei. Besonders faszinierend sind die prachtvollen Bilder, die sich beim Hören des Werks Schicht für Schicht aufbauen und die am Ende, als großes Ganzes, eine Geschichte über das Leben erzählen können. Es ist eine große Klarheit, und gleichzeitig eine undurchdringliche Tiefe und Mehrdimensionalität in diesem Leben. Sehr intim und pointiert, lässt "Griis" das innere Auge über einen weiten Horizont blicken, über einen Ozean voller wilder Rohheit, voller Schönheit und Zerbrechlichkeit. Die gesprochenen Gedichte von Jan Kleefstra vermitteln ein geradewegs karges Gegengewicht zu dieser musikalischen Opulenz, was schlussendlich dazu führt, dass die Verbindung mit dieser Musik noch intensiver zu werden scheint. Eine bemerkenswerte Platte.

Erschienen auf Low Point, 2012.

04.01.2013

2012 ° Platz 19 ° THEESatisfaction - awE naturalE



THEESATISFACTION - AWE NATURALE


Aus dem Dunstkreis der experimentellen Hip Hop Combo Shabazz Palaces kommen Theesatisfaction, die auf dem letztjährigen "Black Up" bereits einige Vocallines beisteuerten und sich mit ihren originellen Stimmen und Melodien bestens in das windschiefe, avantgardistische Gerüst des Albums einpassten. "Awe Naturale" ist damit der zweite Versuch Sub Pops, das Labelportfolio auf etwas breitere Genrefüße zu stellen und ich habe nichts dagegen, wenn das auf diesem Niveau weitergeht: "Awe Naturale" ist ein sehr kurzweiliges, cooles Album geworden, das Komplexität, Humor und Anspruch über die Suche nach einem Kopfnicker-Hit stellt. Catherine Harris-White und Stasia Irons sind auf ihrem offiziellen Debut weniger mit Hip Hop als mit Soul, R'n'B, Groove und Jazz liiert, sie werfen Afrobeats-Blitze, zischen in einem Raumschiff durch die letzten acht oder achthundert Jahrzehnte schwarzer Musik und landen auf einer unprätentiösen, slackigen Backpacker-Wolke. In "Needs" fliegen mir sogar die Titel der großen Grace Jones-Alben aus den achtziger Jahren um die Ohren. Das klingt lässig und gleichzeitig ist es bis ins letzte Beat'n'Samplegewürm durchdacht und sorgfältig arrangiert. Ich bin sehr darauf gespannt, wo das mit den beiden noch alles hinführen mag.

Erschienen auf Sub Pop, 2012.

03.01.2013

2012 ° Platz 20 ° Bvdub - Serenity



BVDUB - SERENITY

Der Last Minute-Gewinner des Jahres 2012 kommt von einem Mann, für den ich ursprünglich die ersten Plätze der nächsten zwanzig Jahre reserviert hatte: Brock van Wey, der in China lebende Kalifornier, hat bereits Ende 2011 damit begonnen, seinen Sound mit größeren Schritten weiterzuentwickeln, als ich es zunächst für möglich gehalten hätte. Nachdem er den Tod seines Vaters mit dem Album "I Remember" verarbeitete, öffnete der scheue, ernste Tüftler ein paar Türen zu den Rhythmusgeräten. Erstes Ergebnis war das "Resistance Is Beautiful"-Album, das sich im Vergleich zu den vier vorangegangenen Werken deutlich beatlastiger und luftiger präsentierte. Im Jahr 2012 sollte es in diese Richtung weitergehen; "Serenity" ist eines von insgesamt fünf Alben, die van Wey im abgelaufenen Jahr veröffentlichte - und es ist gleichzeitig sein Bestes. Seinem nachwievor traumwandlerischen Spiel mit Sound, Ästhetik und einnehmender Melancholie, verleiht er mit einer voranstreitenden Fokussierung auf Rhythmus neue Facetten, mehr Licht und mehr Luft. Meine anfänglichen Befürchtungen, Brock könnte damit die für mich falsche Abfahrt genommen haben, zerschlugen sich in der Zwischenzeit: er ist nachwievor einer der ganz großen, wichtigen Produzenten und ich bleibe weiterhin überzeugter Fan seiner Kunst.

Erschienen auf Darla Records, 2012.

31.12.2012

Zweitausendzwölf in Musik




ZWEITAUSENDZWÖLF IN MUSIK
oder: wie sich einer das alles ganz anders vorgestellt hat


Es hätte alles total schön werden können: eine Handvoll freie Tage warteten darauf, mit Musik, Geblogge und Gegammel vollgestopft zu werden, ich war Feuer und Flamme den alljährlichen Top 20-Countdown zu starten, und Silvester sollte wie eh und je ein fröhliches und ausgelassenes Fest mit der Herzallerliebsten und unserem Kleintierzoo werden. Einen Tag vor Heiligabend wartete dann das Fieberthermometer mit weit ausgebreiteten Armen auf mich und ich nahm die Einladung dankend an: keine Musik, kein Geblogge, kein Gegammel, stattdessen gab es 39°C Fieber, Hustenanfälle, Schüttelfrost, circa je 25 durchgeschwitzte Shirts und Hosen und 5 durchgeschwitzte Bettgarnituren. Ich kann's also wirklich wärmstens empfehlen, beziehungsweise eben gar nicht.

Wenigstens zum heutigen Silvesterabend bin ich aber fieberfrei und auch, wenn ich mich fühle, als hätte mich Godzilla persönlich ausgekotzt: es geht wieder bergauf. Sogar der Plattenteller dreht sich wieder.

Da mein Hirn für einen halbwegs geraden Satzbau und nicht ganz so bescheuerte Formulierungen noch nicht auf Normaltemperatur angekommen ist, startet der Top 20 Countdown des Jahres 2012 also mit ein wenig Verspätung in den kommenden Tagen.

Ich wünsche Euch allen ein friedliches und gesundes neues Jahr 2013.

Vielen Dank für's Lesen, "It's appreciated"(Geddy Lee).

Euer Fiffy

16.12.2012

We Are Warrior Soul. We Are The Government - VIII



Nachdem das klassische Warrior Soul Lineup nach der Veröffentlichung von "Classics" zum zweiten Mal auseinanderbrach, war das erste Lebenszeichen von Stehaufmännchen Kory Clarke sein obskures, drogenvernebeltes "Opium Hotel"-Album aus dem Jahr 2003, das ich an anderer Stelle dieses Blogs schonmal mehr oder minder ausführlich vorstellte. Zwei Jahre später schloss er sich den Redneckrockern von Dirty Rig an, hatte große Pläne, nahm ein unterdurchschnittliches Album mit ihnen auf - und verschwand wieder. Mit dem mittlerweile verstorbenen Bassisten Paul Raven (Killing Joke, Prong), Mark Gemini Thwaite und Nick Lucero arbeitete er 2007 an der Projektband Mob Research, deren Platte "Holy City Zoo" wie ein vergessenes Industrialrelikt aus den neunziger Jahren klingt. 2008 ersetzte er überraschenderweise Sänger Eric Wagener bei den Christendoomern von Trouble und nahm vier Jahre später mit einer geradewegs herausgekotzten Hasstirade gegen die (danach definitiv) ehemaligen Bandkollegen wieder seinen Hut. Die Liste erscheint endlos. Und das hier Aufgeführte ist nur eine Auswahl.

Nun könnte man angesichts der überwiegend kurzlebigen übrigen Engagements Clarkes rückblickend ja durchaus auf den Gedanken kommen, dass mit dem Mann nicht gut Kirschen essen ist, was ich übrigens ohne mit der Wimper zu zucken unterschreibe: Drogen und Alkohol, gemischt mit Verbitterung, Egozentrik, einem Hauch Größenwahn und den offensichtlich unüberwindbaren Drang, sein Gesicht mit Karacho in jede sich irgendwo herumtreibende Faust laufen zu lassen, um danach einen Song darüber schreiben zu können, üben auch auf mich keine überragende Anziehungskraft aus. Und um das zu wissen, muss ich mir mit Kory keine Wohnung und keinen Bandbus teilen. Bei aller völlig zweifelsfrei nachweisbarer Vollverblendung meinerseits, habe ich dennoch von Zeit zu Zeit die Differenzierungsbrille auf. Nicht dass mir noch jemand mangelnde Professionalität vorwirft. Das wäre ja wirklich...schlimm.

Was ich eigentlich sagen wollte: ein bisschen ernst wurde es für Warrior Soul Fans um das Jahr 2006/2007 herum. Clarke remasterte die ersten fünf Soul-Alben und warf sie mit einer Handvoll Livebonustracks, allesamt wie bestellt in unterirdischer Soundqualität, auf den Markt. In meinem Interview (von dem ich übrigens dachte, ich könnte es hier als Gimmick nochmal posten, aber ich bekam Schüttelfrost beim Lesen, also lass ich das schön bleiben, sonst wirft man mir noch Professionalität vor und das wäre ja wirklich...furchtbar) erzählte Kory davon, wie er Anfang 2002 Warrior Soul wieder zusammenbringen wollte, disste wegen des Scheiterns nochmal seinen alten Buddy Johnny Ricco ("And he fucked it up. Und weißt du auch warum? Weil er ein Idiot ist!" - Soll ich das wirklich schreiben, Kory? -"Natürlich! Natürlich sollst Du das schreiben!") und ein halbes Jahr nach unserem Telefonat war es dann soweit: Kory Clarke hat Warrior Soul reformiert. Mit irgendwelchen Schweden. Oder Portugiesen. Oder Schotten. Oder Fozzy Bär. Damit waren bei mir die, haha, Schotten dicht: der holt doch bitte Pete und Ricco zurück und sucht sich einen geilen Drummer, aber er macht doch nicht so eine halbsteife und peinliche Warrior Soul Coverband auf?! Nicht mit mir.



WARRIOR SOUL - LIVE IN ENGLAND

Die Liveplatte "Live In England" bestätigte zunächst all meine Befüchtungen, auch wenn ich fairerweise sagen muss, dass meine Erwartungen natürlich strunzdoof überzogen und völlig realitätsfern waren. Ich war auf diese Inkarnation der Lieblingsband einfach nicht mal im Ansatz vorbereitet. Nicht nur, dass Clarke stimmlich mittlerweile wie ein grippegeschwächter Motörhead-Lemmy klang, was insbesondere die schwierig zu singenden "Space Age Playboys" songs zum mittelschweren Debakel werden ließ, auch die Begleitband reichte zu keinem Zeitpunkt an die Qualitäten des klassischen Lineups heran. Darüberhinaus war der Sound zu gleichen Teilen verwaschen und staubtrocken, womit es einfach überhaupt keinen Spaß machte, sich das alles anzuhören. Zum Schönhören hat's auch nicht gereicht. Zu was es allerdings taugte: Warrior Soul waren zunächst mal wieder zurück. Ich hatte das Signal verstanden - ob ich das allerdings wirklich wollte, stand und steht auf einem anderen Blatt.





WARRIOR SOUL - DESTROY THE WAR MACHINE

Mit der semiguten Livescheibe im Hinterkopf (nicht wörtlich nehmen, bitte) konnte die Ankündigung über ein neues Studioalbum nicht allzu viel Eindruck bei mir hinterlassen. Trotzdem: ich kann aus meiner Fan-Haut nicht heraus, also musste ich das Album in der ursprünglichen "Chinese Democracy"-Version natürlich vorab und direkt bei der Band bestellen. Ich sollte es nicht bereuen. "Destroy The War Machine" ist ein durch und durch echtes Warrior Soul Album, und es ist ein großartiges noch dazu. Wütend protestierende Punkmonster mit unerhörtem Drive wie "Fuck The Pigs", "Motor City" und das überragende "(Bad News) Rock'n'Roll Boyfriend" stehen neben an alte Klassiker erinnernde, mit leicht psychedelischer Note gewürzten Atmosphärentracks "The Fourth Reich" und "Never Believe". Qualitativ ist das bis auf die beiden guten, aber etwas banalen Rocker "Burning Bridges" und "She's Glaswegian", auch Dank des drückenden, lauten und breitbeinigen Schnauzbartsounds, auf überraschend hohem Niveau. "Destroy The War Machine" reiht sich formvollendet in die frühen Alben der Band ein und ich bin insgeheim selbst heute noch baff, wie sie das hinbekommen haben.

(HIER geht's übrigens zum damaligen Post über das Album)



WARRIOR SOUL - STIFF MIDDLE FINGER

Der Fluch eines guten Albums: der Nachfolger wird daran gemessen und die Erwartungen wachsen in fast unerreichbare Höhen. Ich habe "Stiff Middle Finger" vor wenigen Wochen, und das passiert hier sehr selten, ziemlich verrissen, und ich kann nicht sagen, dass ich meinen damaligen Worten etwas hinzufügen kann. Selbst mit der allerallerrosafarbensten Fanbrille bleibt das Album in der allerallerpositivsten Betrachtung weit unter Durchschnitt - und von den Erwartungen wollen wir gar nicht reden. Dabei ist "Stiff Middle Finger" exakt die Platte, die ich eigentlich an Stelle von "Destroy The War Machine" vermutet hatte: ein Abziehbild der alten, eigenen Größe und erstmals mit dem bitteren Beigeschmack, dass hier einer die Kurve nicht mehr bekommen hat. So wie das eben bei neun von zehn Reunions läuft.

Und damit schließt sich dann doch wieder der Kreis zum Eingangsposting dieser Warrior Soul-Reihe: Reunions können mich mal. Ausnahmen bestätigen, wie immer, nur die Regel.



Und jetzt bereiten wir uns alle mal schön auf das alljährliche Ritual der Jahresbestenliste vor. Es gibt noch ein bisschen was zu tun.

Wir lesen uns.

13.12.2012

We Are Warrior Soul. We Are The Government - VII



WARRIOR SOUL - CLASSICS


"Die Frage, ob ein einmal gefasster, prinzipieller Beschluss, in jeder konkreten Situation eingehalten werden kann, muss differenziert betrachtet werden."(Gerhard Schröder)

Ich habe sicherlich schon hunderte, ach was: tausende Male, wenn nicht gar vier Mal auf diesem Blog erwähnt, das mir Reunions ziemlich grundlegend schön den Schuh aufblasen können, aber manchmal mach' ich Euch auch gerne den Schröder und sage "Es geht um Arbeitsplätze!", beziehungsweise "Ja scheißrein, warum eigentlich nicht?". Gute vier Jahre hatte ich mich von der Annahme ärgern lassen, ich käme niemals auf ein Warrior Soul Konzert und könnte also niemals diese meine Lieblingssongs live hören. Niemals meinen Helden in Lebensgröße sehen. Und plötzlich schreibt Ende 1999 einer "Warrior Soul! Reunion!" ins noch fast finstere Internet. Es war wie im Märchen.

"Classics" ist eine seltsame, wenn auch immerhin passend betitelte Platte. Ich mag sie und sie ist mir wichtig, weil ich spätestens hier der Band zuliebe selbst von der Aussichtsplattform eines Wolkenkratzers oder wenigstens einer Gartenlaube gehopst wäre - tatsächlich ist sie sogar dafür verantwortlich, dass ich endlich "Chill Pill" verstand. Als ich "Classics" tage-, wochen- und monatelang aufsaugte, war alles Euphorie: ich konnte kurz zuvor alte Fesseln sprengen, ich war frisch in meine Seelenverwandte verliebt, ich hatte meine erste eigene Wohnung und ich lebte, genau: von in Butter geschwenkten Nudeln, Reibekäse, Instant-Eistee und der ein oder anderen lustigen Schokotorte. An dieser Stelle Glückwunsch für den "Das habe ich doch schonmal irgendwo gelesen?!"-Gedanken, der sich gerade hinter Deiner Stirn auf den weiten Weg in Deine Augenbrauen begibt. Ich war derart außer Rand und Band, dass ich die vor meiner Wohnung herumfrömmelnde Fronleichnamsprozession mit der Warrior Soul Hymne "Let's Get Wasted", aus dem Fenster gehaltenen Lautsprechern und einem Lautstärkepegel von circa 8,3 Millionen störte, und das damals für eine total gute Idee hielt. Ehrlich gesagt halte ich es selbst heute noch für eine total gute Idee. Und wenn kein Geld aufzutreiben war, und Geld war praktisch nie aufzutreiben, durchwühlte ich die Hosen und Jacken nach vergessenen Reichtümern, und wenn ich tatsächlich mal einen 10 Mark-Schein fand, kaufte ich davon nicht etwa behutsam und bedacht beim Billig-Lidl die notwendigsten Lebensmittel und vielleicht eine Rolle Klopapier ein, nein, ich flanierte wie Graf Koks über die Straße und kaufte für 9 Euro eine Jumbopizza mit Safran oder Spinat oder Saumagen drauf. Heute lacht man drüber, aber das schönste ist: damals habe ich auch schon gelacht. Und jetzt bin ich "abgeschwiffen" (Priol).

Die Band hatte sich also im Original-Lineup Clarke, Ricco, McClanahan und Evans wieder zusammengerauft und auch wenn man schon beim ersten Gedanken an diese Konstellation den Glauben hätte aufgeben können, wenn nicht müssen, dass dieser Irrsinn von vier Irrsinnigen auf keinen Fall gutgehen kann, und lange schon gleich gar nicht, hatte "Classics" eine Handvoll Argumente zum Aufhorchen anzubieten. Die Band packte keine Sammlung der bekannten Großtaten ihrer alten Platten zusammen, sondern spielte die bekannten Großtaten ihrer alten Platten nochmal komplett neu ein. Nahezu originalgetreu hinsichtlich der Arrangements, aber im Klang natürlich schwer auf die dicke Hose setzend. Oder das, was im Jahr 2000 und mit einem Kindergeburtstagsbudget eben die dicke Hose war. Kämpfte man damals eigentlich schon den "Loudness War"? "Classics" ist der Beweis: Ja. Tat man.

Jetzt könnte ich natürlich frohlocken und sagen "Oh super, endlich gibt's den ganzen alten Scheiß mit moderner und fetter Produktion!", ich könnte allerdings auch sagen, dass im direkten Vergleich mit den ersten vier Platten (warum's keine fünf sind, erkläre ich gleich) der Sound von "Classics" gnadenlos gegen die Wand rauscht. Das fällt einem nicht so stark bis überhaupt nicht auf, wenn das Pendant der Originalproduktion fehlt, aber im direkten Vergleich mit den Frühwerken klingt "Classics" blechern, hohl und dare I say it: dünn. Eine Spur größer wird das Problem allerdings im Zusammenspiel mit den Songs. Der Schwerpunkt der Titelauswahl liegt auf den punkigen, dreckigen, geradlinigen Rockern wie "Downtown", "The Wasteland", "Punk & Belligerent" oder "Superpower Dreamland" und dazu passt der rauhe und unprätentiöse Charme des Sounds durchaus. Geteilter Meinung darf man bei jenen Tracks sein, die im Original von ihrer Stimmung und Atmosphäre leben, von vernebelten, komplexen, ja beinahe klaustrosophischen Elementen, die die dargestellte Trostlosigkeit spielend leicht veranschaulichen. Es fällt einem wie Rosinen vom Hefeteigklumpen wie vielschichtig und mit welcherm Weitblick die alten Alben produziert wurden. "Song In Your Mind" und der Hidden Track "Blown" sind Beispiele, die verdeutlichen, wieviel hier abseits der Lautstärke auf der Strecke bleibt.

Des Weiteren beinhaltet "Classics" einen Umstand, der zu den großen Mysterien dieser Band gehört. Ich schrub weiter oben von den ersten vier Alben, nicht derer fünf - denn obwohl es Songs von "Space Age Playboys" zu hören gibt, blieben sie in der Originalfassung bestehen. Ich frage mich seit 12 Jahren, warum "The Drug", "Let's Get Wasted", "Rotten Soul" und "I Wanna Get Some" unangetastet blieben, und auch wenn es wirklich wichtigere Fragen gäbe - "Warum gibt's die SPD noch?" und "Heißt der Mann im Mond wirklich Karl Napp?": es macht mich kirre. Wollten Evans und Ricco sie nicht spielen? Konnten sie sie nicht spielen? Haben sie es versucht und es klang gar nicht mal so gut? Wollte Clarke nicht? Oder war man gar der Auffassung, dass sie mit dem "Classics" Sound nicht funktionieren würden? Ich hätte Clarke bei meinem Interview mit ihm im Jahr 2006 natürlich fragen können. Aber hey! Viel zu einfach.

Ein knappes Jahr später waren Warrior Soul zum zweiten Mal Geschichte. Nach einem vielumjubelten Gig im Londoner Astoria im Jahr 2000 und dem Release von "Classics" war es schon wieder vorbei. Für die nächsten sieben Jahre.

"The words and music will always be forward-thinking and the concepts modern and rebellious in their stance against hypocrisy and tyranny."(Kory Clarke)

Erschienen auf Dream Catcher, 2000.


09.12.2012

We Are Warrior Soul. We Are The Government - VI



WARRIOR SOUL - FUCKER

The band that fought America, fought the system... and ultimately lost.

Zusammenstellungen von Demos und Outtakes üben auf mich eine ähnlich große Faszination aus wie ein ausgiebiges Wellness-Bad im Klärschlammbecken von Lagos, und "unter strengen Maßstäben" (Wolfgang Schäuble) kann die Relevanz von "Fucker" mit drei hingerotzten Sätzen locker wegargumentiert werden - das funktioniert allerdings nur solange man sich mit den 17 (+ 2 Hidden Tracks) Stücken dieser Platte nicht auseinandergesetzt hat. Ich prognostiziere, dass selbst die größeren Skeptiker unter meinen Lesern nach dem Drücken der Wiedergabetaste nur schwerlich den Weg zu den ursprünglichen Ansichten wiederfinden können. Ja, "Fucker" (in den USA übrigens unter dem Titel "Odds And Ends" und mit anderem Artwork erschienen) liefert nur Demos und Outtakes aus unterschiedlichen Recordings-Sessions der Band, und ja, der Sound ist angesichts der rohen 8-, 16- und 24-Spur Aufnahmen zu keiner Sekunde einem offiziellen Warrior Soul Studioalbum auch nur im Ansatz ebenbürtig, aber - und natürlich musste an dieser Stelle ein "aber" kommen: es sind die immer noch und immer wieder fantastischen Songs, die mir bei jedem Hören die Kinnlade heruntersausen lassen.

Anhänger des "Space Age Playboys" Line-Ups dürfen sich beispielsweise über sechs "neue" Songs freuen und dabei zwei alte Bekannte entdecken: das hier vertretene "Punk Rock'n'Roll" wurde später zum Hit "Rotten Soul" und "5 Ways To The Gutter" transformierte sich zur späteren "I Wanna Get Some"-Single. "My Sky" und "Makin' It Holy" klingen nicht nur verdächtig nach den sagenumwobenen "Chill Pill"-Sessions - von Clarke mit den Worten "our most enjoyable sessions ever and some of the band's brightest moments" geadelt - sie wurden tatsächlich zu jener Zeit, also im Januar und Februar 1993 geschrieben . Besonders "Makin' It Holy" ist ein absolutes Highlight der Bandkarriere. Diese Atmosphäre, großer Gott. Außerdem anbetungswürdig: die heruntergedimmte Akustiknummer "American", die umwerfende Halbballade "Kiss Me" (könnte das Rennen gegen "The Fallen" und "The Golden Shore" für das 1992er "Salutations From The Ghetto Nation" verloren haben), das postpunkige "Raised On Riots" (vermutlich ursprünglich für "Drugs, God & The New Republic" geschrieben) und der verlorengegangene Titelsong des Debuts, der auf "Fucker" erstmalig veröffentlicht wurde, weil er laut Clarke nie so richtig auf ein Album gepasst hätte. Ich möchte andererseits nicht verschweigen, dass auch offensichtlich unfertiges und leicht orientierungsloses Material wie "Can't Fix A Broken Heart" oder "Come To Me" den Weg auf "Fucker" fanden. Und trotzdem: was wäre wohl aus diesen Songs geworden, wären sie  im Studio ausgearbeitet worden?

Wir werden es nicht mehr erfahren, denn an dieser Stelle war also das Kapitel Warrior Soul fürs Erste beendet. Kory Clarke sollte in den kommenden Jahren die durchwachsene Glamrock-Combo Space Age Playboys gründen, während sich die Wege von John Ricco, Mark Evans und Pete McClanahan schon einige Jahre früher trennten. Was aus den beiden Gitarristen und dem Drummer des letzten Warrior Soul Line-Ups wurde, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Gitarrist Alexander Arundel aka "X-Factor" soll sich angeblich in Nashville niedergelassen haben, aber er ist nach meinen Informationen musikalisch nicht mehr in Erscheinung getreten. Ich freue mich in diesem Fall allerdings über Belehrungen. Ich bin Fan. Bring it on.

Bis zum Jahr 2000 herrschte also Funkstille. Was dann passierte, lest ihr hier im nächsten Eintrag.

Erschienen auf Music For Nations, 1996.





P.S.: Schöner Youtube-Kommentar übrigens:
"Sounds like it was written yesterday. We should have listened. Oh, wait, I? did!!! Best band, all centuries"