15.02.2021

Best of 2020 ° Platz 15 ° bvdub - Ten Times The World Lied



BVDUB - TEN TIMES THE WORLD LIED

It's been so long, it's been so long
(June Of 44)


Mit "Ten Times The World Lied" geht es für knapp 80 Minuten in einen emotionalen Floating Tank. Alle Stressattacken, der Kampf mit der Schwerkraft, Reize wie Temperatur, Lärm und Licht sind perdu. 

In einem Meer aus Ideen und Gefühlen in seiner Musik sind es die außergewöhnlichen kreativen Erfindungen Brock van Weys, die seine Kunst manchmal in einen Bereich katapultieren können, in dem selbst für die ganz Großen die Luft ganz allmählich dünn wird. Das herzzerreißend Sakrale von "The Art Of Dying Alone", die Wucht und Dringlichkeit von "Home", die Selbstisolierung von "Heartless" oder die insomnische Bedrücktheit von "Nights Of Nine Vigils", sowieso eines seiner besten Alben in den letzten zehn Jahren; ein absoluter Skandal, dass ich bislang noch nichts darüber geschrieben habe, brachten mich oft beinahe um den Verstand, ließen mich fliegen, lachen, weinen, frösteln, beben. 

"Ten Times The World Lied" hat sich in über das vergangene Jahr an diese Gruppe angenähert: seit April hat es den CD-Wechsler nicht mehr verlassen und immer, wenn ich das Album hörte, ging mir die Ambiance dieser zehn Tracks ein Stückchen mehr unter die Haut. Mal scharf und grobkörnig verzerrt, mal vernebelt in tiefer Trauer, zaudernd, zweifelnd, auch elegischer als zuletzt, spiegelt dieser immer noch so unnachahmliche Klang mein Inneres, all diese Zerwürfnisse und all diese Verbundenheit, meine Ambivalenz zwischen tief empfundener Lebenslust und sinist'rer Agonie, wie vielleicht nichts anderes. 

Und mit jedem in Schwermut getränkten Pinselstrich erscheint ein Glitzern: die Hoffnung, der Glaube, die Liebe. 

"This album was recorded live in one take, over ten months, on the tenth of each month. Each in memory of a time the world lied." (bvdub)


 



Erschienen auf Glacial Movements, 2020.



13.02.2021

Best of 2020 ° Platz 16 ° Ignacio Tardieu - Shadow Dancer



IGNACIO TARDIEU - SHADOW DANCER

The flat earth society is meeting here today
Singing happy little lies
(Bad Religion)


Dieser aurale Zaubertrank führt Dich in ein unterirdisches Labyrinth mit 52°C Kerntemperatur und einer Luftfeuchtigkeit von 340%. Hypnose. Dunst. Freiheit. Sex. Der Bass schon beim ersten Schritt so tief, das Zwerchfell wird zum Trampolin. Die Orientierung ist außer Funktion. Roter Alarm. 

"Shadow Dancer" ist ein geheimnisvoller Ort. Ebene um Ebene verschluckt es jeden in dieser kilometertief in die Erde gebauten Welt, saugt alles ein, lässt nichts mehr los. Freaks huschen durch schmale, nur von einzelnen Fackeln schwach illuminierten Gänge, es riecht nach verbranntem Holz. An den aufgerauten, porösen Steinwänden flackern tanzende Schatten. Vielleicht schanzen auch tackernde Flatten. Ihre Körper sind unsichtbar, nur ihre Silhouetten bewegen sich zu den tribal-artigen, nie enden wollenden Schlägen und Rhythmen. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich...

...die Welt ist weit weg. Tageslicht hat hier unten niemand gesehen. Schon seit Wochen nicht. Oder waren es Jahre?

BANDCAMP


 


Erschienen auf Odrex Music, 2020. 

07.02.2021

Best of 2020 ° Platz 17 ° nthng - Hypnotherapy




NTHNG - HYPNOTHERAPY

So I'ma build a bunker now
In the underground, surviving with that other sound
(Oddisee)


Techno hat's unter Corona vielleicht so hart getroffen wie kein anderes Genre, denn das, was unter normalen Umständen in den Clubs dieser Welt gespielt wird, ist auch genau für diesen Ort produziert worden. Elektronische Tanzmusik ist zum, Achtung, festhalten: Tanzen gemacht, im besten Fall in einer Gemeinschaft, in einem dunklen, heißen, feuchten Raum; die Hände zum Himmel, Koks von der Klobrille, Herpes vom Mojito, geiles Leben, Feierei. Aber was macht man eigentlich mit Techno, wenn niemand mehr tanzt? 

Na logo: man verwächst zu Hause mit der Couch, baut sich ein Rohrpost-System zum Kühlschrank und legt das ungeliebte Techno-Album auf. Autoren-Techno. Prätentiöser Kackmist, wer will sowas denn hören? Elfmeter ohne Tormann: sicherlich sehr viel mehr, wenn es denn nur mehr richtig gute Platten gäbe. 

nthng kann es jedenfalls. Hat er 2015 mit dem Debut "It Never Ends" auf Lobster Theremin bewiesen, einem konzeptionell überraschend stringent arrangierten, motivischen Album. Seitdem gab es vom niederländischen DJ und Produzenten eine Handvoll 12-Inches (u.a. auf Mörk und Delsin) und nun im Corona-Scheißjahr 2020 mit einem extrem miesen Timing die zweite Sammlung "Hypnotherapy". Eine Tour zum Album kann man sich schön in die Haare schmieren, hinzu kam ein Leak bereits Wochen vor dem offiziellen Release. Wie's so geht? NA, EXZELLENT!

"Hypnotherapy" lebt weniger vom Konzept, ich mag darüber hinaus bezweifeln, dass es überhaupt eines gab, als von erstens: einer unglaublichen stilistischen Bandbreite, zweitens: sehr, sehr starken Einzelsongs und drittens einer über dieser Platte schwebenden Leichtigkeit und Freiheit. Und wenn drittens das Konzept ist: bon, approuvé!

Vom luftigen, von skurrilen "Many Men (Wish Death)"-Sprachsamples durchzogenen und damit die Atmosphäre brechenden Ambient-Einstieg "50 Flower" über Trance-Strahlemänner wie den absoluten Höhepunkt "Heifft" mit seinem halsbrecherischem Tempo, straighten Hits wie "I Just Am" (mit Whitney Houston-Sample) und dem funkelnden "Spirit Of Ecstasy" oder den New Age streifenden Titeltrack mit flächig-bebendem Finale bis hin zum Ambient in "Beautiful Love" und dem weich und entrückt wegdämmernden Abschluss "With You" hat das Album durchgängig Stil, Eleganz und Klasse. Jeder Track ein Hit - und alles funktioniert bestens in den eigenen vier Wänden. 

Liegend - oder zappelnd.

--

Pressung: Vielleicht die ärgerlichste Pressung des Jahres 2020. Die beiden großartigen, subtilen Ambienttracks "Beautiful Love" und ganz besonders "With You" sind ohne Tobsuchtsanfall praktisch nicht zu hören. Ich weiß nicht, wie es mit der schwarzen Vinylversion ausschaut, aber es würde mich schwer wundern, wenn die problemfrei liefe. Abhorrent. (+)

Ausstattung: Die reine Optik der colorierten Version ist zum Dahinschmelzen. Keine gefütterten Innenhüllen, kein Downloadcode. Bei Bandcamp kostet der digitale Download nochmal satte 10 Pfund. (++)


   


Erschienen auf Lobster Theremin, 2020. 


03.02.2021

Best Of 2020 ° Platz 18 ° The Vision Reels - Eyes Open



THE VISION REELS - EYES OPEN

The planet is fine.
The people are fucked. 
(George Carlin)


2020 hätte viel verdient gehabt, zum Beispiel eine vorbehaltlose und uneingeschränkte Selbstauflösung ab sagen wir mal April. Darüber hinaus: eine eigene Digital-Best Of-Liste. Ich habe noch nie soviel digitale Musik gekauft und gehört wie 2020 auf Bandcamp, und die ab März regelmäßig durchgeführten sogenannten Bandcamp-Fridays zur Unterstützung der von Corona und der daraus resultierenden Komplettabschaltung jedes Kulturbetriebs ordentlich durchgeschüttelten Künstler und Labels, haben daran sicherlich einen sehr großen Anteil gehabt. "Eyes Open" von The Vision Reels (aka Adam O'Hara, u.a. Gründer von Groundwork Recordings) rutschte in letzter Minute in meine Top 20, und ist damit auch das einzige Album meines kleinen Countdowns, das nur im digitalen Format verfügbar ist. Das ist ungewöhnlich, weil ich eigentlich vorhatte, solche Formate künftig nicht mehr in Betracht zu ziehen; man sieht mir meine Quatschhaltung in dieser Sache bitte nach. Mein musikalisches Leben und die daran angebundenen Lebenslinien drehen sich nun mal in erster Linie um Schallplatten als künstlerisches Ausdrucksmittel, daher geht es in mir in erster Linie um die Abbildung ebenjener. Manchmal komme ich aber trotz solch prätentiöser Totalverbretterung nicht drum herum - wie eben bei und für "Eyes Open". 

Ich weiß praktisch nichts über Adam O'Hara oder dieses Album. Es war ein ziemlicher Zufallstreffer auf Bandcamp, vermutlich stolperte stöberte ich durch eine Sammlung eines anderes Nutzers und wurde vom tollen, an Astral Industries-Artworks angelehnten Cover (Dima Rabik) angezogen. Und Anziehung ist das Schlüsselwort für "Eyes Open". Ganz egal, wie viel mir wegen Lohnarbeit, Haustier, Corona und geradezu Tonnen anderer Musik um die Ohren flog, kam ich immer wieder zurück zum sanften, nächtlichen Puls dieses Albums. Über den Lichtern der Stadt, leise und elegant fließend, und ein Timing mit beinahe sedierender Wirkung - wenn das Ketamin mal wieder mit (benutztem) Katzenstreu und Palmin gestreckt wurde, programmiert man den Player einfach auf 72 Stunden Endlosschleife und lässt die Nachbarn sich darüber wundern, warum seit Freitagabend die Rollläden nicht hochgezogen wurden. 

O'Hara wählt für sein Debut unter dem Projekt The Vision Reels einen sehr aufgeschlossenen Ansatz, der glücklicherweise keine Gefühlsduselei benötigt. Ich empfinde "Eyes Open" als durchaus emotional, introspektiv, manchmal in der bildhaften Darstellung von objektiver Schönheit geradezu betörend, insbesondere zu hören beim funkelnden Titeltrack, bleibt dabei aber erstaunlich zurückgezogen, ja fast nüchtern. Nicht freudlos, nicht akademisch, aber distinguiert und abseitig genug, um selbst für die Momente einer stärker ausgeprägten Zugänglichkeit in den Tracks "Chrysanthemum", einem tief pochenden Unterwasser-Star-Ride und dem urban glitzernden "Sacred Architect" der Hood mitzuteilen, dass der Sepiafilter zum Sonnenuntergang auf Ibiza weder angebracht noch erwünscht ist. 

Besser Rollläden runter und einsam im Licht der Lavalampe wegdämmern. Leben 2020 FTW.




   



Erschienen auf Kizen Records, 2020.


30.01.2021

Best Of 2020 ° Platz 19 ° Leandro Fresco & Rafael Anton Irisarri - Una Presencia En La Brisa

 



LEANDRO FRESCO & RAFAEL ANTON IRISARRI - UNA PRESENCIA EN LA BRISA

I’ve become so used to darkness
I’m surprised to see the light
(GOLD)


Das erste Gefühl ist Traurigkeit. Die schwer herunter hängenden, grauen Schleier sind wie aus Beton, die grobe, aufgeraute Oberfläche kalt und schroff. Die Schultern schmerzen, es ist kaum Kraft übrig, um den Kopf oben zu halten. Dieses blasse Grundrauschen der Überforderung, der Zersetzung wird zum ständigen Begleiter. Hinter diesen Bildern wehen Fragmente von Melodie, sie wirken beinahe klerikal, als müssten sie Andachtsbilder der christlichen Ikonografie vertonen; Untergangsfantasien der Spätgotik, mit ihrem Licht- und Schattenspiel und der neuen Körperlichkeit, den Gesichtern, der Mimik. 

Wie viel Kontemplation in dieser Musik steckt wird deutlich, wenn der mehrdimensionale Raum sich entfaltet und die Ebenen unter dieser staubigen Schicht der Tristesse offenlegt. Ein Prozess der Tage, Wochen, Monate dauern kann, sich leise, beinahe unbemerkt in den Geist schleicht, die Wahrnehmung manipuliert, sie umkehrt, sie erweitert. Wenn die funkelnden Lichtbündel ihre Perspektive wechseln und tiefer scheinen, sich einschwingen. 

Ich hatte nach Monaten der Auseinandersetzung mit "Una Presencia En La Brisa" das Gefühl, als würde diese Musik kontinuierlich in meinem Empfindungszentrum arbeiten und stets hatte ich den Eindruck, mit jedem Mal mehr zu hören, zu sehen, zu spüren. Wenn Klang und Vision Trost und Zuversicht schenken und das Leben erklären, ist das Ziel möglicherweise fast erreicht. 


Pressung: Wie gewohnt von A Strangely Isolated Place: flawless. Dafür geht Labelchef/-gründer Ryan allerdings auch durch genau das Feuer des Qualitätsmanagements, das nicht nur viele Presswerke, sondern auch viele andere Labels mittlerweile scheuen. Gemastert von Taylor Deupree. "Mehr habe ich nicht hinzuzufügen."(Polt) (+++++)

Ausstattung: Formvollendetes Art-Design. Artwork, Vinyl, Liner Notes >>> (+++++)


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2020.


27.01.2021

Best of 2020 ° Platz 20 ° Zara McFarlane - Songs Of An Unknown Tongue



ZARA MCFARLANE - SONGS OF AN UNKNOWN TONGUE

Bring me the snowfall, bring me the cold wind, bring me the winter
(New Model Army)

Ein neuer Sound, ein neuer Weg, schon wieder. Elektronische Beats, Jamaica, Bass. Viel Bass. Viel Raum. Überzeugung, Emanzipation und Mut. Darunter ein beinahe durchgängig raschelnder Geräuschteppich, der nach Waldboden unter den tanzenden Füßen klingt. 

"Songs Of An Unknown Tongue" entstand in Zusammenarbeit mit den beiden Produzenten Wu-Lu und Kwake Bass nach einem längeren Aufenthalt in Jamaica, wo McFarlane die traditionellen Rhythmen und Melodien jamaikanischer Riten und Tänze wie Bruckin oder Dinki Mini erforschte. Das Ergebnis ist nach der schon beim letzten Album "Arise" vorgenommenen Öffnung eine erneute Erweiterung ihres Stils, dieses Mal noch deutlicher als zuletzt: anstatt sich wie auf ihren vorangegangenen Werken und hinsichtlich der Instrumentierung in einem weitgehend traditionellen Jazz/Soul-Umfeld zu bewegen, richtet sie "Songs Of An Unknown Tongue" auf ein elektro-akustisches Konzept aus, das die Künstlerin in bislang noch nicht erschlossenes Gebiet bringt. In tief pumpendem Bass-Gestrüpp hängen Gesangsarrangements, die sich nicht zwischen Avantgarde und Tradition entscheiden können und wie Farbklekse auf eine Leinwand geworfen werden, mal unmittelbar und frei, mal bis ins letzte Detail durchkomponiert. Ihre Stimme hat eine ganze Menge zu leisten, denn wenn es hinter ihr minimalistich pluckert, schnarrt und raschelt, braucht es die Struktur ihres charaktervollen Gesangs, die den Laden zusammenhält - oder aber in voller Absicht nicht mal das, wie beispielsweise in "Run For Your Life" oder "Saltwater", zwei Tracks, die auch im ohnehin nicht kerzengeraden Albumkontext ziemlich weit draußen ihre Kreise ziehen. Im Gegensatz dazu stehen weite Teile der B-Seite, deren Songs versöhnlicher klingen und mit dem herausragenden "Roots Of Freedom" beinahe eine moderne, spirituelle Version eines alten Grace Jones-Klassikers anbietet - abzüglich dessen Hedonismus, versteht sich; damit hat McFarlane auf dieser sehr geerdeten und erdigen Produktion nichts an der Frisur. 

"Songs Of An Unknown Tongue" erzählt vom Leben einer schwarzen Frau im urbanen London. Es zieht Linien zwischen Rassismus, Kolonialismus und der eigenen Identität, es feiert die Geschichte ihrer Vorfahren. Diese Musik vermittelt die Suche nach dem eigenen Ich und dessen Platz in dieser Gesellschaft mit Hilfe einer ebenfalls suchenden Musik - deren Grenzen eingerissen werden müssen, bis sie frei schwingen kann. 

Kein Platz und keine Zeit für Zorn. Was wir brauchen ist ein aufrichtiger Blick in eine selbstbestimmte, selbstbewusste, freie Zukunft.

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Pressung: Was für Brownswood-Pressungen üblicherweise richtig ist, gilt auch hier: flach, keine Störgeräusche. Einfach gut. (+++++)

Ausstattung: Fantastisches Coverartwork, bedruckte (ungefütterte) Innenhülle, schwarzes Vinyl. Kein Downloadcode. (++++)
  

   



Erschienen auf Brownswood Recordings, 2020.


23.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (5): Sadik Hakim - Sadik Hakim


SADIK HAKIM - SADIK HAKIM

So richtig schlau werde ich aus dem US-amerikanischen Pianisten Sadik Hakim nicht. Seine Karriere startete recht früh und inmitten der Bop-Bewegung in den 1940er Jahren mit Gigs für Ben Webster, Charlie Parker, Miles Davis und Lester Young. Er begleitete außerdem die größten Jazz-Sängerinnen wie Billy Holiday, Dinah Washington und Ella Fitzgerald, spielte auf Thelonious Monks Beerdigung und hat gerüchteweise einige sehr bekannte Bop-Stücke geschrieben, deren Urheberschaft sich andere unter den Nagel gerissen haben sollen - und weil ich gerade bei Monk war: "Eronel" stammt angeblich aus Hakims Feder. Könnte man nun nicht erwarten, dass sein Status in der Jazzszene ein anderer, ein ruhmreicherer ist? 

1962 nahm er sein erstes Album als Leader auf, aber seltsamerweise war "East And West Of Jazz" lediglich eine Art Split-LP mit dem Pianisten Duke Jordan auf Charlie Parker Records. Mitte der 1960er Jahre zog Hakim nach Montreal, wo er mit gleich zwei Jahren Verspätung sein nächstes Album als Leader einspielte, ein 1973 für die Canadian Broadcasting Corporation (CBC) aufgenommenes Werk, das unter gleich mehreren Titeln vermarktet wurde - "London Suite", "Transcription", "Canada" und "Sadik Hakim" - wie immer eine extragute Marketingstrategie. Das Album gilt für viele Jazzfreunde als das Magnum Opus Hakims, nicht zuletzt wegen der die komplette A-Seite in Beschlag nehmenden Mammutkompostion "London Suite", die sich über vier Teile erstreckt und vor allem in den balladesken Momenten wie dem eröffnenden "Heathrow In The Morning" und dem abschließenden "Harlow Homcoming" Hakims melodische Tiefe und kompositorische Dehnung zeigt. 

Das Album wurde 2014 unter dem Namen "Canada" auf dem italienischen Spezialistenlabel seriE.WOC (eine echte Fundgrube für raren Jazz, übrigens - und das meine ich als Warnung: https://eatingstanding.bandcamp.com/) wiederveröffentlicht, allerdings nur in einer kleinen Auflage und daher leider zu einem sehr unattraktiven Preis für um die 40 Euro. 2019 nahmen sich die Kanadier von Return To Analog der Platte an, und ließen 500 Exemplare bei der Precision Record Pressing in Ontario herstellen, einem 2017 gegründeten Joint Venture mit, Achtung, festhalten: GZ Media. GZ Media erstellte den Schnitt und die Lacqeurs, PRP presste die Platten - und beide haben hier einen wirklich guten Job gemacht, denn zumindest meine Kopie ist flach und läuft ohne Störgeräusche. Nun ist dieses feine Werk auch für kleines Geld zu haben. 

Werte Leser, "i soag's ganz ehrli" (Karl "Der" Moik): die stundenlange Recherchearbeit habe ich nicht umsonst gemacht! Ihr kauft das Ding jetzt. Hopp, hopp. Fogg it!


   



Erschienen auf Radio Canada Internation 1973/Return To Analog, 2019.


21.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (4): Keith Jarrett - The Melody At Night, With You



KEITH JARRETT - THE MELODY AT NIGHT, WITH YOU


In gewisser Weise ließen sich Teile des kürzlich geschriebenen Texts über Ministry auch auf Keith Jarrett übertragen. Der Pianist hat sich aus echter Überzeugung eine Kontroverse nach der anderen an die Griffel geflammt, von seinen frühen Statements zu elektronischen Instrumenten und elektronischer Musik ("It may not apply to somebody else, although I could go into the philosophical aspects of it and make it almost an objective argument whereby playing electric music is bad for you and bad for people listening, which I do believe." - Ähnliches könnte der Autor dieses Blogs übrigens über Musikstreaming im Allgemeinen und Shitify im Speziellen schreiben, aber wer wittert hier schon eine Kontroverse?!) bis hin zu den abgebrochenen und manchmal nicht mal begonnenen Konzerte, weil das Publikum hustet und/oder Fotos anfertigt. Jarrett war dabei immer aufrichtig und echt, aber freilich fügte es ihm in den eher hochgeschlossenen Kreisen des Jazz und darüber hinaus auch enormen Schaden zu - und wer das Publikum des Umbria Jazz Festivals in einem minutenlangen Meltdown als "Arschlöcher" beschimpft, würde in einem anderen Kontext, sagen wir 1981 im New Yorker CBGB, zuerst anerkennend angespuckt und anschließend auf Händen getragen. 

Die Aufnahmen zu "The Melody At Night With You", einer Sammlung von Standards und Traditionals (plus eine Improvisation) für Solo-Piano, entstanden in der Erholungsphase seines Chronic Fatigue Syndroms Ende der 1990er Jahre und waren ursprünglich als Weihnachtsgeschenk für seine damalige Frau gedacht. Das 1999 veröffentlichte Album wurde zu einem großen Erfolg und wer es hört, versteht warum: Jarrett versinkt über die 55 Minuten über den Tasten und eigenen Abgründen, wird eins mit dem Piano und durch die Töne hindurch: mit der Stille. Wo sonst riesige Konzertsäle vor Ehrfurcht (und dank beim Einlass verteilter Hustenpastillen) verstummen, sind es hier einerseits Jarretts Liebe und Zuversicht, andererseits seine durch die Krankheit verursachte Kraftlosigkeit, die seine umgebaute Bauernscheune im Nirgendwo an der US-amerikanischen Ostküste zum leisen Vibrieren bringen und in kaum wahrnehmbares, diskretes Licht tauchen.


   


Erschienen auf ECM, 1999.



Hey ECM, ich warte übrigens immer noch auf die 4.LP Box von "Radiance"



17.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler (3): Ministry - The Mind Is A Terrible Thing To Taste



MINISTRY - THE MIND IS A TERRIBLE THING TO TASTE


"Man muss die Erscheinung des hässlichen Echten grundsätzlich verteidigen", schrieb Roger Willemsen mal in Anlehnung an die lebensverändernde Begegnung mit der Ausnahmekünstlerin Sinéad O'Connor und ihren Kampf mit einer Unterhaltungsindustrie, die keine Liebe für sie hatte, denn: wenn kein Konsens herzustellen ist, ist es nicht attraktiv. Wenn Künstler sich selbst und ihrer Verwertungsmaschinerie Schaden zufügen können, wenn es Selbstzerstörerisch wird, peinlich, werden Existenzberechtigungen in der Öffentlichkeit entzogen. 

Mich erinnerte das an meinen im Jahr 2020 zweiten gefeierten Frühling mit Ministry und ihrer wohl prägendsten Phase von 1988 bis 1998. Weniger, weil man Ministry Existenzberechtigungen entziehen wollte, schließlich fand die erfolgreiche Selbstidentifikation mit der Band nicht zuletzt über den inszenierten Tabubruch statt, über Extreme und Enthemmung, sondern weil Ministry in ihrer Hochphase für totale Anarchie standen, für beidseitigen Kontrollverlust. Das war in der dargestellten Echtheit tatsächlich hässlich, peinlich, selbstzerstörerisch und damit auch gefährlich. Für jene, die außer Kontrolle waren, für jene, die sie kontrollieren wollten, wo nicht mussten, und für jene, die von Außen zuschauten. 

Ministry waren ein großer Zirkus, eine Attraktion, der Mann mit den zwei Köpfen und vier Pimmeln - aber sie waren es vor allem, weil sie echt waren, echt kaputt. Disturbed. Die Anziehungskraft einer Platte wie "The Mind Is A Terrible Thing To Taste" geht von einer wahren, realen Gefährlichkeit aus. 

Al Jourgensen und Paul Barker waren über knapp 15 Jahre außer Rand und Band. Ich kann mich von schäbigem Voyeurismus leider nicht durchgängig freisprechen.


         

Erschienen auf Sire, 1989.


16.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (2): Blood Incantation - Hidden History Of The Human Race

 

BLOOD INCANTATION - HIDDEN HISTORY OF THE HUMAN RACE


Dass mich im Jahr 2020 wirklich nochmal ein halbwegs aktuelles Death Metal Album an den Haken bekommt, das darüber hinaus auch noch für ein immerhin klitzekleines Genre-Revival in der Casa Dreikommaviernull verantwortlich ist, stand auf der Liste der antizipierten Szenarien des Jahres im Anhang unter dem Punkt "Zu grotesk, bitte vernichten". Schuld daran ist Freund Andreas, der sich beim Verteilen von Plattentipps normalerweise erstmal wochenlang unter starken Schmerzen windet, bis er sich dazu entschließt, besser doch nichts zu sagen: wenn einer wie er also also schlussendlich trotzdem tief durchatmet und die Neon-Werbeleuchtreklame anknipst, dazu etwas von "instant classic" schreibt, heißt es, die Ohren zu spitzen. Ich spitzte - und stimmte kurze Zeit später in den "instant classic"-Chor ein. 

"Hidden History Of The Human Race" ist technischer Death Metal, zu gleichen Teilen modern und oldschool, klingt für diesen Stil ungewöhnlich offen, frei und ist bizarrerweise bei aller Heavyness zu keiner Sekunde aufdringlich. Die Band berichtet, dass weite Teile des komplett analog aufgenommenen Albums unter dem Einfluss psychedelischer Drogen komponiert worden seien - und das ist angesichts der spirituellen Texte, der nicht nur hier und da eingestreuten, sondern deutlich prägenden atmosphärischen Elemente und des wirklich phänomenalen Flows eher unterraschend. Manchmal channelt die Band in den Gitarrenriffs sogar den Geist von Chuck Schuldiner in nie dagewesener Körperlichkeit. Ich war so baff, dass ich in den kommenden Wochen die Herzallerliebste mit einer feinen Auswahl nachgekaufter Death Metal-Klassiker "beglücken" sollte. Sowas ist mir seit 20 Jahren nicht passiert. 

Eines der ungewöhnlichsten und ja, ich sag's jetzt halt: visionärsten Death Metal Alben aller Zeiten.

 

 
Erschienen auf Dark Descent Records, 2019. 


13.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (1): Primal Code - La Via Della Seta




PRIMAL CODE - LA VIA DELLA SETA


Das Album-Debut dieses italienischen Produzenten-Duos gehört zweifellos zu den besten Dubtechno/Ambienttechno-Werken der letzten zehn Jahre und steht in einer Reihe mit "Stillpoint", "Deep Blue 2", "Lanterns" und "Voices From The Lake". Ich bemühte mich tatsächlich schon seit knapp zwei Jahren darum, an die Erstpressung mit dem stimmungsvollen Cover-Artwork auf farbigem Vinyl heranzukommen, aber die Chancen stehen schlecht - wer will sowas Wunderschönes schon verkaufen? 

Im abgelaufenen Scheißjahr hatte das schwedische Label Hypnus Records immerhin ein Einsehen und legte eine zweite Pressung auf, diesmal ohne Cover-Artwork und auf schwarzem Vinyl. Hypnus-Pressungen haben manchmal kleinere Probleme, glücklicherweise gilt das aber nicht für dieses Meisterwerk. Die beiden Platten sind flach, leise und das Mastering macht diese Pressung zu einem echten Genuss. Einnehmend, kristallklar, deep as fuck. Ich bin normalerweise ganze Universen von einem Hi-Fi-Nerd entfernt, habe auch wirklich überhaupt keine Ahnung von gar nichts und will im Prinzip auch nichts damit zu tun haben, aber da seit ein paar Tagen mit dem Audio-Technica VM540 ML ein neuer Tonabnehmer seine Kreise über die Sammlung ziehen darf, muss ich vermelden, dass ich beim Abspielen von "La Via Della Seta" kurz davor war, mir ein schönes warmes Tässchen Heroin aufzubrühen und zur Sven Väth-Gedächtnisfeierei ("This is all about gude Laune, Leude!") in die kochend heiße Badewanne zu steigen. 

Ein Album für die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff. Ein Album fürs Abtauschen in das unterirdische Labyrinth der Sistema Sac Actun. Geleitet zum Ursprung, zum Mittelpunkt, zum Höheren.


   



Erschienen auf Hypnus Records, 2018.


10.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (5): Skyclad - Irrational Anthems


SKYCLAD - IRRATIONAL ANTHEMS


Von Hippie-Eso-Rock der 90er Jahre über Broken Beat, Future Jazz, Noise-Goth zu Folk Metal - und Sie fragen mich ernsthaft, warum hier niemand mitliest?! 

"Irrational Anthems" war das letzte fehlende Vinyl-Mitglied der Skyclad-Sammlung (was nicht ganz richtig ist, weil ich die Picture Disc vor genau 20 Jahren in einem Plattenladen in Lübeck entdeckte - aber...). Ich habe den Fund der Originalausgabe Freund Jens zu verdanken, der seine Augen und Ohren in den Social Media'schen Verkaufs- und Tauschgruppen für mich immer weit geöffnet hat. 

Wie ich zu dieser ehemals so fantastischen Band aus Newcastle stehe, lässt sich für Interessierte HIER nochmal ausführlich nachlesen - wenn's ein bisschen mehr sein darf, klickt man am unteren Bildrand auf "Neuerer Post" und kommt darüber zu den Einzelreviews - und wo wir gerade hier sind, verlangt es der Anstand, auch auf meinen damaligen Text über "Irrational Anthems" hinzuweisen, in dem ich abschließend befand, das Album sei zwar im Prinzip absolut fehlerfrei, als möglicherweise einziges Skyclad-Werk indes nicht so irre gut gealtert. Und es stimmt: einige Songs dieser Platte habe ich in meiner Jugend auch schlicht bis zum Ohnmachtsanfall abgenudelt; der Eindruck also, Hits wie "Penny Dreadful", "No Deposit, No Return" oder "Inequality Street" seien in einer Zeitkapsel eines bestimmten Lebensabschnitts eingeschlossen und könnten nie wieder unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen jener Zeit gehört werden, ist sicherlich nachvollziehbar. 

Das nimmt allerdings nichts von Glanz und Wichtigkeit von "Irrational Anthems", was mir bei der neuerlichen Auseinandersetzung, ganz besonders mit den Songs der vermeintlich zweiten Reihe, bewusst wurde: "Snake Charming", "The Sinful Ensemble"(!), "My Mother In Darkness"(!!), "I Dubious"(!!!) und "Science Never Sleeps" sind einfach unsterbliche Klassiker. 

Und ich erneuere hiermit meine frühere Einschätzung: Diese Band hat in den 1990er Jahren keinen auch nur mittelmäßigen Ton aufgenommen. Alles aus Gold.


   



Erschienen auf Massacre Records, 1996. 

09.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (4): Oddzoo - Future Flesh

 


ODDZOO - FUTURE FLESH


Die Herzallerliebste und ich beschlossen vor etwa drei Jahren, uns nach einer langen Zeit der Tanz-Abstinenz wieder öfter ins Nachtleben Frankfurts und der angeschlossenen Funkhäuser zu schmeißen. Nach einigen Tests mit ganz, äh, unterschiedlichen Erfahrungen und Ergebnissen, sollten vier Etablissements in der engeren Auswahl für die wochenendliche Abendplanung verbleiben. Eine Nacht, die künftig als feststehender Termin gebucht war, war der Fürstentanz im Gambrinus in Bad Homburg, eine Gothicparty, die für uns weniger wegen der Affinität zu solchen Sounds, als viel mehr durch die immer angenehmen Gäste interessant wurde. Keine Besoffenen, kein aggressives Verhalten, keine Idioten - keine offensichtlichen immerhin - what's not to like? 

Oddzoos "Future Flesh" haben wir auf dem Mainfloor noch nicht gehört, aber es wäre weder Stilbruch noch Überraschung: das französische Trio pendelt zwischen einer teils durchaus ruppigen und überdimensioniert arrangierten Noise-Ästhetik und pompösen, elegischen Melodiebögen und entwickelt in diesen Momenten nicht zuletzt wegen der glockenklaren Gesangsstimme ein bizarr wirkendes Pop-Verständnis, das für mindestens zwei Tanzflächenmonster in Deiner Gothic-Datsche gut sein dürfte. 

Besonders herausragend: die mit großen Refrains zugeballerten "Little Death", "Lunesta" und das abschließende "Singularity". Wenn Martin Gore, Danny Cavanagh und Chris Corner ein Nebenprojekt gründen würden.


 



Erschienen auf Blood Music, 2018.