Von Hippie-Eso-Rock der 90er Jahre über Broken Beat, Future Jazz, Noise-Goth zu Folk Metal - und Sie fragen mich ernsthaft, warum hier niemand mitliest?!
"Irrational Anthems" war das letzte fehlende Vinyl-Mitglied der Skyclad-Sammlung (was nicht ganz richtig ist, weil ich die Picture Disc vor genau 20 Jahren in einem Plattenladen in Lübeck entdeckte - aber...). Ich habe den Fund der Originalausgabe Freund Jens zu verdanken, der seine Augen und Ohren in den Social Media'schen Verkaufs- und Tauschgruppen für mich immer weit geöffnet hat.
Wie ich zu dieser ehemals so fantastischen Band aus Newcastle stehe, lässt sich für Interessierte HIER nochmal ausführlich nachlesen - wenn's ein bisschen mehr sein darf, klickt man am unteren Bildrand auf "Neuerer Post" und kommt darüber zu den Einzelreviews - und wo wir gerade hier sind, verlangt es der Anstand, auch auf meinen damaligen Text über "Irrational Anthems" hinzuweisen, in dem ich abschließend befand, das Album sei zwar im Prinzip absolut fehlerfrei, als möglicherweise einziges Skyclad-Werk indes nicht so irre gut gealtert. Und es stimmt: einige Songs dieser Platte habe ich in meiner Jugend auch schlicht bis zum Ohnmachtsanfall abgenudelt; der Eindruck also, Hits wie "Penny Dreadful", "No Deposit, No Return" oder "Inequality Street" seien in einer Zeitkapsel eines bestimmten Lebensabschnitts eingeschlossen und könnten nie wieder unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen jener Zeit gehört werden, ist sicherlich nachvollziehbar.
Das nimmt allerdings nichts von Glanz und Wichtigkeit von "Irrational Anthems", was mir bei der neuerlichen Auseinandersetzung, ganz besonders mit den Songs der vermeintlich zweiten Reihe, bewusst wurde: "Snake Charming", "The Sinful Ensemble"(!), "My Mother In Darkness"(!!), "I Dubious"(!!!) und "Science Never Sleeps" sind einfach unsterbliche Klassiker.
Und ich erneuere hiermit meine frühere Einschätzung: Diese Band hat in den 1990er Jahren keinen auch nur mittelmäßigen Ton aufgenommen. Alles aus Gold.
Die Herzallerliebste und ich beschlossen vor etwa drei Jahren, uns nach einer langen Zeit der Tanz-Abstinenz wieder öfter ins Nachtleben Frankfurts und der angeschlossenen Funkhäuser zu schmeißen. Nach einigen Tests mit ganz, äh, unterschiedlichen Erfahrungen und Ergebnissen, sollten vier Etablissements in der engeren Auswahl für die wochenendliche Abendplanung verbleiben. Eine Nacht, die künftig als feststehender Termin gebucht war, war der Fürstentanz im Gambrinus in Bad Homburg, eine Gothicparty, die für uns weniger wegen der Affinität zu solchen Sounds, als viel mehr durch die immer angenehmen Gäste interessant wurde. Keine Besoffenen, kein aggressives Verhalten, keine Idioten - keine offensichtlichen immerhin - what's not to like?
Oddzoos "Future Flesh" haben wir auf dem Mainfloor noch nicht gehört, aber es wäre weder Stilbruch noch Überraschung: das französische Trio pendelt zwischen einer teils durchaus ruppigen und überdimensioniert arrangierten Noise-Ästhetik und pompösen, elegischen Melodiebögen und entwickelt in diesen Momenten nicht zuletzt wegen der glockenklaren Gesangsstimme ein bizarr wirkendes Pop-Verständnis, das für mindestens zwei Tanzflächenmonster in Deiner Gothic-Datsche gut sein dürfte.
Besonders herausragend: die mit großen Refrains zugeballerten "Little Death", "Lunesta" und das abschließende "Singularity". Wenn Martin Gore, Danny Cavanagh und Chris Corner ein Nebenprojekt gründen würden.
Talking about "zeitloser Klassiker" und "Wiederentdeckung": "Motion" des Cinematic Orchestras passt wie Jazzanovas "In Between" in beide Kategorien. Die Vinylfassung des 1999 erschienenen Debuts dieses Kollektivs stand bereits seit vielen Jahren auf meinem Wunschzettel, aber es sollte erst im Herbst des Jahre 2020 endlich soweit sein.
Mein erstes Zusammentreffen mit "Motion" muss wie bei "In Between" etwa zur Mitte der nuller Jahre stattgefunden haben; einer sehr turbulenten Zeit, in der sich mein Leben praktisch alle zwei Wochen neu erfand - und neu erfinden musste. Ich entdeckte elektronische Musik, ich entdeckte Jazz und irgendwie entdeckte ich mich dabei selbst mehr und besser als in den vorangegangenen 28 Jahren. Die innere Befreiung, dass es mehr zu sehen, denken und fühlen gab, öffnete mich im Außen für Inspiration und Neugier. Es brauchte in diesem Zustand keine besondere Anstrengung, mich in einem Album wie "Motion" gleichermaßen zu spiegeln und zu verlieren. Die Atmosphäre aus verdichtetem cut-and-paste Jazz und grobkörniger Electronica entwickelt eine unnachahmliche Dringlichkeit und wirkt spätestens beim Höhepunkt "Night Of the Iguana" wie ein Film Noir-Soundtrack from outer space: fremdartige Bewegungen aus der Tiefe der Nacht, des Raums und der Zeit.
Es war gar nicht so leicht, ein gut erhaltenes Exemplar des Jazzanova-Debuts zu ergattern, wenn man nicht gleich einen japanischen Postdienstleister bemühen wollte, und ich kann nur spekulieren, dass die drei Scheiben von "In Between" auf den Plattenspielern dieser Erde über die letzten 18 Jahre so oft, so lange und mit so viel Begeisterung gespielt wurden, bis mit letzter Kraft und zitternder Hand nur noch ein "G+" in das Feld für die Zustandsbeschreibung auf dem Plattensammlerportal Discogs eingepflegt werden konnte. Ich könnt's verstehen.
"In Between" war neben "The Cosmic Game" der Thievery Corporation mein Einstieg in die Welt elektronischer Musik und trotzdem rutschte es mir bis zum 2018er Comebackalbum "The Pool" unerklärlicherweise vom Radar - und nachdem ich mich angemessen geschämt hatte, begab ich mich für die nächsten zwei Jahre, ich habe ja sonst auch nichts zu tun, auf die Suche nach dieser LP. Und als ich sie endlich fand, fehlten die Original Inlays von zwei der drei Platten. Die Leiden des alternden Plattensammlers im Jahr der globalen Pandemie. Es geht schon wieder, danke für die Nachricht.
Das erste Auflegen in der brütend heißen Behausung im Frankfurter Westen schleuderte mich gefühlsecht in den Frühling des Jahres 2005, ins riesige Wohnzimmer unserer Wiesbadener Altbauwohnung mit den großen Fenstern und den langen weißen Vorhängen, durch die sich der Duft des herannahenden Stadtsommers mit dem sanften Aroma des frisch gebrühten Jasmintees vermählte und dem leichtfüßigen, raffinierten Gemisch aus Downtempo, Broken Beat, Jazz und HipHop einen passenden Rahmen schenkte. "In Between" ist Jazz für den Club, sophisticated, urban, elegant, sexy.
Harald Schmidt sagte mal, dass maximal zwanzig Bücher ausreichten, um das Leben angemessen ausgestattet zu bestreiten, verbunden mit dem Hinweis auf die Tagebücher von Julien Green, in denen es heißt, dass am Ende seines Lebens nicht mal mehr Thomas Mann der groben Entflechtung des Literaturbestands standhielt. Immer öfter stehe ich selbst vor der Schallplattenwand und ertappe mich bei ähnlichen Gedanken. 50 Alben - mehr braucht's eigentlich nicht. Gib mir meinen Coltrane, meinen Scott-Heron, den Soundtrack meiner 90er Jahre Adoleszenz und fünf, sechs Metal-Hackepeter aus der Ursuppe der 1980er Jahre und ich bin okay.
Die beiden Platten der Low-Key-Supergroup Three Fish würden diesen Auswahlprozess mühelos überstehen, sie fielen in den Eimer mit den dreckigen, nach Benson & Hedges und Zino müffelnden Karohemden meiner Neunziger. Tribe After Tribe Sänger/Gitarrist Robbi Robb, Pearl Jam-Bassist Jeff Ament und Wundertrommler Richard Stuverud veröffentlichten vor über 20 Jahren zwei herausragende, größtenteils ruhige, spirituelle Werke, geschmückt mit Einflüssen und Instrumenten des mittleren bis fernen Ostens, meistens aus lockeren Jamsessions entwickelt und in Aments Homestudio in den Bergen von Montana aufgenommen. Während das selbstbetitelte Debut noch hier und da auffindbar ist, ist das Vinyl von Album Nummer Zwo - "The Quiet Table" - mittlerweile leider sehr selten geworden. Es wurde über die letzten Jahre zu einer meiner meistgesuchten Schallplatten.
Seit dem Quarantänen-Sommer 2020, einer Gelegenheit sowie einem großen Schuck aus der "I Just Don't Give A Fuck Anymore"-Pulle, liegt die Platte nun also regelmäßig auf meinem Teller, und ich freue mich sehr über diese zeitlose, klischeefreie, psychedelische und leider vergessene Perle der neunziger Jahre.
Die perfekte musikalische Begleitung für den nächsten gemütlichen Abend im Opiumrausch. Der Quarantäne-Winter 2021 kann kommen.
1992 in der Keimzelle des Anything Goes-Vibes veröffentlicht und ein Klassiker des Alternative Rock, vielleicht gar eines der letzten wirklich großen Rockalben von der Insel der Brexit-Besinnungslosen: das Debut der britischen Sängerin und Multiinstrumentalistin ist lauter Weirdo-Blues, giftiger Feministenpunk, knarzender Noise. Das Trio, allen voran Schlagzeuger Rob Ellis mit seinem unwiderstehlichen Powerhouse-Drumming, holzt sich bis auf wenige Ausnahmen ("Happy And Bleeding" und "Plants And Rags") furios durch ein Album, von dem PJ einst dachte, es würde nicht nur ihr erstes, sondern auch gleichzeitig ihr letztes sein - was sie dazu bewog, für die Produktion alles in die Waagschale zu schmeißen, was sie hatte.
Wie viel sie wirklich hatte, wird auf diesem fantastisch klingenden Reissue nochmal offensichtlicher. Nie war der Vergleich zwischen totkomprimierter gestreamter Billigscheiße von den Musikhassern von Shitify und einer famos gemischten, gemasterten und perfekt gepressten Schallplatte sowohl eindrucksvoller als auch schmerzhafter als hier. Ein einzigartig beißender Gitarren- und Basssound, ein die Mauern von Jericho zum Einsturz bringendes Drumset und eine Stimme, die zu gleichen Teilen selbstbewusst, sexy und fragil eine ungeheure Präsenz ausstrahlt. Die grundsätzliche Idee, "Dry" exakt auf diese Art zu inszenieren, war für den im karierten Flanellhemd steckenden "Flori" (Mama) schon 1992 eine bemerkenswerte Entscheidung - knapp dreißig Jahre später wird sie dank dieser Neuauflage zur Sensation.
Über Blue Notes im Jahr 2019 gestartete Tone Poet-Reihe gäbe es genügend Gründe, um bis nächsten März durchzuschreiben und ich muss mich ein ganz kleines bisschen beherrschen, es nicht wirklich zu tun. Vielleicht braucht es demnächst an dieser Stelle mal etwas Ausführlicheres zu der ein oder anderen Platte.
Die in die Fußstapfen des eigentlich im Jahr 2018 gestoppten und im Jahr 2019 mit einem Verweis auf das neu eingesetzte SRX Vinyl, ausgeschrieben "Silent Running Xperience" - dafuq r u talkin' about?! - überraschend wieder gestarteten Music Matters-Projekts (Neupreis 75 Dollar pro Platte, natürlich alles längst ausverkauft) tretende Tone Poets-Serie soll vermutlich den Markt der Viertel- bis Halbstarken audiophilen Zielgruppe bedienen und bietet eine sich sehr wertig anfühlende und -hörende Schallplatte auf 180g schwerem Vinyl, gepresst von Record Technology Incorporated in Kalifornien, zu Hause in einem dicken Tip-On Gatefold-Cover mit eleganten und großformatigen Schwarzweiß-Fotografien.
Gemastert von Kevin Gray von den originalen Mastertapes unter der künstlerischen Aufsicht von Music Matters-Gründer Joe Harley soll sich Tone Poet hinsichtlich der Titelauswahl in erster Linie auf die eher unbekannten oder gar obskuren Alben aus dem Blue Note Katalog konzentrieren. Die erste Veröffentlichung im Februar 2019 war gleich ein solch obskurer Fall: Wayne Shorters "Etcetera" wurde ursprünglich 1965 aufgenommen, von den damaligen Verantwortlichen Blue Notes aber aus unbekannten Gründen bis ins Jahr 1980 in den Safe gesteckt und erst dann mit einem zu jener Zeit so typischen wie hässlichen Blue Note-Artwork herausgebracht. Ein Großteil der danach erschienenen Tone Poet-Editionen machen es dem Beobachter indes nicht ganz so leicht, einen roten Faden in der Auswahl der Titel zu entdecken. So ist mir auch der Hintergrund für "It's Time" nicht ganz klar. Das Album war bis in die 1980er Jahre hinein verfügbar und wurde erst 2016 für den europäischen Markt von Elemental Music (Spanien) lizenziert und mit einer ebenfalls als "audiophil" vermarkteten Pressung von GZ Media (lol) veröffentlicht. Unabhängig von den ganzen Fragezeichen über die unterschiedlichen Pressungen ist "It's Time" aber ein weiteres beachtenswertes und für die Zeit der Aufnahme sowohl typisches als auch untypisches McLean Album. Zwei der drei Tracks von Trompeter Charles Tolliver, hier auf seiner vermeintlich allerersten Plattenaufnahme überhaupt zu hören, wagen sich vor allem in den Solopassagen in den Bereich des Free Jazz vor, folgen dabei allerdings einer greifbareren Ästhetik als es McLean auf seinen ebenfalls freieren Alben jener Zeit wie "One Step Beyond" oder "Destination...Out" getan hat. Weniger tonale Überforderung als freigetupfte, windschiefe Arrangements (Grachan Moncur, Grachan Moncur, Grachan fucking Moncur!). Auf "It's Time" ist es vor allem Herbie Hancock zu verdanken, den Rest der Rasselbande nicht zu weit draußen wildern zu lassen; er knüpft das Band zum Hard Bop und hält es zumeist fest in der Hand. Das Quartett arbeitet also nicht selten in einer Art Zwischenwelt - und dort kannte sich McLean zu jener Zeit besonders gut aus.
Alles an dieser Veröffentlichung ist zum Heulen schön: die Musik, die Pressung, das Artwork - man möchte sich geradewegs reinlegen. Was nicht so schön ist, ist der in Europa sehr hohe Preis von knapp 40 Euro pro Exemplar der Tone Poet-Serie. Gemessen an den mittlerweile aufgerufenen Preisen für die bekannteren Titel der Music Matters Reihe ist das freilich ein Schnäppchen. Aber ich frage mich trotzdem die ganze Zeit: werde ich hier eigentlich kolossal verarscht? Und, viel schlimmer: Interessiert mich das wirklich?
Auch Metal Blade haben sich erbarmt und den Vinylfreunden mit der Wiederveröffentlichung des 1994er Albums "Inside Out" von Fates Warning eine große Freude gemacht und eine Lücke geschlossen, die für meinen Geschmack zu lange unbeachtet blieb. Zwar galt das im weitläufigen Fahrwasser des Überraschungserfolgs von Dream Theaters "Images And Words" veröffentlichte Album zunächst als zu kommerziell und damit als kleine Enttäuschung, für mich war "Inside Out" aber zusammen mit Tiamats "Wildhoney" und "Word Of Mouth" von Vicious Rumors DER Soundtrack meines Sommers 1994 und weckt damit, der emotionalen Verdrängungsleistung eines Öltankers sei Dank, ausschließlich positive Gefühle.
Aber auch ohne alberne Verklärung zeigt die Platte eine vor allem hinsichtlich der melodischen Präzision gereifte Band. Wer zum Vergleich das unrunde Gehacke von "No Exit" aus dem Jahr 1988 hört und mit der harmonischen Kaltnadelradierung eines "Shelter Me" vergleicht, glaubt kaum, dass es sich noch um dieselbe Band handelt.
Die Pressung auf coloriertem Vinyl ist wie von Metal Blade gewohnt absolut fehlerfrei, dazu gibt's ein großformatiges Poster, einen Downloadcode (Bandcamp) und einen Einleger mit Texten. Das alles zum Sparpreis von 18 Euro. Entzückend!
Das war überfällig. Das niederländische Indielabel Hammerheart Records, in der Vergangenheit nicht immer mit blütenweißer Weste hinsichtlich (in)offizieller Veröffentlichungen unterwegs, hat sich mit den Doom Psychedelics Trouble geeinigt und über die vergangenen beiden Jahre einen großen Teil des umfangreichen Backkatalogs der Band neu aufgelegt.
"Manic Frustration" (1992) gehört neben dem Vorgänger "Trouble" (1990) zum heiligen Gral der Fangemeinde: beide Alben gelten für viele Anhänger als Sternstunden der Band aus Chicago, verstaubten allerdings über viele Jahre in den Notarbüros von Rick Rubins Def American-Label und waren daher seit Ewigkeiten nicht mehr auf Vinyl erhältlich. Die übrig gebliebenen Fans der Band dürfen sich nun über eine Neuauflage freuen, die in fast jeder Hinsicht perfekt umgesetzt wurde: das Remaster drischt die eh schon sehr lebendige Musik geradewegs in einen Jungbrunnen und präsentiert den Proto-Stoner-Sound des Quartetts in einer unnachahmlichen Frische - wofür allerdings das im direkten Vergleich charmant angegraute Klangbild des Originals mit der Ästhetik der 1970er Jahre auf der lässig-groovenden Strecke blieb. Das glossy Cover mit unverändertem Artwork und der Einleger mit Texten sind ansprechend, die Pressung auf (in meinem Fall) rotem Vinyl ist absolut fehlerfrei und klingt irre gut. Im besten Sinne "irre" ist auch die Preispolitik des Labels: das schwarze Vinyl gibt's im eigenen Shop bereits für 15,90 Euro.
Muss man haben.
Erschienen auf Def American Recordings/Hammerheart Records, 1992/2020.
Bevor wir uns mit der Top 20 des Jahres 2020 verlustieren, in handgemolkenem Schnakenhonig und mundzerbieberter Biebernussmischung suhlend, robben wir uns zunächst durch das alte Jauchenjahr 2020.
Erstens: die fünf besten Reissues
Zwotestens: die fünf besten Second Hand-Schätze
Und Drittens: die fünf besten nachgekauften Platten aus früheren Jahren.
Ich tippe mir seit Tagen förmlich den Arsch ab, aber das wird gut. Also wenigstens für mich, weil's nämlich Spaß macht.
Die Top 20 folgen im Anschluss. Wir haben ja Zeit. Gelle?
JUNE OF 44 - TROPICS AND MERIDIANS
Es gibt kein schwaches Album von June Of 44, aber die ersten beiden Werke "Engine Takes To The Water" und vor allem "Tropics And Meridians" sind durchaus Meilensteine des sich Mitte der 90er Jahre langsam emporamorphelnden Post- und Noiserocks zwischen Slint und den frühen Tortoise.
Es ist einerseits die Dringlichkeit, andererseits die Unschuld in dieser Musik, die durch zerklüftetes Emotionsgebirge gleiten kann wie ein heißes Messer durch Butter. Die Band zieht keinen Pathos aus der verschrobenen und manchmal etwas theatralisch wirkenden Ästhetik, stattdessen pendelt sie manisch zwischen Rückzug und Attacke, zwischen klarer Linie und porösem Zaudern - und alle Räume werden ohne Rücksicht auf Verluste eingenommen. Wer mehr über diese Platte lesen möchte, klickt sich HIER zu meinem Text aus dem Jahr 2012.
Sowohl "Engine Takes To The Water" als auch "Tropics And Meridians" wurden 2020 auf farbigem Vinyl wieder veröffentlicht, nachdem die Originale in den letzten zehn Jahren etwas kostspieliger wurden. Beiden Ausgaben liegt je ein großes Poster und ein Downloadcode bei. Die Pressungen sind fehlerfrei, das Remaster sorgt derweil für guten Druck und die gerade bei diesen Alben so wichtige Dynamik. Obacht: Auch die Reissues sind in Deutschland leider kaum unter 35 Euro (inklusive Porto) zu bekommen.
Es war beinahe zu erahnen, und Menschen mit den etwas feiner justierten Antennen wussten möglicherweise bereits am Neujahrsmorgen und nach der Meldung vom abgebrannten Affenhaus im Zoo in Krefeld, dass 2020 gerade den ersten Warnschuss abgegeben hatte; die drei Frauen, die in der Silvesternacht die aus den nun schmerzhaft offensichtlich gewordenen Gründen schon vor Jahren verbotenen Himmelslaternen haben steigen lassen, damit das Feuer verursachten und also für den Tod von über 30 Affen verantwortlich waren, sind mit der Zahlung von 20 Mille (insgesamt naturellement, jetzt fangen Sie mal nicht an zu Träumen) nun aus dem Schneider und können mit ihrer Granatenblödheit und ihrer minussolidarisierten Sorglosigkeit ruhig als Kühlerfiguren des restlichen Jahres und die Legion an ebenfalls tiefergelegten Schwachstromelektronikern im Schlammloch von Corona-Leugnern, rechten Sackgesichtern, Eso-Schranzen, Neoliberalen und Kapitalisten gelten, die den wenigstens teilmöblierten Dachgeschossbewohnern dieses Landes das Leben noch schwerer machten, als es ohnehin schon ist, beziehungsweise: werden sollte.
Bevor der wütende deutsche Kartoffelacker nun auch vor meiner Tür steht und mit Spitzhacke meinen elitär vor sich hinrumpelnden Kopf einschlagen will, because any Dünger is good Dünger, darf ich freundlich die dialektische Tür verrammeln: ich bin Krisengewinner und sitze tagein, tagaus im Elfenbeinturm meines hübsch eingerichteten Miethauses im Frankfurter Westen wie Graf Koks an Kaffeemühle, Wasserkocher und Schallplattenspieler, der Job halbwegs sicher mit Home Office 'til Hauseinsturz, außerdem kinderfrei und daher nur selten bis gar nicht mit existenziellen Lebensfragen konfrontiert - abgesehen von jenen, die den eigenen Unzulänglichkeiten entspringen und also bisweilen soviel Wucht entwickeln können, dass ich wünschte, ich könnte auch mal so frei und locker dabei mitdiskutieren, welche Art des Lüftens für Schulklassen jetzt besonders gewinnbringend ist, und sei es nur zur Ablenkung. Jedenfalls weiß ich, dass meine Funktionsmeinung aus meinen 95qm Watte-Deutschland in Zeiten dieser medizinischen, kapitalistischen aber vor allem gesellschaftlichen Krise, nur wenig Relevanz hat, mehr noch: ich fühle mich gar nicht dazu berufen, jedem meine zwei Cents ungefragt ins Töpfchen zu werfen; es fühlt sich schäbig an, ja, beinahe herablassend.
Ich bin auch deshalb so überzeugt von der eigenen Doofheit, weil ich noch im Februar diesen Jahres, als die Krise allmählich Gestalt annahm und immer häufiger von steigenden Fallzahlen im In- und Ausland die Rede war, zu Jens, meinem brother from another mother, beim gemeinsamen Einnehmen des Abendessens in einem Stuttgarter Restaurant mit weit aufgefächertem Pfauenrad und überlegenem Lächeln erzählte, was ich von dem medialen Dauerfeuer über dystopische Untergangsszenarien hielt: Nichts. Panikmache. Angst essen Seele auf. Das zieht an uns vorüber wie ein zartes Streicheln des Winds. Wie viele Fälle haben wir gerade hier? Acht? Bruaha! Komm' ma' klar. Reichst Du mir mal bitte das Salz?
Jens hingegen sagte bereits an diesem Abend:"Das wird uns noch sehr lange begleiten." Und außerdem:"Ich befürchte, dass die Welt bedeutend anders aussehen wird, wenn das alles mal vorbei ist."
Well, I was dead wrong - und musste zwei Wochen später zuerst schnell das Pfauenrad wieder einrollen und anschließend schauen, wo zum Fick ich denn nun Klopapier bekomme, ihr verdammten Idioten da draußen, ersticken sollt ihr dran, ihr verfick....jedenfalls: da saßen Hund Fabbi, die Herzallerliebste und ich nun in unserem Wohnzimmer und sahen der Welt beim Verrücktwerden zu. Und wurden im Zuge dessen selbst ein wenig komisch.
"Ich bekomme irgendwie seit ein paar Tagen schlechter Luft."
"Ich schlafe sagenhaft schlecht."
"Diese ständigen Schweißausbrüche gehen mir jetzt schon so ein bisschen auf den Zeiger."
In der Nacht vom 27. auf den 28.März lag ich mit Todesangst im Bett. Mein Herz pochte bis hoch in meinen Kopf, jeder Herzschlag war durch den ganzen Körper zu spüren. Es fühlte sich an, als würde selbst die Matratze davon vibrieren. Ich bekam keine Luft. Ich hatte Brustschmerzen. Dazu zwei Gedanken in meinem Kopf, erstens: wenn ich jetzt den Notarzt rufe, nehmen die mich sofort mit ins Krankenhaus. Und ich gehe doch jetzt nicht ins Krankenhaus. Und zweitens: wenn ich jetzt einschlafe, wache ich vielleicht nicht mehr auf. Nach fünf Stunden hissten Körper und Geist unisono die weiße Flagge und ich schlief endlich ein. Die nächsten Tage und gar Wochen wurden zum Spießrutenlauf durch "Deutschland, Deine Arztpraxen" - und meine sowieso schon gut gefüllte Mappe mit den abscheulichsten Begegnungen mit der Ärzteschaft aus zwei Jahrzehnten wurde mit einigen neuen und hysterischen Geschichten ergänzt. Wenn ich meine Lethargie überwunden habe, schreibe ich ein Buch (Arbeitstitel "Metzger - Mit Intelligenz dürfen Sie nicht rechnen!") darüber. Also niemals. Die gesamte Zunft der Urologie darf aufatmen. Ihr Ficker!
Das Ergebnis aus schulmedizinischer Sicht lautet: ich bin kerngesund, aber "wenn das eine Panikattacke war, denken sie vielleicht mal über eine Psychotherapie nach."
Oder über einen Jobwechsel, denn es ist gleichfalls anzunehmen, dass die ein oder andere Situation in meinem Arbeitsumfeld zu den Geschehnissen dieser verhängnisvollen Nacht beitrug. Ich reagierte mit für mich ungewohnter Geradlinigkeit: ab April machte ich tatsächlich zum ersten Mal in meiner nunmehr seit über 20 Jahre andauernden Karriere als Lohnarbeitssklave eine Mittagspause und sprang mit Frau und Hund jeden Tag über Felder und durch Wälder. Außerdem verlagerte ich meine sechs Monate zuvor im Fitnessstudio (Buchprojekt Nummer 2, Arbeitstitel "Blasen im Kopf und dicke Knie - This locker room is bananas") begonnenen Trainingseskapaden nun ins Heimstudio, meine: den ans Haus grenzenden Schuppen mit einer von April bis September gemessenen Durchschnittstemperatur von nonchalanten 53°C. Es zeugt vielleicht nicht von gesteigerter Cleverness, unter diesen Bedingungen zu trainieren, aber ich fand's für die kommenden vier Monate einfach gut - und ich verstand plötzlich die aufs erste Hör bizarre Analyse meines ehemaligen Therapeuten, der mir im Jahr 2005 bei der versuchten Bewältigung des Beinahe-Exitus durch meinen zunächst prachtvoll herangezüchteten und dann auf der letzten Rille besiegten Hodenkrebses und bei meiner zweiten (und auch: letzten) Sitzung mit auf den Weg gab, ich hätte offenbar ein Problem mit Grenzen; und als ich abends um 21:30 Uhr nach 45 Minuten Vollsprint auf dem Ergometer und bei immer noch satten 40°C fast vom Sattel fiel, wurde mir bewusst: der Mann verstand vielleicht doch etwas von seinem Handwerk. Dazu wurden Vitamin D und CBD-Öl in Überdosierung gereicht - Grenzen, you know?! - außerdem schaute Herr Dreikommaviernull nach langer langer Zeit mal wieder im Kräuterladen vorbei und lugte etwas tiefer in den Verdampfer - und siehe da: es ging bergauf und es ging mir besser. Zumindest für eine gewisse Zeit.
Denn es kam, was kommen musste: Überwältigung strikes back. Zuerst wurde Fabbi krank (800 Euro Tierarztkosten, katsching), dann bekam er Flöhe (Danke, Tierarztpraxis!), dann wurde die Herzallerliebste krank - und der Arbeitsalltag schrie derweil immer hysterischer meinen Namen. Dazu blankes Entsetzen über den gesellschaftlichen Diskurs: kapitalistische Entmenschlichung, Verlust von gesellschaftlicher Solidarität, systemisch induzierte Ungleichheit und Ausgrenzung und außer Kontrolle geratene Empathielosigkeit waren so offensichtlich wie niemals zuvor unter den Schirm kapitalistischer Maximalverwertung hervorgekrochen und lagen in kristallklarer Auflösung vor unseren Augen - und was wir stattdessen auf die Titelseiten brachten und über was sich das Wellenbad der Narzisten auf den Social Media-Portalen empörte waren durch Nebelgranaten oszillierende Scheindebatten über die Deutungshoheiten eines Ulf "Freiheit" Poschardt, und das zweite Wasserstoffatom links hinter der Telefonzelle am Covid-19-Virus. Wir waren plötzlich nicht nur mehr 80 Millionen Bundesjogis, wir waren jetzt auch 80 Millionen Virologen und 80 Millionen Bundeskanzler sowieso und wer das misogyne Element deutscher Kleinhirngärtner (festkochend!) bis dahin vermisst hatte, der durfte entspannt durchatmen, denn da war es wieder: die Frau ist hässlich und hat keinen Pimmel, "Danke Merkel". Dabei hatte das Ehepaar Rebecca und Walter Mumsen aus Bumsi an der Hupf doch Antworten parat, für alle, für jeden - wenn man sie doch einfach nur mal gefragt hätte! Kirchen auf, Geschäfte auf, Restaurants auf, Urlaub am Ballermann, Masken töten Kinder, ist doch nur 'ne Grippe, und bei Depressionen mach doch mal einen schönen Spaziergang an der frischen Luft. Spätestens ab Mitte August waren die guten Vorsätze und die noch besseren Veränderungen in meinem Leben allesamt in der Pfeife geraucht. Den September und Oktober sah ich im Grunde nur durch einen dicken Grauschleier hindurch und das Wespennest unter dem Dach des Vorderhauses besorgte den Rest: die Mauer muss hoch, jedenfalls die, die mich vor großen Teilen der Außenwelt abschirmt. Und damit: schützt.
Denn sie, die Außenwelt, drehte mittlerweile komplett am Rad: was zu Beginn der Pandemie in Deutschland nur von einer sehr überschaubaren Zahl verstrahlter Vollidioten geäußert wurde, Pharmakartell, Impfpflicht, "Schweden, schaut doch mal nach Schweden!", Ausländer raus, Grenzen zu, wuchs über die Sommermonate, nicht zuletzt befeuert von sowohl geringen Fall- wie auch Todeszahlen, zu einem sehr laut erscheinenden und ubiquitär in (sozialen) Medien vertretenen, vielstimmigen Deppenchor, der plötzlich das bewerkstelligen und also erreichen konnte, was er ursächlich geplant hatte, sein einziges Ziel nämlich: Angst machen. Vor der Presse, der Politik, der Wissenschaft, der Polizei, der Menschen, der Unterdrückung, der Freiheit. Und weil einem die einheimischen Idioten ja noch nicht reichen, wurde selbstredend immer noch auf dieses seltsame Land auf der anderen Seite des großen Teichs geschaut: diese seltsamen Menschen wollen doch nicht etwa "Orange Sphincter" eine zweite Amtszeit schenken? Weil, ich sag's ganz offen, ich diesen Fuck-Up unmöglich nochmal vier Jahre ertragen kann. Es folgte: multinationales Doomscrolling auf Twitter, ein virtueller Schlaganfall nach dem anderen, plötzliche und überraschend ehrliche Liebe zu Angela Merkel (wenn man mir das vor 10 Jahren gesagt hätte, hätte ich auch einen Schlaganfall bekommen) und damit auch irgendwie verbunden: blanke Panik, welcher Fotzenfritz ihr wohl im Herbst 2021 nachfolgen wird. Nach sieben langen Monaten im Home Office und nahezu keinerlei Kontakten zur noch bei Bewusstsein seienden Außenwelt war es klar: wir müssen flüchten.
Und so verließen wir den Elfenbeinturm in Richtung Nordsee zu einem schon seit fast zwei Jahren überfälligen Urlaub. Im vergangenen Jahr machte uns die Tierarztrechnung von Fabbis Bandscheibenvorfall einen dicken Strich durchs Konto, dieses Jahr musste es einfach sein: wir müssen hier raus, wenigstens für ein paar Tage etwas anderes sehen, riechen, schmecken, fühlen. Wir krochen förmlich über die Türschwelle unseres Ferienhauses mit Sauna und Whirpool in einem klitzekleinen Minikaff in Ostfriesland. Wir hatten uns, ein paar Bücher, ein bisschen Musik, viel Kaffee und ein Stück Butterkuchen pro Tag. Es regnete oft und es war stürmisch, manchmal sackkalt und wenn nachts um 12 Uhr auf unserer Runde mit Fabbi die Straßenlaternen ausgeschaltet wurden, wurde es angesichts der totalen Finsternis in Verbindung mit Nieselregen und durch das schwache Licht der Taschenlampe ziehenden Nebelschwaden vor riesigen, halb zerfallenen und pechschwarz erscheinenden ehemaligen Scheunen auch ziemlich gespenstisch - jedenfalls für einen, der sich sowieso gerne viel und oft die Hosen vollmacht. Aber ich hätte diese zehn Tage für nichts auf der Welt eingetauscht. Es war glorious.
Fabbis seit Jahren anhaltende Angewohnheit, beim Anblick des Meeres auszuticken und also wie von der Tarantel gebissen herumzuderwischen, ist in dem folgenden kurzen Video bestens illustriert (es herrscht Leinenpflicht an diesem Deich, falls es jemanden wundern sollte) und der mit Kackbeutel in der Hand mit ihm herumrennende Typ ist...naja, ihr könnt es euch denken.
Wieder zu Hause galt es, die restlichen sieben Wochen bis Weihnachten irgendwie zu überstehen. Trump? Wahrscheinlich endlich weg, also gut. 75 Millionen Trump-Wähler sind aber immer noch da, schlecht. Die Deppen-Demos werden reihenweise abgesagt, gut. Die Fallzahlen steigen, die Klinikbetten sind voll, immer mehr Tote, schlecht. Heute mache ich mal wieder Mittagspause, gut. Das war aber auch die einzge Mittagspause im zweiten Halbjahr, schlecht. Ich habe neue Schallplatten bekommen, gut. Meine Band hat sich in diesem Jahr drei Mal getroffen, schlecht. Alle um einen herum sind gesund, gut. Gut, gut.
Und jetzt sind wie hier, am Ende dieses irrsinnigen Jahres 2020.
Ich möchte über die nächsten Wochen versuchen, mit der traditionellen Top 20-Liste mein musikalisches Jahr Revue passieren zu lassen. Musik war wie so oft der Rettungsanker in einem tobenden Meer - etwas zum Vergraben, zum Reflektieren, zum Loslassen, zum Freuen, zum Fühlen.
Es wird sicherlich auch in diesem Jahr ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen, bis wir bei Platz 1 angekommen sind. Man sieht es mir also bitte nach, wenn's mal wieder etwas länger dauert. Daran dürften sich treue Leser dieses Blogs aber allmählich so oder so gewöhnt haben.
Ich hoffe, es geht euch gut. Haltet durch. Es wird besser.
HOLY TERROR - GUARDIANS OF THE NETHERWORLD: A TRIBUTE TO KEITH DEEN
Wir kommen zum Abschluss der frisch aus dem Blogboden gestampften Rehab-Serie über die legendären Holy Terror und werfen den letzten Blick auf eine zum wiederholten Male obskur anmutende posthume Veröffentlichung der Band.
Im Jahr 2015 erschien dieser Tribut an den 2012 verstorbenen Sänger Keith Deen und was für die LPs von "El Revengo" und "Live Terror" galt, muss auch für "Guardians Of The Netherworld" gesagt werden. Für Die-Hard-Fans, Alles-Sammler und Vinylnerds gibt es vermutlich nur wenige aufkommende Zweifel hinsichtlich der Frage, ob dafür das Portemonnaie tatsächlich geöffnet werden sollte. Das größte Plus ist auch hier das Design, die Verpackung und die spürbare Liebe zu dieser Band: das Album erschien in einer auf 500 Stück limitierten Vinylausgabe mit drei Versionen/Farben (200 Stück in Rot, 200 Stück in Schwarz und 100 grüne Exemplare über den Shop von Dark Descent Records), ummantelt von einem 350g schweren, hochwertigen Klappcover mit exklusivem Artwork von Rick Araluce, der bereits die Designs für "Terror & Submission", "Mind Wars" und "El Revengo" kreierte. Hinzu kommen eine Fotocollage sowie ausführliche Liner Notes mit Erinnerungen und Erzählungen von ehemaligen Weggefährten Deens sowie Band-Intimus Scott Lambert und A.A.Mentheanga von Primoridal.
Musikalisch ist die Zusammenstellung vor allem wegen des erstmals auf Schallplatte/CD erhältlichen Demos mit vier Songs von 1986 interessant. Das gefühlt mehrere Wochen dauernde Intro "Blessed Sacrament" wurde für das Debut gestrichen, dafür fanden aber die Speedpeitsche "Black Plague", das an frühen US Metal angelehnte, mit tollen Gitarrenharmonien ausgestattete "Distant Calling" und der deutlich von der New Wave Of British Heavy Metal beeinflusste Klassiker "Guardians Of The Netherworld" den Weg auf "Terror And Submission". Klanglich ist das Demo im Vergleich mit dem später erschienenen Album zwar vor allem im Schlagzeug- und Gitarrenbereich etwas verwaschener und dumpfer, aber bei Weitem keine Katastrophe. Bemerkenswert sind allerdings die vor allem bei "Black Plague" zu hörenden Gesangsarrangements, die auf dem Demo dank einiger hinzugefügten Überblendungen und Harmonien sowohl ausgefeilter als auch melodischer sind. Leider wurden sie für die spätere Albumproduktion über Bord geworfen.
Über das Demo hinaus dürfen sich Fans auf weitere Liveaufnahmen freuen, dieses Mal von zwei 1988 mitgeschnittenen Konzerten in Washington DC und New Orleans. Ich freute mich besonders auf das in New Orleans gespielte "Mortal Fear", das es offenbar nur selten in die Setlist schaffte und auf "Live Terror" erst gar nicht vertreten war. Während die Soundqualität der Show in Washington für eine Soundboardaufnahme im Jahr 1988 unter Bootleg-Maßstäben (und etwas anderes sollte hier wirklich nicht angelegt werden) durchaus in Ordnung geht, ist der eingefangene Klang des Gigs in New Orleans selbst für hartgesottene Allesgutfinder wie meinereiner wenigstens diskussionswürdig - was in Hinblick auf "Mortal Fear" doppelt schade ist, weil damit die sich vor allem im Refrain zeigende Wucht der Riffs komplett in Luft auflöst. Gegen Ende des Sets habe ich den Eindruck, es würde etwas besser werden, aber vielleicht ist das nur die einsetzende Gewöhnung.
Ich erwähnte bereits in den vorangegangenen Beiträgen, dass die Aufteilung der in den letzten zehn Jahren erschienenen Alben und Zusammenstellungen Holy Terrors mit all ihren unterschiedlichen Versionen wirklich keine Ruhmestat, sondern ehrlich gesagt ziemlich ärgerlich ist. Da ist zwar einerseits der legitime Anspruch erkennbar, dem Vermächtnis dieser Band gerecht zu werden und ihre Musik gebührend zu feiern oder sie auch nur endlich verfügbar zu machen, andererseits wird ein selbst auf diesem kommerziell sicher alles andere als funkensprühenden Niveau ungewöhnlicher Geruch der ehrlosen Gewinnmaximierung deutlich. Die CD-Version von "Guardians Of The Netherworld: A Tribute To Keith Deen" hat eine im Vergleich zur Vinylfassug nochmals veränderte Tracklist und präsentiert anstatt des Gigs in New Orleans einen Mitschnitt von der 1987er Europatournee mit D.R.I. in Kopenhagen - immerhin in befriedigender Soundqualität. Und die 2017 auf Dissonance Productions erschienene Werkschau "Total Terror" (unter dem folgenden eingebetteten Bandcamp Player übrigens für schlappe 8 Euro zum Download zu bekommen!) bietet zwar beide Studioalben plus "El Revengo" nebst den auf "Live Terror" enthaltenen Livetracks, verzichtet aber komplett auf den "Guardians Of The Netherworld"-Tribut und ist damit ebenfalls unvollständig. Es ist zum aus der Haut fahren. Immerhin hat man dafür den passenden Soundtrack:
Ich kann hier nur spekulieren, aber es scheint, als hätte jemand im Umfeld der Band unterschiedliche Verträge mit unterschiedlichen Labels abgeschlossen und damit jeder Partei unterschiedliche Veröffentlichungslizenzen zugeteilt. Die Rechte für die Wiederveröffentlichung der beiden Studioalben als Paket im Doppel-CD Format wurden über den Zeitraum von 1998 bis 2009 an gleich drei Labels vergeben, die CD-Versionen von "El Revengo und "Live Terror" gingen an Blackend, die Vinylfassung hingegen an Back In Black, einem Tochterlabel von Let Them Eat Vinyl, das seine Schallplatten übrigens bei der traditionell mit der Qualitätskontrolle kämpfenden GZ Media pressen lässt. Das Vinyl von "Guardians Of The Netherworld" dürfen The Crypt herausbringen (die "Ugly" von Wargasm mit einem katastrophalen Masteringfehler zersägten), die CD ging an Dark Descent. Und schlussendlich wurde die nun gar nicht mehr so totale "Total Terror"-Box Dissonance Productions zugeteilt. Ich fasse also zusammen: zig Labels, zig Formate, zig Versionen, zig unterschiedliche Songlisten. Wer das alles kauft muss ja ganz schön bescheu...OH HALLO!
Am Ende fällt's dann aber doch, Selbstreflektion und -erkenntnis sei Dank, wieder mal schwer, mit dem Finger auf diesen Saustall zu zeigen und sich zu echauffieren, wenn der ganze Scheiß sich nun eben auf dem heimischen Plattenteller dreht und also gekauft wurde. Denn wenn's keiner kauft, wird's nicht produziert, das regelt eben der Markt und der Markt bin ich. Und Du. Und wir alle. Bis wir uns diesen systemisch so komplex wie banal zusammengedrechselten Schuh nicht endlich anziehen wollen, lauschen wir lieber dem Schweinesystem, das uns unentwegt "Schnauze!" zuruft und damit alles so leicht, einfach, hell und bunt macht. Und halten, genau: die Schnauze.
Wenn's perfekt läuft, freuen wir uns bis zum finalen Untergang wenigstens über die Musik.
Zum Abschluss des vorangegangenen Beitrags zur sehr bizarr kuratierten Zusammenstellung "El Revengo" kündigte ich einerseits bereits an, dass es noch etwas zu zwei bis drei Handvoll Liveaufnahmen Holy Terrors zu sagen gäbe, andererseits ließ ich mir auch sehr reflektiert ins Oberstübchen schauen und also durchblicken, nur totale Quatschköppe würden wirklich diese Schallplatten kaufen - und zu beiden Einlassungen darf ich nun mit dem mir eigenen schlichten Gemüt in Herz und Seele sagen: hier sind wir also. Und Olli "Golfball" Kahn ist auch da. Versprochen ist schließlich versprochen.
Parallel zur Veröffentlichung der Vinylversion von "El Revengo" im Jahr 2017 entschloss man sich bei Back In Black offensichtlich dazu, die zehn Jahre zuvor auf der CD/DVD-Ausgabe erschienenen Livesongs nochmal separat unter dem Titel "Live Terror" unter die Leute zu bringen. Für die Schnittmenge aus Holy Terror-Fans, Alles-Sammlern und Vinyl-Nerds ist das natürlich schön - zumal wie im Falle der "El Revengo"-Platte sowohl der Preis als auch die Qualität stimmt: "Live Terror" erschien als Doppel-LP auf Clear/Splatter-Vinyl im dicken Papp-Gatefold mit großen und schicken schwarz-weiß Bildern im Innencover und bedruckten (wenngleich ungefütterten) Inlays und kostet bei deutschen Versandhändlern gerade mal um die 18 Euro.
Die Aufnahmen stammen von Konzerten in Dendermonde (Belgien), Fort Lauderdale (Florida) und Mailand (Italien). Leider gibt es auch nach ausgiebiger Recherche keine verlässlichen Datumsangaben der jeweiligen Shows - ein auf Youtube hochgeladener und am Ende dieses Beitrags eingebetteter Audiomitschnitt eines Gigs in Dendermonde mit fast identischer Setlist und nur minimal abweichender Songreihenfolge ist auf September 1987 datiert und fand damit vor dem Release des zweiten Albums "Mind Wars" statt - eine Ansage Keith Deens vor "This Immoral Wasteland", dass es sich hierbei um einen neuen Song handele, den die Band noch nie zuvor live gespielt hätte, lässt Rückschlüsse zu, dass dieser Gig tatsächlich für "Live Terror" verwendet wurde. Dies wäre folglich zur Zeit der ersten Europatournee der Band gewesen, die sie im Vorprogramm von D.R.I. bestritt. Zu den restlichen Songs von den Shows in Florida und Italien gibt es leider gar keine weiterführenden Informationen.
Für echte Fans von Holy Terror sind die 14 Songs von "Live Terror" sicherlich ein Fest - nicht zuletzt, weil die Aufnahmen zeigen, wie tight die Band auf der Bühne spielte und welch ein guter Sänger Keith Deen selbst mit grob veranschlagten 18 Promille noch war. Vor allem die wahnsinnig intensiven Tracks des zweiten Studioalbums "Mind Wars", allen voran "Debt Of Pain" und das unwiderstehliche "Christian Resistance", klingen angesichts der unter den bestenfalls als prekär zu bezeichnenden Umständen der Aufnahmen und für das Jahr 1987 wirklich überraschend gut. Vor allem aber klingen sie live, unbearbeitet, roh - inklusive einiger Lautstärkeschwankungen, die sich auf das Album geschlichen haben. Wer ein Ohr auf die seit mindestens 20 Jahren im Metal-Mainstream veröffentlichten sogenannten Live-Alben wirft und sich angesichts ihrer klanglichen Generalüberholung inklusive der nachträglich hinzugefügten, peinlichen und stets überaus künstlich klingenden Zuschauerreaktionen nicht bereits bei Erstkontakt zunächst verascht fühlt und sich anschließend reflexartig vollkotzt, wird "Live Terror" also sicher verschmähen. Und das ist auch richtig so, whimps and posers, leave the fucking hall! Was allerdings ebenso richtig ist: es ist überhaupt nicht notwendig, die Unzulänglichkeiten einer besinnungslos ranschmeißerischen und in potemkinschen Dörfern Megaparties feiernden Metalszene heranzuziehen, um "Live Terror" in besserem Licht erscheinen zu lassen.
"Live Terror" ist das Zeugnis einer wahrhaft außergewöhnlichen und sehr zu Unrecht übersehenen Band.