19.01.2014

2013 ° Platz 11 ° Function - Incubation



FUNCTION - INCUBATION

Ganz "interessant", was die Gemeinde der Technojünger so alles in dieses Internet reinschreiben *tut-tut*, wenn die Rede von Functions Debutalbum ist. Wobei - vermutlich schreiben die Technojünger rein gar nichts ins Internet, weil sie am Tanzen, Leben und Lieben sind, jedenfalls hoffe ich das - was allerdings auch bedeutet, dass die Kommentarfunktion der einschlägigen Fachpresse in erster Linie wohl den Budengammlern in die Griffel fällt, die dem Glauben an die eigene Relevanz verfallen sind. Qua Definition könnte ich das auch über mich geschrieben haben, Abteilung "Reflektierte Selbstkritik". Bitte lachen Sie jetzt. Höhnisch.

Egal, zurück zum beinahe Wesentlichen: die einen finden Functions Livesets besser als seine Studioarbeit und glauben, dass Produzenten von "Technoalben" grundsätzlich zuviel auf Ambient machen. Die anderen bevorzugen das letzte Sandwell District Album, an dem David Sumner aka Function ebenfalls großen Anteil hatte, wieder andere - und jetzt wird's schön, beziehungsweise arschtraurig - empfinden Functions Sound angestaubt und nicht im Geringsten innovativ. Wie gut, dass ich mich um derlei inhaltliches Geplänkel in der Regel nicht kümmern und nur die Musik hören muss. Es ist zwar richtig, dass "Sandwell District" (der Preis ist übrigens beides: ein Witz und kein Witz) ein Jahrhundertalbum ist, das so oder so nur schwer zu toppen sein wird, und es ist auch richtig, dass ein sorgfältig ausgetüftelter Spannungsbogen jener originär für den Club kreierten Musik den Musiker ganz schön herausfordern kann. Dennoch muss man sich für "Incubation" keinerlei Sorgen machen. Sumner hat wie schon bei Sandwell District ein strahlend goldenes Händchen für die herausragende Dramaturgie einer Technoplatte, ein nicht zu unterschätzendes Element dieser Kunstform und nicht zuletzt eines, an dem so viele Produzenten scheitern. Es macht riesigen Spaß, sich das dunkle Märchen des elektronischen Zeitalters am Stück anzuhören, bevorzugt über Kopfhörer, ungestört und konzentriert. "Incubation" hält das aus. "Incubation" ist so reich und vielschichtig, dass selbst die eigentlich tödliche Länge von 60 Minuten ihm nichts anhaben kann. Die De:Bug schrieb in ihrer Rezension, die 60 Minuten wirken in ihrer Geschlossenheit eher wie eine Single als ein Album - und sie liegt damit goldrichtig.

Ich bezeichnete Functions Sound im April 2013 bereits als "Science Fiction-Techno", und tatsächlich ist es auch heute noch der Soundtrack zum Sternengleiten. Ein hypnotisches, zeitloses Manifest elektronischer Musik, schwer und dunkel, vielschichtig und komplex, mit einer in jedem Aggregatzustand fast physisch spürbaren Kraft und einem offenen Geist.

Erschienen auf Ostgut, 2013.

18.01.2014

2013 ° Platz 12 ° Lusine - The Waiting Room



LUSINE - THE WAITING ROOM

Lusines "The Waiting Room" war ein Spätzünder. Den Opener "Panoramic" hatte ich mir eigens für meinen semi-legendären "Songs des Jahres"-Sampler aus der Bumskatze herausgefummelt, der Rest des Albums erschien mir zur damaligen Zeit auf das erste Hören noch zu anschmiegsam und zu seicht. Nach einigen Wochen sprang mir die Scheibe eher zufällig nochmal aufs Radar und plötzlich hat's gefunkt, vermutlich war ich in diesem Moment besonders sensibel - und ich bin's offensichtlich bis zum heutigen Tag. Jeff McIlwain saust seit knapp 15 Jahren durch die Welt elektronischer Musik, zwischen abstraktem Ambient und fusseligem Glitch-Gefummel mit Pop-House Allüren hat es der Mann mittlerweile auf elf Alben und noch zahlreichere Singles und EPs gebracht. "The Waiting Room", wie alles ab 2004 stilsicher auf Ghostly International erschienen, ist in erster Linie ein großes Sammelbecken von unterschiedlichen Stilrichtungen, die sich untereinander zwar miteinander vermengen, sich im big picture aber zu rasiermesserscharfen Grenzen zusammenziehen. Das ist sehr einzigartig - und ein Beleg dafür, dass McIlwain seine Kompetenzen wie selten zuvor gebündelt und mit "The Waiting Room" ein großflächiges Kunstwerk geschaffen hat, das mit großer Lässigkeit und Empathie in jeden Winkel meines Herzens ausgerollt wird.  Das Highlight dieser Platte ist übrigens die Coverversion des alten Electronic-Hits (Johnny Marr!) "Get The Message",  das die wunderbar melancholische Melodie des Originals mit kühler Entrücktheit verheiratet und damit auch problemlos auf  einem Label wie Morr Music hätte erscheinen können. 

Solange mir bis zum nächsten Frühjahr (und das klopft ja schon ziemlich bald and die Hütte) nichts Vergleichbares unterkommt, könnt ihr sie öfter in meiner Hood, auf meiner Terrasse, direkt neben der Kaffeemaschine hören. Ich muss bis dahin nur überlegen, was ich mit den ganzen Wespen anstelle.

Erschienen auf Ghostly International, 2013.

14.01.2014

2013 ° Platz 13 ° Absolute Boys - Heavy Flow



ABSOLUTE BOYS - HEAVY FLOW


Es scheint, als sollte dieses australische Trio eines der besser behüteten Geheimnisse des Musikjahres 2013 bleiben, aber nicht mir mir, Freunde! Ich hatte die Buben bereits im September hier auf 3,40qm kurz vorgestellt, und es war ziemlich schnell klar, dass es nicht bei dieser einen Erwähnung bleiben sollte. Ich bin Fan, und "Heavy Flow" ist zweifellos eine der schönsten Platten des Jahres. Nach dem Release dieses Debuts im vergangenen April scheint sich allerdings außer den beiden Gigs im November 2013 in Melbourne und Sydney nicht so irrsinnig viel bei ihnen getan zu haben; die Band macht sich darüber hinaus auch im Netz durchaus rar. Eine knappe Handvoll Videos auf Youtube, zwei Links zur Soundcloud und einen offensichtlich seit längerem nicht mehr aktualisierten Blog (mit sehr ärgerlichen Poserbildern vor aufgespießten Schweinen über dem Grill) - "that's it!" (Kristina "Knutschnuss" Köhler). Den vom Label erwähnten "Buzz" um das Trio hat es offensichtlich nicht in die zivilisierte Welt geschafft und blieb stattdessen in diesem seltsamen Australien, wo sie Koalabären fressen und mit ihren Hausspinnen Gassi gehen und also einfach auf die Straße kacken, weil sie kein fließend Wasser haben. Oder so.

"Heavy Flow" ist ein romantisches, verträumtes, manchmal noisiges und ganz sicher verhalltes Etwas, geradewegs aus dem Postpunk-England der frühen achtziger Jahre herausgehopst. Viel Wave, viel Sahnedickicht, viel Echo - dafür glücklicherweise keine perlenden Johnny Marr Gedächtnisgitarren, sondern eher eine minimalistische, aber nicht ganz so arg verschrobene Young Marble Giants-Ästhetik mit schwülen Endlosgitarrenwürmern im Nebel, kompositorisch manchmal beeindruckend nah dran an der Champions League.

Erschienen auf Bedroom Suck Records, 2013.

12.01.2014

2013 ° Platz 14 ° Lapalux - Nostalchic



LAPALUX - NOSTALCHIC

"Nostalchic" hat mich geradewegs verfolgt, es war eine der hartnäckigsten Scheiben, die sich 2013 im "Neue Besen kehren gut"-Fach aufhielten. Ich glaube, auch gerade jetzt im Rückblick und beim neuerlichen Hören ist es auffällig, dass ich die Platte um jeden Preis verstehen und lesen können wollte. Das mag man jetzt für verkopften Mist halten, aber im Grunde ist das Gegenteil der Fall: manches auf diesem Debut ist so hingebungsvoll schön, durch und durch mit Licht geflutet und zum Sichdrinsuhlen - das wollte ich einfach möglichst lange bei mir behalten, selbst wenn sich mal nichts auf der Abspielvorrichtung drehte. Dabei ist "Nostalchic" für die üblichen irren und wirren Verhältnisse von Brainfeeder praktisch ein Album mit Kinderliedern. Allerdings welche, die erst im Jahr 2083 veröffentlicht werden und dann mit diesem Gefuchtelcharme von generalüberholten, ausgefetzten, und im Anschluss wieder zusammengeschweißten und miteinander verquirlten R'n'B- und Soulklassikern der Ulla und dem Lutz im Kindergarten die Köpfe verdrehen. 2014 hingegen könnte man beispielsweise sagen, und Achtung, ich sag's jetzt sogar tatsächlich, dass, wenngleich "Nostalchic" Musik nicht neu definiert, mir andererseits nichts ferner liegt, als von bloßem Eklektizismus zu schreiben. Stuart Howard hat ein prima ausgeprägtes Gespür für das große atmosphärische Zusammenspiel von Beats, Melodie und lyrischen Punchlines, er arbeitet ohne stilistische Fixpunkte und ist zeitgleich überall und nirgendwo in Melancholia unterwegs. Wer das angesichts von funkelnden Schwebeteilchen wie "Swallowing Smoke" oder dem von tiefer Romantik erzählenden "Dance" öde oder gar ziellos findet, hat bloß nicht richtig hingehört. Keine Bange, das lässt sich ändern.

Erschienen auf Brainfeeder, 2013.

11.01.2014

2013 ° Platz 15 ° Kayo - The Revolution Was Not Televised - A Tribute To Gil Scott Heron



KAYO - THE REVOLUTION WAS NOT TELEVISED
- A Tribute To Gil Scott Heron

Einer der schnellsten Impulskäufe des Jahres, ach was: des Jahrzehnts, war dieses kleine Album des französischen Beatschmieds und Produzenten Kayo, der mit seinem Mix dem im Mai 2011 verstorbenen Gil Scott Heron gedenkt. Trotz meiner ausgiebigen Auseinandersetzung mit der Musik des visionären Soulmonsters, der mittlerweile und in aller Seelenruhe in meine Hall Of Fame eingezogen ist und mir soviel inspirierende und besondere Momente brachte wie kaum jemand sonst in den letzten zehn Jahren, fühle ich mich immer noch als Frischling in seiner Welt. Und immer, wenn es etwas Neues zu entdecken gibt, bin ich wieder genau der 14-jährige Typ von damals, der aufgeregt auf seinem Stuhl hin- und herrutscht, wenn seine Helden aus dem Grunge-Zeitalter eine neue Platte ankündigten. Haut ihr mir bitte alle (!) eine runter, sollte ich irgendwann mal so scheiße abgebrüht zum Oberloggerpeter werden, den irgendwie nix mehr juckt? Es ist die schiere, naive Begeisterung, die meinen Kopf über Wasser hält.

Jedenfalls: ich sah' die Platte und - ich glaube, ich dachte noch nicht mal nach - musste sie natürlich sofort kaufen. Kein reinhören, kein doppeltes Netz, die 10 Euro schneide ich mir vom wöchentlichen Besuch des Bio-Markts ab, dann gibt's halt einen superdupermegabiologischfairverpackten Radicchio weniger, sag' ich immer. Ich sollte es, natürlich: nicht bereuen. "Der Franzose kann's"(Franz Beckenbauer) - ein zurückgelehntes, aber keinesfalls diffuses Album auf der Basis alter Tunes von Heron, größtenteils und bis auf kurze und wenige Samples instrumental (was zugegebenermaßen die politische Strahlkraft von Herons Lyrik ausbremst), beatlastig, warm-rötlich schimmernd und schwankend, musikalisch vielschichtig und anspruchsvoll. Wenn die Spiritual Jazz-Bewegung der siebziger Jahre schon Hip Hop gekannt hätte, dann hätten "Elevation" (Pharaoh Sanders) oder "Eternity" (Alice Coltrane) vielleicht schon so ähnlich geklungen - wenngleich der Jazzpurist nun womöglich aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweise aufschreien wird - was mir immer noch ziemlich egal ist. "The Revolution Was Not Televised" ist eine tiefe, persönliche  Verbeugung vor dem Werk Scott-Herons, mit viel Anerkennung und Augenmaß. Was nicht immer mit einem Stein in der Hand eskalieren muss. Es reicht, wenn man weiß, dass der Stein exisitiert und sorgsam geschliffen wird.

Erschienen auf Albatros Music, 2013.

07.01.2014

2013 ° Platz 16 ° Quiet Evenings - Impressions



QUIET EVENINGS - IMPRESSIONS

Wenn ich für gewöhnlich von Sommerplatten im Hause Dreikommaviernull spreche, dann ist nicht selten jene Musik gemeint, für die ich gemeinhin etwas schräg angeschaut werde, wenn ich meine Zuneigung offenlege. Das mögen Techno-, House-, Downbeat-, oder - mit etwas Mut zum verbotenen Wort: Pop-Alben sein, manchmal auch einfache Indiegeister, die einen Nerv vor allem in der warmen Jahreszeit treffen. In der ich mich übrigens am liebsten treffen lasse. Winter und Herbst können mich mal. Aber sowas von.

Die zweite LP von Quiet Evenings, dem Projekt des Ehepaars Grant and Rachel Evans, unter anderem sind die beiden auch unter den Bannern Nova Scotian Arms und Motion Sickness Of Time Travel tätig, passt nicht wirklich in die oben genannte Aufzählung. Dennoch: "Impressions" lief vor allem während der Post-Umzugsphase erstaunlich regelmäßig in den ruhigen, lauen und abgekühlten Abendstunden, in erster Linie deshalb, weil es mich so wunderschön hinfort trug wie allerhöchstens ein heißes Bad im Hanföl (no pun intended). Aber auch zum gemeinsamen Frühstück mit der Herzallerliebsten, im strahlenden Sonnenschein und inmitten von verkleisterten Pinseln, Laminatresten und wegen Stress drastisch abhaarenden Katzen machte "Impressions" einfach alles richtig. Dabei ist es kein leises Werk, und das Duo begeht nicht den Fehler, sich in die dezibellangen und tonlosen Legionen des Ambient-Drones einzureihen. "Impressions" ist Science Fiction und bisweilen sogar humorig blinkende Hochtechnologie aus Klang; hier fangen drölfbeinige Sauerkrautmonster mit Klaus Schulze Quallen im Höchster Stadtweiher um sie zu umarmen und ihnen den Weg in den Atlantik mit ausgetreuten Rosenblüten zu weisen. Anschließend funkeln sie drei Mal mit der Taschenlampe in den Himmel und Jean-Luc Picard beamt sie auf ein Raumschiff, das sie in den Deltaquadranten bringt (Achtung, finde den sachlichen Fehler!). "Impressions" hat Seele. Tiefe. Eleganz. Und unbedingte Dringlichkeit.

Erschienen auf Aguirre Records, 2013.

05.01.2014

2013 ° Platz 17 ° Plankton Wat - Drifter's Temple



PLANKTON WAT - DRIFTER'S TEMPLE

Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich hinter das Ofenrohr von "Drifter's Temple" schauen konnte. Das neue und aktuelle Album des, nennenwirihnmal: Ambientgitarristen Dewey Mahood erschien mir zunächst viel zu konkret und strukturiert, allerdings bin ich durch die löchrige und im rauhen Meereswind spröde flatternde Klangtapete "Spirits" auch vorgeschädigt, um nicht zu sagen auf beschämende Art und Weise voreingenommen. Aber ich ließ den guten Mann mit seiner noch besseren Gitarre nicht fallen, ganz im Gegenteil: "Drifter's Temple" landete immer öfter sowohl auf dem Plattenteller als auch auf dem Klingelknochen mit Touchscreen und von dort aus im Auto. Bei nächtlichen, kühlen und längeren Fahrten im Spießergolf, vorzugsweise nach der lauten und anstrengenden Bandprobe, wuchs das Album fast schon über sich hinaus. Es beruhigte, öffnete und verwandelte selbst die Begrenzungspfosten am Rande der Autobahn zu melancholischen Manifestationen des eigenen Stillstands. Im Gegensatz zu seinen früheren Arbeiten, die aus improvisierten Sessions heraus entstanden und nachträglich bearbeitet wurden, ist "Drifter's Temple" aus Proben und Liveauftritten gewachsen, haben sich seine Songs im Zeitraum von einem Jahr zigfach gehäutet und entwickelt. Insofern ist meine eingangs geäußerte Beobachtung so falsch nicht, denn "Drifter's Temple" ist das detaillierteste und ausgereifteste Werk des Musikers aus Portland. Immer noch sehr naturverbunden, inspiriert und einen ganzen Zug psychedelischer als das, was ich bisher von ihm kannte, wenngleich sein Spiel und sein Klang trotzdem noch jederzeit identifizierbar sind. Ich möchte den Typen in meinem Universum nicht mehr missen.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2013.

04.01.2014

2013 ° Platz 18 ° Jessy Lanza - Pull My Hair Back



JESSY LANZA - PULL MY HAIR BACK


Die Spex, nach der Intro die unerträglichste aller Checkercliquen im trüben musikjournalistischen Abwasserauffangbehälter, bezeichnete das Debut dieser kanadischen Dame als "Entwurf von Pop als intelligente Lebensform", und nachdem ich die Kotzebrocken mit den Fingern durch den Ausguss gedrückt habe, können wir ja mal schauen, was davon übrigbleibt, wenn die Nadel im Kopf wenigstens schwach vor sich hin glimmt. Erstens ist Lanzas Debut grundlegend kein Entwurf, sondern im Gegenteil ein ziemlich finales Statement aus dem Destillat von dreißig Jahren Soul, Funk, Blues und elektronischer Clubmusik. Zwotens: es muss nicht immer alles Pop sein, was nicht bei "Drei" auf den Bäumen sitzt, nur um mutmaßliches Verständnis von kulturellen Zusammenhängen wie ein zerlaufendes Ed von Schleck-Eis aus der Hose hängen zu haben, in der Hoffnung, die unkritische Masse leckt's einem schon irgendwie vom schlaffigen Faltensack. Drittens: Pop ist keine Lebensform und er wird auch durch einen Entwurf nicht zu einer solchen. Viertens: ausgerechnet die Spex schmeißt 2013 noch das Pop-Stigma hoch, dass Popmusik nur von Amöben und niederen Pilzen goutiert werden kann?  Bitch, please...?!

Lanzas gemeinsam mit dem Junior Boys Mitglied Jeremy Greenspan sorgfältig erdachte Kompositionen erscheinen zunächst distanziert und kühl, wie sie sich so entstrüppt und befreit von Anbiederungskopfnicken durch die ersten Minuten des Albums schlängeln, allerdings fungiert spätestens die kleine Discohymne "Keep Moving" als Türöffner zu der Erkenntnis, dass dieses elegante und distinguierte Werk die mutmaßliche Distanz zum Hörer nur als Fata Morgana aufrechterhält. "Pull My Hair Back" ist also viel mehr die zaghafte Nebelmaschine zum intelligenten [sic!] Themenkomplex "Sexy, funky Fuckers", und das ikonenhafte Artwork - eines der schönsten des Jahres, wenn man mich fragt - fügt sich ganz hervorragend in das Bild einer zarten, und doch überaus selbstbewussten Musik ein.

Erschienen auf Hyperdub, 2013.

03.01.2014

2013 ° Platz 19 ° Myron & E with The Soul Investigators - Broadway



MYRON & E WITH THE SOUL INVESTIGATORS - BROADWAY


Ich hatte während meines Umzugs im Juli und August und im Zuge der notwendigen Umbau- und Renovierungsarbeiten in der neuen Behausung nicht nur eine, sondern gleich vier sogenannte Sommerplatten, und "Broadway" ist eine davon. Mit Ausnahme des vor allem textlich etwas deprimierenden Openers "Turn Back" strahlen auf "Broadway" zehn 60s Soulperlen im besten Motown-Stil um die Wette ("To me, that was the greatest music that ever existed." - Myron), die furchtbar entspannt durch diese immer lauter und anstrengender werdende Welt schwappen. Das kalifornische Gesangsdoppel wird dabei von den finnischen Soul Investigators unterstützt, von denen Experten sagen, keiner spiele diesen klassischen Sound so authentisch wie sie. Die Menanan Street Band, die den Screaming Eagle Of Soul Charles Bradley begleitet, wird das nicht gerne hören, aber die beiden Bands bewegen sich zumindest in ihren aktuellen Inkarnationen auf leicht unterschiedlichem Terrain. Die Soul Investigators interpretieren ihren Job smoother und wärmer, während die New Yorker Menahan Street Band schärfer und rauher klingt - wohlgemerkt jeweils passend zu ihren Sängern. "Broadway" ist ein Sack voll sonnengereiftes Seelenfutter, optimistisch, erdverbunden und positiv aufgeheizt. Unverzichtbar bei Autofahrten in den Baumarkt, wenn auch bei 38°C Außentemperatur lieber das Fenster runtergekurbelt wird, anstatt die öde Klimaanlage zu benutzen.

Erschienen auf Stones Throw, 2013.

01.01.2014

2013 ° Platz 20 ° Popstrangers - Antipodes



POPSTRANGERS - ANTIPODES

Ein Überraschungsgast eröffnet den Reigen meiner Top 20, immerhin ein Gast, auf den ich ohne ein "Sonderangebot!" kreischendes Neonblinklicht wohl niemals aufmerksam geworden wäre. Die Popstrangers sind ein Indierock Power Trio vom Ende der Welt, genauer gesagt aus Neuseeland, und sie klingen wie aus einer Zeit geplumpst, die mir aus heutiger Sicht so verführerisch erscheint wie das vermeintlich sorgenfreie Leben im Nest der Eltern. "Antipodes" ist ein seltenes Juwel in der heutigen Indierockwüste: pur und unverfälscht, nicht verwässert von Style und Image, sondern so aufrichtig, wie Indierock in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren eben noch war, bevor auch diese Bastion zusammen mit der Erfolgswelle des Grunge und des sogenannten Alternative Rocks in die Hände der Industrie fiel - und damit die Unschuld verlor. Eine rohe, kaum glattgebügelte Version des Indierocks mit psychedelischen, verhallten Sounds, noisigen und punkigen Stimmungsschwankungen für die Wechseljahre und manchmal überwältigend schönen Hooklines und einer Stimmung, die mich geradewegs dorthin zurückbeamt, als Musik noch Leben retten konnte. Ich weiß nicht, ob die heutige Generation damit noch was anfangen kann, aber wer den kindlich-naiven Spirit der damaligen Zeit zwischen Häusle baue, Krawattennadeln sammeln, Kinder hüten und dem freshesten Rentenfond-Portfolio noch aus der hinterletzten Ecke des Hirnkastels freischaufeln kann, der hat mit "Antipodes" ganz bestimmt seine helle Freude.

Erschienen auf Carpark, 2013.

31.12.2013

Narcotica Paradiso



GRACER - VOICES TRAVEL

Die Stilbeschreibung "melancholischer Rock" lässt einem vorab nicht viel Spielraum, um einer Platte ohne Vorurteile zu begegnen. Nickelback sind eben immer noch allgegenwärtig. Dass "Voices Travel" vom ehemaligen Elliott Mastermind Kevin Ratterman produziert wurde, entschärft die Lage dann doch etwas.

Vor nunmehr fast acht Jahren haben Revelation Records etwas ausgegraben, was man damals wie heute nicht mehr alle Tage hört. Einen Sound, der Mitte der Neunziger für kurze Zeit angesagt war, dann aber über die Jahre vom weitaus mainstreamigeren New Rock weggespült wurde. Gracer aus New York spielen fragilen, sehr melodischen und souverän-unaufgeregten Indierock. Hervorgegangen aus den beiden Long Island Bands On The Might Of Princes und Lux Courageous, vereinen Gracer Elemente ihrer Vorgänger zu einem zwar über weite Strecken ruhigen Album, das sich dennoch erfreulich von weinerlichem Herumgenöle fernhält.

Wer nun indes an "erdigen Rock" denkt, wird ebenfalls nicht fündig. Gracer bewegen sich genau in der Schnittmenge der beiden Extreme und fahren damit erstaunlich sicher und kompakt. Besonders die erste Hälfte von "Voices Travel" mit den beiden Sternstunden "Esperanza" und "Waiting For Departure" überzeugt. Die Gitarren erhalten mit ihren wunderbaren Arrangements ein wenig mehr Freigang, die Gesangsmelodien treffen mit ihrem melancholischen Unterton immer den richtigen Nerv, um sich wohlig in die Decke zu kuscheln. Immer, wenn Gracer ihren Songs eine Prise mehr Punch verleihen, wachsen sie über sich selbst hinaus, wie auch im feinen "Fires We Set", dem mitreißendsten Song des Albums.

Auch wenn die zweite Albumhälfte die Qualität der ersten Minuten nicht halten kann: wer Elliott und Mittneunziger-Gitarren-Indierock immer noch hinterhertrauert und bei melancholischem Rock nicht gleich die Dauerwelle von Chad Kroeger föhnt oder - noch schlimmer - an fucking Coldplay denkt, findet hier mit Sicherheit sein Glück.

Erschienen auf Revelation Records, 2006.

24.12.2013

Das war 2013 - beziehungsweise eben nicht

“How did it get so late so soon? It's night before it's afternoon. December is here before it's June. My goodness how the time has flewn. How did it get so late so soon?” 
Dr. Seuss

Der Rückblick auf das Jahr 2013 fällt schwer, sowohl der musikalische, als auch der persönliche. Es fühlt sich halt auch gar nicht nach Jahresende an, es ist nicht die Zeit für einen Rückblick, es ist doch praktisch erst Sommer?! Ich hatte doch eben erst noch über meine letztjährige Nummer eins geschrieben, über Propagandhi - und, großer Gott, lass es zwei Tage her sein, da war ich doch auf ihrem Konzert in Köln. Come the fuck on?!

Das Konzert war im April und meine warmen, weisen, wegalen Worte zu "Failed States" schrub ich im Februar. Was davor, dazwischen, danach kam, war schneller wieder weg als dieser komische Hautausschlag im September. "Komisch, für sowas hab' ich ein Gedächtnis."(Loriot).

2013 begann stilecht mit der wunderbarsten Grippeerkrankung seit Jahren, mit tagelangem Fieberscheißdreck und Schüttelfrost, und weil ich so ein positiver Mensch bin, schwenke ich trotzdem ganze zwei Mal das "Glück im Unglück"-Fähnchen, denn erstens wurde mir der jährliche Weihnachtsfamilien-Zinnober erspart, zweitens nahm ich dank der Temperatur von 39,5°C über volle sieben Tage volle vier Kilo ab und startete damit gleichzeitig das Projekt "UHU". Eingeweihte wissen, was ich meine, der Rest soll's halt in Gottes Namen googeln. Der Arbeitseinstieg nach zweiwöchiger Krankheit wurde indes genau die Katastrophe, nach der es sich anhört - ich hasste es. Ich glaube nicht, dass ich zu jener wirklich klinisch depressiv war, aber depressive Tendenzen stellte ich eindeutig fest. Der Höhepunkt dessen war erreicht, als ich für drei Tage "geschäftlich" (so sagt man das als total abgefahren in seine Arbeit verknallter Hornochs', oder?) nach London musste: ich betrat ein Flugzeug gegen meinen Willen, was eine ähnlich qualitative Aussage ist wie beispielsweise "Wasser ist Nass" oder "Markus Lanz besteht zu 99% aus Schleim, der Rest sind Haferflocken", wurde mit rund 500 Arbeitskollegen aus ganz Europa in einem viel zu kleinen, dafür aber absurd weitläufigen Hotel eingepfercht, und alleine das Einchecken mit all dem Gekrähe und Schulterklopfen empfand ich als einschüchternd und demütigend, von den Animationsmätzchen mal ganz zu Schweigen, und aß über drei Tage das einzig vegane Gericht des Hauses: halb durchfrittierte/gefrorene Kartoffelrösti mit trockenem Salat. Hut ab, diese Briten!

 Wenn man es dann mal ausdrücklich von seinem Körper erwartet, er möge mir im übertragenen Sinne mit einer Eisenstange den Kopf verbeulen und mich für mindestens vier Wochen aus dem Verkehr ziehen, passiert natürlich gar nichts. An die kommenden drei Monate kann ich mich wirklich ums Verrecken nicht mehr entsinnen (bis auf das erwähnte Konzerterlebnis in Köln), der Mai verschwindet um ein Haar in einer jobbedingten schwarzen Wolke, die dieses Mal immerhin so dunkel und verdunkelnd war, dass ich mich daran natürlich noch ausgesprochen exklusiv erinnere.

Im Juni trafen die Herzallerliebste und ich die ersten Umzugsvorbereitungen - unvergessen der Samstag, an dem wir um 4 Uhr morgens und nach drei Stunden Schlaf aufstanden, um unseren ausrangierten und für die Mitnahme in die neue Höhle nicht vorgesehenen Krempel auf einem Frankfurter Flohmarkt zu veräußern, ich am selben Nachmittag um 17 Uhr von den Jungs aus der Band abgeholt wurde, wir nach Kusel fuhren, um einen Gig zu spielen, und ich also Sonntagmorgen um 5 Uhr zu Hause ankam und damit 25 Stunden am Stück wach war. Liebe Leser, es ist ein höchst amüsantes Spiel, das der Körper in solchen Momenten mit einem spielt, vor allem, wenn man keine 20 mehr ist. Allerdings nicht amüsant genug, um es so schnell zu wiederholen. Außerdem stand ein Besuch in Tübingen auf dem Plan, um gemeinsam mit Freund Jens Bonobo anzuschauen, der auf der beschaulichen Waldbühne des Sudhauses gastierte.

Die zweite Jahreshälfte lässt sich schnurstracks abhandeln: Umzug, Umzug, Arbeit, Arbeit. Es blieb wirklich nicht mehr viel Zeit für irgendwas anderes, und wenn doch, dann habe ich es vergessen. Was blieb: Blank When Zero spielten in der zweiten Jahreshälfte noch zwei besondere Konzerte - eines sogar in der verbotenen Stadt Köln und mit Andreas als Gastbassist für den verhinderten Marek, der sich gerade auf die Geburt des zweiten Kindes vorbereitete. Den zweiten Gig spielten wir nur zwei Tage später in Mainz, der vor allem deshalb besonders war, weil Simon und ich unseren Kram nur zu zweit herunterzockten. Ich weiß nicht, woran es GENAU lag, aber das waren die schnellsten 20 Minuten der Welt. Ich kam fast noch nichtmal ins Schwitzen. Aber eben nur fast.

Das Konzert des Jahres 2013 sah ich im November im Frankfurter Bett bei Oddisee, der mit einer kompletten Band aus fünf grandiosen jungen Jazzmusikern tourte und der entgegen der Vorurteile, die auch ich gegenüber zeitgenössischem HipHop hege und pflege, durch einen mit positiver Power aufgeladenen Abend führte und mich damit einigermaßen aus meiner Einigelsuppe herausholte.

Die Frau des Jahres ist nun seit mehr als vierzehn Jahren die Frau an meiner Seite, ohne die dieses Leben nicht mehr vorstellbar wäre. Blindes Verständnis, großes Vertrauen. Große Liebe.

Was uns nun zu den Platten des Jahres führt. Es folgt der Standardsatz zum Jahresende, wir tauschen allerdings die Jahreszahlen aus: das Jahr 2013 war musikalisch das beste Jahr seit 2012. Und es sollte schon mit dem achtschwänzigen Hoeneß zugehen, wenn wir hier nicht zwanzig Exemplare finden, über die in den kommenden Wochen das gefürchtete Geschwurbel herabschwurbeln wird. Passend zur Einigeltaktik der Lebensrealität, denn am Wochenende verlasse ich nur noch unter Androhung von Waffengewalt das Haus, ist mir in diesem Zusammenhang aufgefallen, wie weit ich mittlerweile von dem entfernt bin, was "man" so "mittlerweile" "alles" "hört". Was man nun bitteschön ausdrücklich nicht als Exklusivitätsglibber missverstehen soll - aber die vor einigen Jahren getroffene Entscheidung, weder Musikmagazine noch Webzines zu lesen, mir also auch nichts mehr durch einen Filter hindurch vorschlagen oder aufdrängen zu lassen, sondern die monatliche Kaufentscheidung einzig und allein von meiner Intuition abhängig zu machen, hat besonders im beinahe abgelaufenen Jahr dazu geführt, dass ich mich mittlerweile wirklich nirgends mehr wiederfinden konnte. Das fällt während des Jahres nicht groß auf, aber wenn jetzt im Dezember die Jahresbestenlisten auf uns einprasseln, dann ist's vor allem deshalb diskussionswürdig, weil überall derselbe Brei präsentiert wird. Dieselben Bands, dieselben Alben. Meinetwegen alles genreabhängig, aber innerhalb eines Genres hat man den Eindruck, es wären wirklich nur diese 50 oder 100 Platten veröffentlicht worden, die jedes Schmierblatt, sei's nun gedruckt oder virtuell, in ihre Werbelisten für die Werbeanzeigen schaltenden Labels reinschaufelt. Und ich bin diese in erster Linie wirtschaftlich bedingte Konsenssoße an diesem anbiedernden und manipulativen Hipsterrotze-Risotto sowas von leid. Es ist zum Kotzen.

Zeit für ein kleines bisschen Gegengift.

"Du kannst vielleicht nichts bewirken, aber zu kannst dem Wahnsinn zumindest zwanzig Plattenkritiken entgegenhalten, mit diesen gewaltsam auftrumpfenden schwarzen und grünen Rhythmen, so als explodiere ein sehr junger Schutzmann." 
H.Schmidt

Ich wünsche Euch friedliche und besinnliche Weihnachten.

20.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 1



Platz 1:
DARK ANGEL - TIME DOES NOT HEAL


"9 songs, 67 minutes, 246 riffs!" (Sticker auf der US-amerikanischen LP-Ausgabe)


Oh Mann, diese Band. Und diese Platte. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß es wirklich nicht. 22 Jahre gemeinsame und bewegte Geschichte sind nicht so leicht zusammenzufassen.

"Time Does Not Heal" ist das letzte Studioalbum des Quintetts aus Kalifornien. Ich kaufte mir das Doppelvinyl kurz nach Erscheinen im Frühjahr 1991 im Franfurter Saturn-Hansa in Frankfurt-Bornheim. Die Erinnerung ist weniger der guten Gedächtnisleistung meinerseits, als viel mehr dem Preisschild auf der Rückseite des Covers zu verdanken. 21,95 DM liefen damals trotz Doppelalbum unter "ganz schön teuer", heute ist's ein Witz. Da ich spätestens ab Mitte der 90er wie viele meiner Generationsgenossen der Musikindustrie genauso auf den Leim gegangen bin, wie's die heutige Generation der Jung- und Altgebliebenen dank MP3 und Spotify-Schwachsinn tut - da merkt man dann ja schon, dass wir alle gleich bescheuert sind - und also meine schönen Vinyle wenn schon wenigstens nicht verkaufte, dann aber doch zugunsten der CD im Schrank stehen ließ, musste ich irgendwann UNBEDINGT "Time Does Not Heal" auf CD haben. Für meine jüngeren Leser (haha!) muss ich dazu sagen, dass wir damals kein Internet hatten um mal eben das übriggebliebene Exemplar in Kuala Lumpur mit drei Mausklicks einfliegen zu lassen. Tatsächlich wussten 1994 nur die Wenigstens, was überhaupt nur Mausklicks sind. Und ob Kuala Lumpur nicht doch eine neue Kaffeesorte von Eduscho ist.

Was blieb: alle fünf Tage im Frankfurter Musikladen reinschneien und fragen, ob die Bestellung denn mittlerweile angekommen sei: *gelächter*. Auf Plattenbörsen sorgte ich ebenfalls über Jahre für großes Hallo, wenn ich die Frage aller Fragen stellte:"Kannst Du irgendwie die "Time Does Not Heal" auf CD auftreiben?". Es wurden Telefonnummern ausgetauscht, ich sprach mit komischen Typen (die in erster Linie komisch waren, weil sie ihren Kram auf Plattenbörsen verkauften), die wieder komische Typen kannten. Der Mythos um diese Platte wurde durch Sätze wie "Der Cousin meiner Frau sei'm Onkel hat die neulich in einem Kiosk in Neuharlingersiel gesehen, warte mal, ich habe die Fax(!)nummer..." nur noch ärger angeheizt, und bevor jetzt jemand die Stirn runzelt und sich fragt, ob ich nicht wieder mal maßlos übertreibe: ich übertreibe nicht. Ich fand sowohl "Time Does Not Heal" als auch die beiden anderen als verschollen geglaubten CD Versionen des Debuts "We Have Arrived" und des Nachfolgers "Darkness Descends" Ende der neunziger Jahre für einen obszönen Geldbetrag, bevor die Dinger ein Jahr später wiederveröffentlicht wurden. Dann kam Ebay um die Ecke und dann war eh alles zu spät. Muss es in meinem Kopf damals dunkel gewesen sein, wa?!

So, nun ist's ja aber so: ich bin kein Sammler in dem Sinne, dass ich Platten kaufe, damit ich sie habe. Ich kaufe mir Platten, weil ich sie mag. Was ich nicht mag, wird nicht gekauft. Und jetzt müsst ihr eins und eins zusammenzählen: meine Liebe für dieses Album ist nur ein bisschen besorgniserregend.

Thinking Man's Thrash Metal

"Time Does Not Heal" ist das progressivste, komplexeste Thrash Metal Album aller Zeiten. Die überlangen Songs, die nicht selten an der 10-Minuten Marke kratzen, sind bis heute beeindruckende, herausfordernde Epen, die die engen Grenzen des Genres scheinbar mühelos sprengen und eigentlich von jeder Zutat noch ein Schippchen drauflegen. Die Produktion? Die beste, die Dark Angel je hatten. Wer's jetzt nicht gut mit mir meint, wird vermutlich "Das ist nicht schwer!" sagen. Die Riffs? Unfassbar. Eric Meyer und der von Viking gewechselte Brett Eriksen waren jahrelang meine Vorbilder und wenigstens auf dieser Platte das beste Gitarren-Duo des Thrash Metals. Nachdem ich meinen damaligen Gitarrenlehrer darum bat, wir sollten mal versuchen, uns die Riffs zu "An Ancient Inherited Shame" und "Trauma And Catharsis" herauszuhören, wurde der gute Harald nach den ersten Minuten ganz schön blass um die Nase, bis ihm irgendwann ein verzweifeltes

"DAS HABEN DIE ÄRSCHE NUR EINMAL SO GESPIELT - UND ZWAR ALS SIE ES AUFGENOMMEN HABEN! DAS KANN MAN SO NICHT SPIELEN. HAST DU MAL EINEN KAFFEE FÜR MICH?"

entfuhr. Dann dirigierte er mich wieder durch die Bedienung des CD Players, während er den nächsten Anlauf nahm:

"LOS! NOCHMAL! STOP! ZURÜCK! NOCHMAL! WEITER ZURÜCK! AAAAAAHHHHHH! NOCHMAL! JETZT! JETZT! JETZT HAB ICH'S! NEE, DOCH NICHT! ZURÜCK! KAFFEE!"

Ich werde das nie nie nie nie vergessen.

Das Riffing der beiden Saitenhexer Meyer und Eriksen entfaltet sich besonders mit einer Minidosis Aufmerksamkeit unter dem Kopfhörer in voller Pracht und wird damit zu einer beinahe spirituellen Erfahrung - wie oft sie im Grunde gegen jeden Takt spielen und mal hier, mal da rüberspringen, wieder zurückfedern, um plötzlich wieder bretthart und unisono mit aller Macht nach vorne drücken, manchmal nur von den Wahnsinnsdrums von der Legende Gene Hoglan und den ungewöhnlichen, überraschend melodischen Vocallines zusammengehalten, das ist einzigartig, das ist herausragend. Und wo ich gerade den Gesang ansprach: mir ist bewusst, dass der ein oder andere Betonkopf die Stimme von Originalsänger Don Doty für die reine Metallehre hält, ich ziehe allerdings zu jeder Sekunde seinen auch auf "Time Does Not Heal" am Mikro stehenden Nachfolger Ron Rinehart vor. Rineharts Stimme ist kontrolliert und melodiös, dabei gleichfalls sehr, sehr originell.

Rinehart ist auch einer der Gründe, warum ich das von vielen so bös' verschmähte "Leave Scars" Album aus dem Jahr 1989 so gerne mag, auf dem er noch etwas räudiger und weniger poliert klingt. Auf "Leave Scars" deutete sich mit den ebenfall überlangen Songs "The Promise Of Agony", "No One Answers" und dem sagenhaften Titeltrack übrigens schon an, zu was diese Band noch in der Lage sein sollte. Folgerichtig spielten Dark Angel spätestens ab "Time Does Not Heal" auch stilistisch in einer ganz eigenen Liga. Ein dazu beitragendes Element ist das ungewöhnliche Hitpotential einiger Songs, die nicht nur mit intelligenter Härte die dichtesten Riffteppiche der Welt zusammenknüpften, sondern wie im Falle von "Act Of Contrition" oder "Pain's Invention, Madness" auch große Refrains präsentierten, die sich im Ohr festsetzen konnten. Jedenfalls glaube ich das nach den 22 Jahren, in denen ich "Time Does Not Heal" rauf und runter gehört habe.


Vieles verklärt sich, vieles ist hinter dem jugendlichen Schleier schlicht käsige Romantik - manches aber bleibt. Dark Angel und "Time Does Not Heal" bleiben.

Und das beste zum Schluss: Harald und ich konnten "An Ancient Inherited Shame" übrigens nach zwei drei Wochen relativ unfallfrei auf der Gitarre nachspielen und wieder feste Nahrung zu uns nehmen.

Erschienen auf Combat, 1991.