JACKIE MCLEAN - ONE STEP BEYOND
Es ist merkwürdig, ist es nicht? Vor einigen Jahren entdeckte ich den Jazz für mich und im Zuge der Abenteuerreise durch die Jazzplatten dieser Welt rempelten mich die Insassen des Jazzforums von Frank Schindelbeck irgendwann an den Saxofonisten Jackie McLean an. Das war der Startschuss für eine langanhaltende Liebesbeziehung zwischen mir und einem Mann, der letzten Endes zusammen mit vielleicht einer Handvoll weiterer Jazzmusiker dafür verantwortlich ist, dass ich auch heute noch jeden Besuch eines Plattenladens niemals abschließe, ohne nach mindestens eine seiner Platten gefragt zu haben. Überflüssig zu erwähnen, dass ich meistens leer ausgehe; zwar wurden viele seiner Blue Note und Prestige-Arbeiten auf CD wiederveröffentlicht, auf Vinyl wird es aber entweder zappenduster oder zappenteuer. Also blieb mir oft nichts anderes über, als zur schnöden CD zu greifen. Wie auch in diesem Fall.
Was nun merkwürdig ist: "One Step Beyond" steht seit über drei Jahren im Umkreis des CD Players herum, und seit drei Jahren versuche ich erstens diese Musik zu entschlüsseln und zweitens im Anschluss darüber zu schreiben. Und ich habe es bis heute nicht getan - was daran liegen könnte, dass mir für so vieles, was hier passiert tatsächlich die Worte fehlen. Dabei löst alleine die Aufzählung des Line-Ups Lustschreie aus: Neben dem Leader McLean spielen Eddie Khan am Bass, Tony Williams am Schlagzeug, der großartige Bobby Hutcherson am Vibraphon und mein erklärter Liebling Grachan Moncur III an der Posaune. Eine Besetzung, die in ähnlicher Zusammenstellung noch für zwei weitere Alben Bestand hat: McLeans "Destination Out" und Moncurs Meilenstein "Evolution" (hier noch zusätzlich mit Lee Morgan an der Trompete) tapezieren im Prinzip ein ganzes Genre neu zusammen, und wie soll ich's beschreiben? Auf "One Step Beyond" lassen sich zwei Kompositionen des Saxofonisten finden - "Saturday And Sunday", ein flotter Opener mit halsbrecherischem Drumming von Williams, dessen Tom- und Ridebeckenarbeit den Song mit derart viel Drive füttert, dass Eddie Khan im nur im Eiltempo folgen kann. Es wäre ein Erlebnis, alleine die Rythmusspuren dieses Titels zu hören. Dass Kahn zu diesem Zeitpunkt erst seit ein paar Jahren den Bass spielte, erscheint gänzlich unglaublich, aber es ist wahr: er wechselte erst wenige Jahre zuvor vom Saxofon zum Bass. Interessant ist der wahrnehmbare Schnitt zwischen dem, was den Samstag darstellen soll, nämlich eine offene, freundliche Stimmung, während der Sonntag McLeans Erfahrungen seiner Kindheit widerspiegelt, mit zwei Stunden Sonntagsschule und einem anschließenden, dreistündigen Aufenthalt in der Kirche. "After four hours in church, everyone looked like Frankenstein's with whigs and dresses." Die zweite McLean Komposition heißt "Blue Rondo", einer seiner Klassiker und ebenfalls ein wieselflinkes Uptempo-Stück mit stattlicher Hooklinemelodie, die Moncur und McLean spontan entwickelten, während sie mit ein paar Ideen und Melodien herumalberten.
Die große Stunde von Grachan Moncur III schlägt in seinen Beiträgen "Frankenstein" und "Ghost Town". Ersterer ist ein Walzer in dunkel schimmernder Schönheit, "its beauty stands for everything that Frankenstein does not." (McLean), dessen Auftakt und Abschluss wie eine Revuenummer from outer space klingt. Es ist eine schleppende, weite und kaputt wirkende Sause von über 8 Minuten Länge - megakompakt, aber es sind vor allem Hutcherson und Moncur, die paradoxerweise atmosphärisch und tonal diese immensen Lücken reißen. Das ultimativ betitelte "Ghost Town" von Moncur III setzt "One Step Beyond" die Krone auf. Moncur sagte mal in einem Interview, dass er den Songwritingprozess immer als einen Prozess des Malens von Bildern betrachtete, und hier hat er die Geisterstadt punktgenau getroffen. Es weht ein Hauch von Traurigkeit und Isolation durch dieses Bild, die verlassenen und mittlerweile windschiefen Hütten haben bessere Tage gesehen, die Türen und Fenster hängen aus den Angeln - aber da ist auch ein abstrakter und morbider Humor, der sein Werk führt - nicht nur im Besonderen, sondern auch im Grundsätzlichen. Diese fünf jungen Burschen haben damals wirklich nach einem neuen Sound geforscht, ohne gleich die Coleman'sche Freejazz-Keule herauszuholen. Der Weg, den Jackie McLean mit diesem Linie-Up eingeschlagen hat, ist gleichermaßen provokativ wie auch versöhnlich und künstlerisch gleich ein paar Schritte vor der versammelten Konkurrenz der damaligen Szene. Schließlich ist der Titel sicher nicht ohne Bedacht gewählt. "One Step Beyond" wird im April 2013 unglaubliche 50 Jahre alt - bis heute ist es keinen Tag gealtert.
Erschienen auf Blue Note, 1963.