"Mal sehen, ob und was uns dort erwartet." (Lothar Matthäus)
Liebe Leserin, lieber Leser,
Es ist an der Zeit, die vor einem knappen halben Jahr in einem kleinen Text verstohlen untergebrachte Ankündigung, den Countdown über die 200 besten Platten der neunziger Jahre auf meinen Blog zu wuchten, endlich in die Tat umzusetzen.
Und mir geht der Arsch auf Grundeis. Weil das Vorhaben auf mehr als nur einer Ebene so unüberwindbar groß erscheint, dass ein Scheitern praktisch vorprogrammiert ist. In meinem Kopf arbeite ich seit etwa vier Jahren an dieser Aufstellung, in der eisigen Realität mittlerweile unzähliger Excelsheets stehe ich seit gut zwei Jahren im ölverschmierten Blaumann im Maschinenraum der Plattensammlung und prokrastiniere fröhlich vor mich hin. Und ich wünschte noch immer, es handele sich hierbei um eine schamlose Übertreibung.
Das große Fass mit den Feigenblättern in allen vorstellbaren Größen war mir in dieser Zeit stets ein treuer Begleiter, denn es muss immer Gründe dafür geben, das Projekt weiter auf die längste Bank der Welt zu schieben. Habe ich etwas vergessen? Ich habe doch ganz bestimmt etwas vergessen?! Muss das Album nicht auf einer viel höheren Platzierung stehen? Und warum überhaupt "Platzierungen"? Tut's nicht auch eine Sortierung nach dem Alphabet? Oder nach den Erscheinungsjahren? Pah, Sortierung my ass - ich würfel den Kram einfach aus. Als ob es wirklich irgendwen interessiert, ob eine Platte auf Platz 121 oder 118 steht, ist doch alles Blödsinn. Und dann erinnere ich mich an diese eine berüchtigte 90er Liste des Online-Magazins Pitchfork, in der Holes "Live Through This" vor Nirvanas "Nevermind" stand, und der Griff reflexartig zum Handy ging, um die Notfallnummer für akute Schlaganfälle zu wählen. Will ich mir wirklich einen solchen Quadratquatsch antun?
Natürlich will ich das, und zwar extradreckig. Zu Beginn delirierte ich noch mit dem Plan durchs Leben, 50 Platten seien ja wohl locker ausreichend. Und als der erste Entwurf fertig war, "erkannte ich, dass das keine Lösung war" (Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen). Also gut, drehen wir den Spaß auf 75 hoch. Hm, 100 sind besser. Okay, 150. Aber jetzt ist Schluss, ich kann hier ja nicht jeden halbsteifen Mist, den irgendeine verwahrloste Band...200! 200 müssen es sein. Eigentlich ja eher 250. Grundgütiger, da fehlt ja immer noch was. Gehen auch 300? Alter, das liest doch kein Mensch. Vor allem, weil ich den ganzen Kladderadatsch nie werde schreiben können, 300 Reviews?! LOL! Also wieder beischneiden, unter Schmerzen und mit einer Überdosis Magentabletten. Das Spiel ging monatelang. Da kann man mal sehen, welche Verwüstungen so eine herbeihalluzinierte Hybris hinterlassen kann. Und gleichzeitig, der Wahrheit sei besonders an dieser Stelle die Ehre gegeben, machte das doch alles einfach unfassbar viel Spaß. Es ist alles wirklich komplett egal und irrelevant und völlig nutzlos aufgeblasen, aber ich kann damit monatelang einen Endorphin-Gangbang von epischen Ausmaßen in Superzeitlupe erleben.
Dabei hilft es freilich, dass wir hier über die neunziger Jahre sprechen, mein Jahrzehnt. Wenn auch der musikalische Urknall zunächst mit Roland Kaiser in den frühen 1980ern initiiert wurde und sich von dort bis zum Ende des Jahrzehnts weiter zu Iron Maiden, Motörhead, Anthrax, Megadeth, Slayer und Venom verästelte, kann ich die Bedeutung der 1990er Jahre auf meine weitere Entwicklung kaum angemessen in Worte fassen. Das beschränkt sich bei Weitem nicht nur auf die Musik, die ich zu jener Zeit hörte, zumal sie so oder so unmöglich aus dem soziopolitischen Strom herauszufiltern wäre, weil alles aus Verbindungen und Abhängigkeiten zueinander existiert. Das formte sowohl den damaligen Zeitgeist als auch die jahrzehntübergreifenden Narrative der Dekade: Anything Goes. Existenzielle Freiheit. Minimalismus. Bewusstheit. Aufbruch. Und das hatte Auswirkungen. 1993, ich war noch 15 Jahre alt, outeten sich fünf meiner Freunde als schwul. Sie hatten allesamt das verbindende Gefühl, dass die Akzeptanz ihres Umfelds größer war als zuvor, dass es sicherer war, sich selbst und -bewusst zu leben. Das war keine Selbstverständlichkeit. Und ich wuchs in den kommenden Jahren mit ihnen auf. Wir sprachen darüber, was ihre Sexualität für sie und ihre Familien bedeutet, über ihre Ängste, ihre Hoffnungen, auch ihr Liebesleben. Ich ging mit ihnen zu schwulen Kneipenabenden im Frankfurts Regenbogenviertel. Das war qualitätsstiftend, weil es etwas in eine Erfahrung übersetze, die es zuvor in meinem Leben nicht gab. Roger Willemsen sagte mal, dass "wir uns gesellschaftlich glaube ich einig sind, dass Vorurteile immer nur dort entstehen können, wo Anschauung fehlt. Je mehr wir Anschauung erweitern und vertiefen, um so weniger wird es möglich, sich zu befeinden oder von etwas abzugrenzen." Es öffnete meine Welt.
Die Musik der Neunziger war für all das der Soundtrack und zugleich der Fixpunkt, sie gab Orientierung und Bestätigung. Am wichtigsten von all dem: ich identifizierte ich mich mit ihr, mit ihrer Ästhetik, ihrer Ideologie und ihrer Überzeugung. Das bedeutete auch, an dem selbst ohne den heutigen Wahnsinn von Social Media ordentlich aufgepeitschten Konflikt zwischen den Anhängern der "alten" Musik und des "modernen" Alternative Rocks nicht teilzunehmen. Ich hörte Morbid Angel und Alice In Chains, Great White und Soundgarden, Nirvana und Dark Angel. Ich kaufte mir im Jahr 1993 das Comebackalbum von Grave Digger "The Reaper" und das Debut der Stone Temple Pilots. Ich ging zu Benediction und Atheist ins Frankfurter Negativ und sah Bad Religion in der völlig (VÖLLIG!) austickenden Hugenottenhalle in Neu-Isenburg. Auf der Hinfahrt hörte ich "Superjudge" von Monster Magnet und anschließend "Definitely Maybe" von Oasis. Ich hörte Pulp und anschließend Metal Church. Didn't give a flying fuck. Auch das war identitätsstiftend, und ging damit sogar über die eigentliche Musik hinaus.
In jenem Geiste verfuhr ich folgerichtig auch für die Auswahl der 200 besten Platten der 1990er Jahre, denn in welchem auch sonst? Ich bin kein Musikmagazin, ich muss weder ein möglich breites Spektrum von Stilrichtungen, noch die Gefühle der Leserschaft berücksichtigen. Das wird ein monatelanger Ego-Wank über meine ganz persönlichen Lieblingsplatten.
Und ich freue, mich, wenn Sie, werte Leserin, werter Leser, mir dabei zugucken. Sie Ferkel*in.
Ich wünsche uns allen ein extradick ausgepolstertes Durchhaltevermögen und eisgekühlte Nervenstränge.
Let's Fuckin' Go!
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