15.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #186: Tiamat - A Different Kind Of Slumber




TIAMAT - A DEEPER KIND OF SLUMBER


„Die Eintagsfliege wird bereits zwölf Stunden nach ihrer Geburt von ihrer Midlife-Crisis erwischt. Das muss man sich mal klarmachen!“ (Loriot)


Mir fällt es schwer, die Gedanken zu "A Deeper Kind Of Slumber" zu sortieren. Ich habe auch außerhalb dieser Rückschau auf die neunziger Jahre immer wieder unangenehm häufig von "Anything Goes!" gesprochen, um die Aufbruchstimmung, den kreativen Mut und die Offenheit sowohl von Musikern als auch von Fans in diesem so besonderen Jahrzehnt zu beschreiben - und jedes Mal frage ich mich, ob derlei Charakterisierungsquark möglicherweise nicht doch auch nur ein typisch romantisiertes Narrativ ist, das sich über die Jahre wie eine Nebelbank über die eigene Erinnerung gelegt hat. "A Deeper Kind Of Slumber" war 1997 ein wirklich mutiger Schritt für eine Band, die erst sieben Jahre früher mit tiefschwarz rumpelnden Death Metal auf "Sumerian Cry" debutierte. Selbst wenn die nachfolgenden Alben, allen voran die heute als Klassiker geltenden "Clouds" (1992) und ganz besonders "Wildhoney" (1994), weitgehend mit der Death Metal Vergangenheit brachen und damit die nicht gerade für ihre Toleranz bekannte Fanbase immerhin darauf vorbereiteten, dass Bandgründer und Songschreiber Johan Edlund kein Interesse daran hat, Erwartungen zu erfüllen und sich stilistisch einzuschränken, war der Sprung zum fünften Studioalbum der Band ein gewaltiger. 

Und weil das umgehend in den ersten vier Minuten des Albums klargemacht werden musste, eröffnete Edlund das Werk nicht nur mit dem von einer poppigen Gitarrenmelodie getragenen und sehr eingängigen "Cold Seed", sondern koppelte den Song auch noch als erste (und einzige) Single aus, um wirklich jedes Missverständnis hinsichtlich seiner kreativen Vision aus dem Weg zu räumen. 

Die Mehrheit derer, die sich von "A Deeper Kind Of Slumber" eine Fortführung des auf "Wildhoney" etablierten Black Floyd Pink Sabbath-Stils erhofften, gingen also hier schon über Bord - und sie hätten für die nächsten 55 Minuten des Albums so oder so vor gewaltigen Herausforderungen gestanden. Denn eigentlich legen Tiamat sogar erst nach dem Opener so richtig los: Edlund verarbeitet seine Erfahrungen mit Psilocybin und LSD und erkundet Traumwelten, in die sich Dead Can Dance, Depeche Mode und Pink Floyd für eine psychedelische Orgie zu Midsommar eingebucht haben. "A Deeper Kind Of Slumber" ist außergewöhnlich couragiert und ambitioniert - und fiel zu seiner Zeit erwartungsgemäß beim Publikum durch. Ich sehe knapp dreißig Jahre später Anzeichen einer Rehabilitierung, aber die Frage bleibt: waren die Neunziger am Ende also doch nicht so aufgeschlossen und unvoreingenommen, wie ich sie abgespeichert habe? Ich habe dafür keine endgültige Antwort in der Tasche, zumindest keine, die sich in fünf oder fünfhundert Zeilen ausformulieren ließe, aber immerhin lieferte das Jahrzehnt jenen Nährboden, der Platten wie "A Deeper Kind Of Slumber" überhaupt erst ermöglichte. 

Das mag jetzt ein wenig prätentiös sein, aber ich bin wirklich glücklich darüber, diese Zeiten miterlebt zu haben.


Vinyl und so: Die 1997er Originalpressung mit dem Artwork der europäischen Albumversion bekommt man in gutem Zustand für +/-50 Euro. Erstmal wurde die Platte im Jahr 2009 von Black Sleeves auf Vinyl neu aufgelegt, gefolgt von Century Media-Nachpressungen im Jahr 2018 in vier verschiedenen Farben als Gatefold und mit dem US-Amerikanischen Artwork (das tatsächlich noch diskussionswürdiger ist als die EU-Variante). Gepresst in Deutschland von Optimal Media - und zwar fehlerfrei und mit tollem Sound. Anschließend veröffentlichten Transcending Records aus Chicago (ein äußerst fragwürdiger Laden, Vorsicht ist geboten) und Church Of Vinyl (mit nochmals verändertem Artwork) Nachpressungen.


 



Erschienen auf Century Media, 1997.

09.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #187: Son Of Bazerk - Bazerk, Bazerk, Bazerk




SON OF BAZERK - BAZERK, BAZERK, BAZERK


"It's easy to maintain your integrity when no one is offering to buy it out." (Marc Maron)


Im März 2012 hatte ich schon mal über "Bazerk, Bazerk, Bazerk" geschrieben, und manchmal sind solche Fälle eine Herausforderung, um nicht die alte Brühe erneut aufzuwärmen. Wenn der damalige Text, vorsichtig formuliert: "Schwachstellen" hatte, und ich also beim Lesen umgehend einen Termin zur Traumabewältigung aufsetzen muss, fällt mir der Umgang damit leichter, weil Platz für Verbesserungen gemacht werden kann. Im Falle von "Bazerk, Bazerk, Bazerk" sieht die Sache glücklicherweise (?) etwas anders aus, denn hinter meiner nunmehr dreizehn Jahre alten Einschätzung stehe ich auch heute noch mit einer kaum für möglich gehaltenen Selbstüberzeugung. Und um ebenjener auch im Sommer 2025 freien Auslauf zu gewähren, gibt's einen kleinen Copy/Paste-Ausschnitt über eine Platte, die als Blaupause für das durchgeht, was man früher mal "Kultalbum" nannte, ohne gleich schräg angeschaut zu werden: Gelobt von der Kritik, geliebt von einer kleinen, aber eingeschworenen Gruppe von Musikfreunden und von praktisch allen anderen zunächst übersehen und anschließend vergessen.  

Let's dive right in:
..

In diesem Zusammenhang muss ich auf eine Platte hinweisen, die mich nun bereits seit einigen Wochen begeistert. Im bereits an anderer Stelle dieses Blogs vorgestellten "Fear Of Music"-Buch von Garry Mulholland wurde "Bazerk, Bazerk, Bazerk" als das beste Hip Hop-Album aller Zeiten bezeichnet, das niemand jemals hörte. Tatsächlich überschlugen sich bei der Veröffentlichung im Mai 1991 zwar die Kritiker vor Begeisterung, aber die Scheibe blieb wie Blei in den Regalen liegen. Vielleicht lag es daran, dass "Bazerk, Bazerk, Bazerk" seiner Zeit ein paar Jahre voraus war, und ganz vielleicht war auch die Grundannahme falsch, dass man den Kids auch den abgedrehten Scheiß (lieb gemeint) vorsetzen kann. Verpackt in einer visuellen Hommage an James Brown und dessen Artwork zu seinem "Please, Please, Please"-Werk kennt diese Musik nicht mal die Idee einer Grenze. Produziert von der Public Enemy-Truppe The Bomb Squad treffen hier Soul, Funk, Rock, Reggae, Blues, und Hip Hop aufeinander und werden derart enthusiastisch und rebellisch in Szene gesetzt, dass das Stillsitzen nahezu unmöglich erscheint. Das Tempo dieses Albums ist atemberaubend, höchstens vergleichbar mit einer Familienpackung Blitzlicht-Feuerwerkskörper, die alle gleichzeitig gezündet werden und deren Explosion in der vierten Dimension des Gehirns auf eine Länge von 45 Minuten verzerrt und verlangsamt vor den Augen abgespielt werden. "Bazerk, Bazerk, Bazerk" ist überdreht, hochmusikalisch, über alle Maßen und in jeder Hinsicht smart, und klingt selbst 21 34 Jahre nach seiner Veröffentlichung taufrisch.

Zum Abschluss ein kleines (und wichtiges) Zitat aus "Fear Of Music", dessen erster Teil sicherlich auch für Menschen wie meinereiner mal nachdenkenswert ist:

"If the music changes every day, you can't define what you want because you're subconsciously aware that todays cutting-edge could be redundant tomorrow. But "Straight Outta Compton" had taught a lot of young rap (and rock) fans that what they really wanted was lurid tales of black men dying and black women being abused. They also wanted this over a beat that sounds roughly the same for fifty minutes. Son Of Bazerk didn't stand a chance, in hindsight. If you manage to track down this long deleted album though, you will be amazed that any record could throw so much music into a pot, and stir it with such jovial glee, until it tasted spicy and secret. Fifty million gangsta rap fans can be wrong - and usually are."

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Vinyl und so: Für zehn bis fünfzehn Euro ist man für eine Originalpressung in gutem Zustand dabei.

 



Erschienen auf SOUL/MCA, 1991.


02.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #188: Candlebox - Candlebox




CANDLEBOX - CANDLEBOX


"Das Leben ist eine immer dichter werdende Folge von Finsternissen." (Thomas Bernhard)


Dieser 1990 gegründeten Band aus Seattle haftete für lange Zeit ein ähnlicher Makel wie den Stone Temple Pilots an, dass sie also nur deshalb auf der Erfolgswelle surften und es bis nach ganz oben schafften, weil Majorlabels noch den allerletzten Dollar aus Seattle, Grunge und Flanellhemden herauspressen wollten und dafür Kanonenfutter Bands benötigten, die einen bestenfalls identischen Sound wie die großen Vier - Nirvana, Pearl Jam, Alice In Chains, Soundgarden - spielten, und die vor allem schnell wieder vor die Tür gesetzt werden konnten, wenn die nächste musikalische Sau durchs Dorf getrieben werden musste. Ein Schweinesystem ist eben ein Schweinesystem. 

Musikalisch substanzlos, billig, irrelevant, alles nur geklaut - und dann auch noch schlecht: die Hasswichsorgien in der Musikpresse nahmen kein Ende. Dabei war die Basis für derlei Argumentation in erster Linie ein ganzes Pfund Neid, gefolgt von gekränkten Egos, dem Eros des Verrisses und selbstredend einer schweren Hirninfektion, denn richtig zugehört hatte hier niemand. Bis eben auf die vier Millionen US-Amerikaner, die das Debut von Candlebox kauften und bis auf Platz 7 der Billboard Charts schoben. Zwar erreichte das Album die Top 10 erst im Zuge des Durchbruchs der dritten Single "Far Behind" mit einer Verspätung von einem Jahr, aber dann blieb "Candlebox" für sagenhafte 104 Wochen in den Charts. Je sais, je sais: Ähnliches hat Bohlens musikalischer Penisbruch Modern Talking auch schon geschafft. Ich hör' ja schon auf.

Drei Jahrzehnte später wirken solche Diskussionen in Hinblick auf Seattle-Bands der dritten Welle völlig bizarr. Während ich immer noch darauf warte, dass endlich mal jemand diesen ganzen Quatsch aus der ersten Hälfte der 90er Jahre in einem Buch neu einordnet und mit ein paar der beklopptesten Narrative kurzen Prozess macht, erzähle ich noch schnell etwas über "Candlebox", denn darum sind wir ja alle hier: Wer sich also eine Melange aus Blind Melon, einem Klecks Mother Love Bone und den eingängigen, rockigen Momenten der ersten beiden Pearl Jam-Alben mit einem wirklich herausragenden Sänger (Kevin Martin) vorstellen kann, hat ein ganz stimmiges Bild dessen vor Augen, was auf der Agenda steht. Das Album warf mindestens dreieinhalb erfolgreiche Singles ab, ich bin aber der Ansicht, dass die übrigen Songs mindestens genau so viel Spaß machen - vor allem, wenn die Band wie in "Mothers Dream" mit psychedelischen Elementen herumspielt. Das ist mitnichten gefährlich oder gar eine Grenzverschiebung. Aber es ist über die Maßen vergnüglich. Sorry, not sorry. 


Vinyl und so: "Candlebox" erschien auf Vinyl erstmals 1995 im Doppelpack mit dem zweiten Album der Band "Lucy" (absolut ebenbürtig und ebenfalls überaus empfehlenswert!). Diese Edition war für viele Jahre nicht nur sehr selten, sondern fast schon zwangsläufig sehr teuer. Wenn man mich fragt, ist das genau die Ausgabe, für die es sich am meisten lohnt, die Augen aufzusperren - in erster Linie, weil es für "Lucy" bislang noch kein eigenständiges Reissue gibt. 2017 gab es von der Doppelveröffentlichung einen Re-Release, der aber aktuell vor allem in den USA zu bekommen ist. Das Debut wurde 2020 erstmals von Music On Vinyl als Einzelrelease auf silbernem und schwarzem Plastik wiederveröffentlicht - das schwarze Vinyl bekommt man aktuell mit etwas Glück noch für 30 bis 40 Euro. Wer richtig in die Vollen gehen will, besorgt sich hingegen das auf Rhino erschienene "Maverick Years" Boxset mit vier Alben auf insgesamt sieben LPs.


 




Erschienen auf Maverick, 1993.

26.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #189: Corrosion Of Conformity - Wiseblood




CORROSION OF CONFORMITY - WISEBLOOD


"Nicht Merkel hat die Flüchtlingsströme ausgelöst. Der Auslöser war, dass den Millionen von Flüchtlingen in der Türkei, Jordanien und dem Libanon von den reichen Industrienationen die Hilfsgelder für die Nahrungsversorgung aus purem Geiz halbiert wurden, gegen alle Warnungen der Fachleute. Dann haben sich Hunderttausende in Bewegung gesetzt." (Georg Schramm)

 

Corrosion Of Conformity haben in den neunziger Jahren drei Alben veröffentlicht - und die Entscheidung, einfach alle stumpf in die Top 200 zu schmeißen, wäre so grundfalsch nicht. Oder lassen Sie es mich präzisieren: jedes Neunziger-Werk der Band aus North Carolina könnte in den Top 200 stehen. Aber es ist wie im Kapitalismus: jeder kann hier reich werden - aber eben nicht alle. 

Nun ist allzu breitbeinige Rockmusik mit Südstaatenduktus und Macho-Attitüde so ziemlich das letzte, mit dem ich in Verbindung gebracht werden möchte, und wer vor allem ihre Alben ab "Blind" (1991) kennt, könnte angesichts dieses just öffentlich gewordenen Widerspruchs des feinen Herrn Florian die Stirn mal wieder in eine schöne Mondlandschaft verwandeln. Aber kann ich mich gegen diesen unerbittlichen Groove wehren? Gegen diese Gitarrenriffs, die durch Panzerglas marschieren können? Gegen eine Produktion, die so lebhaft, so dreckig, so real ist? Ich lamentiere seit Jahren über den ganzen zeitgenössischen rockmusikalischen "Schmarrn" (Beckenbauer), der vom Bodensatz sowohl moralisch wie künstlerisch heruntergekommener Produzenten, Managern und Musikern so anpassungsfähig und zum Kotzen schmutzabweisend hingestrickt wurde, als sei's eine beige OuTdOoRjAcKe für die Sonntagswanderung auf den Rotzenbiegel oder wohin - da lass' ich mal Fünfe gerade sein, wenn das atmosphärische Testosteronniveau in den roten Bereich ausschlägt. 

Die Entscheidung für DIE_LISTE fiel praktisch im letzten Moment auf "Wiseblood", das damit den vormals gesetzten und im Jahr 1994 erschienenen Vorgänger "Deliverance" aus dem Rennen nahm. Die Herzallerliebste fragte mich zuletzt beim Testhören, was das denn jetzt eigentlich sei: "Läuft das eigentlich unter Metal? Stoner? Alternative? Oder ist es einfach nur...naja....Rock?!" - und "Wiseblood" ist genau das Album ihrer Diskografie mit der eindeutigsten Antwort auf Fragen wie jene: All of the above. Maximal eklektisch - und gleichzeitig genuin und kompromisslos. Und außerdem einfach heavy as fuck! 


Vinyl und so: Das auf Reissues spezialisierte Label Music On Vinyl (MOV) veröffentlichte in den letzten Jahren einige Titel der Band, neben dem ebenfalls als Klassiker geltenden und oben erwähnten "Deliverance" gehört auch "Wiseblood" dazu. Die Version auf schwarzem Vinyl ist aktuell noch für um die 30 Euro erhältlich und auf jeder Ebene absolut empfehlenswert. Es wird gemunkelt, dass Music On Vinyl hinsichtlich der Lizenzierungen für ihre Nachpressungen hier und da im Zwielicht agieren, ihre Qualitätsstandards liegen allerdings auf dem allerhöchsten Regal. Für die 2019, beziehungsweise 2020 erschienenen Varianten auf farbigem Vinyl, ebenfalls über MOV, müssen zwischen 50 und 70 Euro bezahlt werden. Für die Originalpressung in halbwegs gutem Zustand - die Platte ist immerhin mittlerweile auch knapp 30 Jahre alt - kann es dreistellig werden.



Erschienen auf Columbia Records, 1996.

20.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #190: Benediction - Transcend The Rubicon




BENEDICTION - TRANSCEND THE RUBICON


"Fuck Content. This Is Writing." (Swordfishblog)


Vor fast genau sieben Jahren war "Transcend The Rubicon" schon einmal Gast auf meinen 3,40qm. Anlass war das Geburtstagsgeschenk meiner Blank When Zero-Mitstreiter und langjährigen Freunde Simon und Marek, die mir den sehr liebevoll gestalteten Vinyl-Reissue vom auf Wiederveröffentlichungen spezialisierten Label Cosmic Key Creations überreichten. Im Jahr 2025 würde ich immer noch kein einziges Wort des früheren Textes ersetzen, zumal selbst die Verweise in Richtung meines damaligen Arbeitslebens und des daran gekoppelten Erinnerungsmanagements erschütternderweise auch heute noch Gültigkeit haben. Ich darf mich also für die Erläuterung, welchen Stellenwert "Transcend The Rubicon" für mich hat, kurz selbst zitieren:

"Trotz der mittlerweile zentimeterdicken Patina, ist das immer noch eine besondere Platte für mich: zum einen besuchte ich im Herbst 1993 in Begleitung meines Bruders das erste Death Metal Konzert meines Lebens mit den gerade erfolgreich werdenden Cemetary, den genialen Techno-Death Fummlern von Atheist und eben dem, neben Bolt Thrower, zweiten Aushängeschild des britischen Death Metals Benediction im nur zwei Jahre später geschlossenen "Negativ"-Club in Frankfurt, zum anderen besaß ich damals ein sehr schickes Longsleeve mit dem Albumcover als Motiv und wurde damit im Jahrbuch meiner Schule, neben einer supercoolen und Ernte 23 (!) rauchenden Ramones-Punkerin stehend, fotografiert - mit einer eigentlich verboten aussehenden Frise, die vorne an Roland Kaiser und hinten an Rudi Völler erinnerte. Das Foto ist wie eine Zeitreise in den grauen und verregneten Alltag im Herbst/Winter 1993, und während ich mich dank der mich aktuell völlig überfordernden Lohnarbeit nicht mehr an das erinnern kann, was vor 2 Wochen war, gelingt es mir überraschend gut, mir manchmal den Geschmack der Luft aus dem Schulgebäude oder mein damaliges Lebensgefühl zwischen Heavy Metal, Grunge, Roll- und Eiskunstlauf und der glatten 5 aus der Abiturprüfung in Chemie wieder zu holen. "Transcend The Rubicon" war in dieser Zeit mein fast täglicher Begleiter und ist daher sehr eng mit mir und meinem Leben verbunden. Eigentlich auch eine Art persönlicher Meilenstein."


Dass die hier erwähnte "zentimeterdicke Patina" sieben Jahre später nicht gerade kleiner geworden ist, und sowohl Songs wie Sound im Vergleich mit heutigen Standards - so abgefuckt und langweilig jene in weiten Teilen auch sein mögen - in Sachen Heaviness, Technik und Ausdruck wirken, als höre man Höhlenmenschen beim Kopfrechnen zu, ist mir bei der Bewertung von "Transcend The Rubicon" ziemlich egal. Wer sich in dieser Hinsicht einen Spaziergang durchs Tal der Tränen gönnen möchte, kann ja mal in die letzten beiden viertel- bis halbsteifen Albenversuche der Band eintauchen, die künftig als Blaupause dafür herangezogen werden dürfen, dass 3400% Soundkompression und ein auf 11 gestellter Lautstärkeregler kein Ersatz für Leidenschaft und Energie sind. Benediction hatten auf "Transcend The Rubicon" ein wirklich gutes Gespür für Groove, hielten Abstand von Blastbeats und technischem Firlefanz und schrieben stattdessen überaus eingängige Songs, in die sie - fürs Genre so oder so ungewöhnlich - auffallend viele (und gute!) Hooklines einbauten. 

Es macht einfach immer noch großen Spaß, diese Platte zu hören. Der Mittelpart von "Blood From Stone"?! Ich meine - come one?!


Vinyl und so: Von der weißen Originalpressung auf Nuclear Blast müssen wir heute nicht mehr sprechen, es sei denn, ihr habt eine schöne Erbschaft im Rücken. Auch die Reissues sind mittlerweile teils deutlich im Preis gestiegen. Die 2023er Nachpressung von Back In Black ist aktuell noch am günstigsten zu haben, aber Back In Black Pressungen sind üblicherweise mit Vorsicht zu genießen. Mit mindestens 60 bis 80 Euro ist man dabei.


 


Erschienen auf Nuclear Blast, 1993. 

16.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #191: Lawnmower Deth - Ooh Crikey, It's...




LAWNMOWER DETH - OOH CRIKEY, IT'S...


"Und das ist voll schlimm, dass so asoziale Typen so 'ne Asi-Lobby sich gebaut haben und man traut sich nicht mehr, was zu sagen." (Olli Schulz)


Metal und Humor sind so eine Sache. Beziehungsweise: eben nicht. Denn "Witzischkeit" (Heinz Schenk) im Metal ist ungefähr so real wie das Ungeheuer von Loch Ness - mit dem Unterschied, dass es bei letzterem Menschen gibt, die es schonmal gesehen haben wollen. Metal-Parodien wie Bad News, Manowar oder Spinal Tap gehen klar, aber da wird in erster Linie auch über Metal und nicht notwendigerweise mit ihm gelacht. 

Vielleicht ließe sich in ähnlichem Kontext auch das Debut dieser britischen Durchgeknalltencombo Lawnmower Deth aus dem Jahr 1990 als Parodie bewerten, wenngleich Schnittmengen mit britischem Humor nicht komplett auszuschließen sind. Wer seinen Songs Titel wie "Can I Cultivate Your Groinal Garden?", "Got No Legs? Don't Come Crawling To Me!" oder "Icky Ficky" gibt und dazu musikalisch durch Punk, Thrash, Rap, Reggae und Grindcore wütet, hat sich ohne Zweifel Mühe gegeben, die Trennlinien in Flammen aufgehen zu lassen. 

"Ooh Crikey, It's..." ist vollgepackt mit kreativen und wirklich witzigen Ideen, einer auch 35 Jahre später immer erfrischenden "Uns ist ALLES egal!"-Attitüde und Spaß am Wahnsinn. Ich stieß auf Band und Platte über die Radiosendung "Hard'n'Heavy" im Hessischen Rundfunk, wo Moderator Till Hofmeister den Titel "Flying Killer Cobs From The Planet Bob" spielte - einer der wenigen Songs, mit etwas ähnlichem wie einer konventionellen Songstruktur, und in dem es im Mittelteil heißt: Hey, what's the problem with drugs these days / I mean, what the fuck does it matter / If I get a goddamn acid tablet / And shove it down the end of my penis - und für einen dreizehnjährigen ("Hihi, Penis!") war das zusammen mit den "Wir rufen Dich, Galaktika"-Roboterstimmeneffekt im Chorus Kaufanreiz genug. 

Ähnlich wie bei Bands wie Scatterbrain oder auch Gwar bin ich versucht zu sagen: sowas ging nur in den frühen Neunzigern. Den Beweis dafür traten Lawnmower Death 1994 mit ihrem Album "Billy" mit seinem ernsten Coverartwork und biederem Punkrock selbst an. Gelacht wurde jetzt woanders. 


Vinyl und so: In Deutschland wird's für die Originalpressung mit 50 bis 70 Euro nicht so irre günstig, aus dem Ausland killt einen hingegen das Porto. Der Reissue aus dem Jahr 2014 ist günstiger zu haben. Mein Tipp: Augen aufhalten, Geduld haben (!) und bis es soweit ist den Youtube Stream hören.


 


Erschienen auf Earache, 1990.

12.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #192: Quicksand - Slip




QUICKSAND - SLIP


“Love heals scars love left” (Henry Rollins)


Ähnlich wie zuletzt im Text zu Anacrusis' "Manic Impressions" über das kleine Zeitfenster der sogenannten Techno Thrash-Bewegung dargelegt, gab es auch für den Sound, den Quicksand über ihre zwei Alben "Slip" und "Manic Compression" bis zur Mitte der neunziger Jahren zusammenbauten, zunächst nur eine kurze Lebensdauer. Dabei ließe sich ein kleines bisschen damit argumentieren, dass immerhin seine Weiterentwicklung zur zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunächst zu Nu Metal und Nu Rock führte - aber die noch deutlich dem Hardcore entnommene und machofreie Ästhetik des Quicksand-Sounds, gesättigt mit ohnmächtiger Wut und roher Emotion, mit Verletzbarkeit und Introspektion, spätestens dann perdu war, als eine ganze Generation an rote Baseballkappen verloren ging und Zwischentöne plötzlich nicht nur keine Rolle mehr spielten, sondern den Protagonisten zum Nachteil ausgelegt wurden. Quicksands charakteristischer, transparenter Sound, allen voran die Stimme von Bandgründer Walter Schreifels, sowie ihr ausgefuchstes Spiel mit Laut/Leise Dynamiken und harmonischen Dissonanzen, tauchte nach dem vorübergezogenen Testosteron-Blitzkrieg später in der Musik erfolgreicher Bands wie Cave-In, Thursday, Refused oder Trail Of Dead wieder auf. "Slip" wirkt, als hätten Quicksand die Anfänge von Helmet und deren mathematische und punktuell gesetzte Intensität in alle Richtungen verbreitert und damit die Wucht ihrer Songs noch gesteigert. Am besten verdeutlicht das möglicherweise einer der Höhepunkte "Lie And Wait" mit diesem schlicht unnachahmlichen, sich berohlich verästelnden Riffing und manischem Groove. Oder das kantige "Baphomet" und dem alles durchdringenden und ausufernden Crescendo zum Abschluss. Hot Take bei 37°C Außemperatur: Ich verwette eine Tonne Waldmeistereis mit Sahne, dass Tool zur Ära von "Opiate" besonders diese beide Songs auf very heavy rotation hatten. Aber vielleicht spricht auch gerade nur der Hitzschlag aus mir. 


Vinyl und so: Die Originalpressungen sind unanständig teuer, aber es gibt ein rettendes Ufer im Meer des Schwachsinns: das Album wurde zwischenzeitlich mehrfach neu aufgelegt und just dieser Tage erscheint der nächste Schwung schön aufgemachter Vinyl-Represses. Los, los, los!





Erschienen auf Polydor, 1993. 

06.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #193: Rodan - Rusty




RODAN - RUSTY


"Ich glaube, dass 90% der Leute nicht definieren können, was Zynismus bedeutet. Ich hab mal gelesen bei Sloterdijk, das falsche aufgeklärte Bewusstsein, das heißt also im Grunde: ab zweieinhalbtausend netto ist jeder Zyniker. Da ist was dran." (Harald Schmidt)


Als Louisville, Kentucky das Kreissaal-Epizentrum für Post Rock und Post Hardcore war. Die beiden Extreme dieser Platte stehen gleich am Anfang: das fast siebenminütige "Bible Silver Corner" eröffnet "Rusty" mit behutsam arrangierten Akustikgitarren, die sich kreuz und quer, über-, gegen und miteinander im Dickicht verlaufen und sich alle Zeit der Welt lassen, die passend ausgeleuchtete Stimmung und die richtige Temperatur zu finden. Direkt im Anschluss folgt das brachiale "Shiner", ein zweieinhalb Minuten dauernder Wutanfall mit dissonantem Noisegetöse und blutiger Nase - und damit sind wir auf alles vorbereitet, was zumindest stilistisch in den kommenden Minuten auf diesem wegweisenden Album aus dem Jahr 1994 passiert. 

Es ist möglicherweise genau eine Platte zu spät, um Patient Zero des Post Rock zu sein, aber der Einfluss dieses Quartetts auf eines der wichtigsten und - ich möchte offen sprechen: coolsten Genres der neunziger Jahre, bleibt davon unberührt. Die Frage, ob intellektuelle Distanzierung oder soziale Unbeholfenheit, grenzauflösende Intimität oder rezessiver Lebenswille die stärksten Druckpunkte dieser Musik sind, beantwortet "Rusty" mit einem bebenden "Ja!" - und zwar vor allem im zwölfminütigen Herzstück "The Everyday World Of Bodies", das sich geradezu manisch durch Hoch- und Tiefebenen bohrt. 

Neverending Hyperfocus. 


Vinyl und so: Das einzige Album Rodans wurde kürzlich zu seinem 30.Geburtstag auf farbigem Vinyl wiederveröffentlicht. Empfehlenswert sind darüber hinaus die bereits im Jahr 1993 aufgenommene und 2019 veröffentlichte Zusammenstellung von späteren "Rusty" Songs mit dem Titel "The Hat Factory '93" sowie "Fifteen Quiet Years" aus dem Jahr 2013 mit bis dato unveröffentlichten Songs, Sampler- sowie 7"-Beiträgen und drei Songs aus den 1994 entstandenen John Peel Sessions. 


Rest In Power, Jason Noble.


 



Erschienen auf Quarterstick Records, 1994.


29.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #194: Antonio Forcione - Acoustic Revenge





ANTONIO FORCIONE - ACOUSTIC REVENGE


"News is what somebody somewhere wants to suppress; all the rest is advertising." (Lord Northcliffe)



Neues Theater, Frankfurt-Höchst. Herbst 1993. Auf dem Programm steht ein Duo aus Italien, "Musik & Comedy". Wofür man sich heute die Turnschuhe anziehen würde, in denen man schnell laufen kann, war eine solche Veranstaltung vor 32 Jahren - wir hatten ja nichts! - ein Anlass zur Freude. Im Laufe des Abends stellte es sich heraus: mit Recht. Unser Haufen lachte sich einerseits einen doppelten Leistenbruch und war andererseits vom Talent der beiden Musiker an den akustischen Gitarren tief beeindruckt. Einer der beiden Gitarristen hieß Antonio Forcione, und ebenjener verkaufte am Theatertresen seine damals just erschienene CD "Acoustic Revenge". Um es kurz zu machen: ich brauchte ein Andenken an diesen Abend, und das Album weicht mir seitdem nicht mehr von der Seite. Tatsächlich ist es mit einer ganz besonderen Zeit in meinem Leben verbunden. Über dreißig Jahre später spielt sich vieles von jenen Erinnerungen eher im peripheren Sichtfeld ab, aber einige Bilder und Gefühle zeigen sich trotz der langen Zeit immer noch erstaunlich kraftvoll. Ich erinnere mich sehr deutlich an zwei Momente, in denen ich "Acoustic Revenge" besonders gerne auflegte. Erstens, morgens in der leeren Wohnung, wenn meine Eltern schon auf der Arbeit waren, und ich alle Zeit der Welt hatte, frisch in Zino Davidoff gebadet die Kaffeemaschine zu besetzen, das Rockhard zu lesen, und dabei Musik zu hören. Zweitens, am späten Abend, wenn Freunde (als ob!) zu Besuch waren und die experimentelle Batida-Kirsch:Metaxa-Mischung nebst einer Riesentonne Kartoffelchips gereicht wurden. 

Antonio Forcione, im Süden Italiens geboren und aufgewachsen, lebt seit den 1980er Jahren in London und spielte im Laufe seiner Karriere mit einigen der größten Musiker unserer Zeit; hier sei speziell auf die fantastische Zusammenarbeit mit dem Bassisten Charlie Haden verwiesen, aus der im Jahr 2006 das Album "Heartplay" entstand. Auf "Acoustic Revenge" vereint er mit seinen Mitmusikern Davide Mantovani am Bass und Peter Lockett (Percussion) stimmungsvollen Jazz mit virtuosen Latin- und Flamenco-Elementen, mal lebhaft, meist melancholisch und träumerisch, immer poetisch. Irgendwie nahm ich selbst in den introspektiven und intimen Momenten seiner Musik auch immer eine vibrierende Spannung wahr, eine Lust auf die Erwartung, auf den Aufbruch. Vielleicht war's auch nur die Reflektion meines Lebensgefühls in den frühen neunziger Jahren - und selbst wenn: genau darum geht's hier doch so oder so. 

Höhepunkt dieser mir so arg am Herzen festgewachsenen Platte ist der dramatische Abschlusstrack "Heart Beat", der sogar eine kleine Stimmungsexkursion in den Rockbereich eingehäkelt bekam.  


Vinyl und so: Die Chance für einen Vinylrelease von "Acoustic Revenge" stehen bei optimistischen 0%, nun ist aber auch die Zielgruppe dieses Genres nicht gerade bekannt dafür, aus Schallplattennerds zu bestehen. Die CD wurde 2010 vom NAIM Label wiederveröffentlicht und gibt's für rleativ kleines Geld zu erwerben. Tipp: In Second Hand-Läden Ausschau halten nach Antonios früheren Arbeiten mit dem spanischen Gitarristen Eduardo Niebla. Die Alben erschienen in den 1980er Jahren und allesamt auf Vinyl. Besonders empfehlenswert: "Celebration" aus dem Jahr 1987.


 



Erschienen auf Inspiration Studios, 1993.


25.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #195: Jagged Edge - Fuel For Your Soul




JAGGED EDGE - FUEL FOR YOUR SOUL



"Violent, irrational, intolerant, allied to racism and tribalism and bigotry, invested in ignorance and hostile to free inquiry, contemptuous of women and coercive toward children: organized religion ought to have a great deal on its conscience." (Christopher Hitchens)



Mein allererstes Rockkonzert war der Auftritt von Bruce Dickinson am 5.Juli 1990. Exakt einen Monat zuvor wurde ich 13 Jahre alt, und mein Bruder und seine damalige Freundin nahmen mich mit in die komplett überfüllte Frankfurter Batschkapp. Die erste Rockband, die ich in meinem Leben also live erlebte, und mich damit auch erstmals mit der überwältigenden Sensation der enormen Lautstärke eines Rockkonzerts konfrontierte, war allerdings nicht die Band des Sängers von Iron Maiden, sondern eine junge Truppe aus England: Jagged Edge. Deren Schagzeuger Fabio Del Rio spielte auf Dickinsons erstem Soloalbum "Tattooed Millionaire", außerdem wurden Jagged Edge vom Maiden Management Sanctuary Music betreut, was ihnen vermutlich ein paar Türen öffnete, um den Anheizer für Dickinson zu geben. Ich sah praktisch nichts von der Show, aber Jagged Edge kamen an dem Abend gut an - und ich war tief beeindruckt, von allem. Von der Lautstärke, dem lauten Applaus und Geschrei des Publikums und natürlich der Musik. Eine Woche später kaufte ich mir die EP "Trouble" im Saturn-Hansa auf der Berger Straße in Frankfurt Bornheim, dessen legendäre Musikabteilung - man verzeiht mir die folgende Übertreibung, aber mit 13 hatte ich noch kein Gefühl für sowas wie Dimensionen - so groß wie ein halbes Fußballfeld war. Ein paar Monate später erschien mit "Fuel For Your Soul" das erste Album, und ich wurde zum Fan. So gesehen wäre es angesichts der Auswahl von "Fuel For Yor Soul" als eine der besten Platten der 1990er Jahre vielleicht nicht über Gebühr absurd, mich geteert und gefedert ins tumbe Nostalgieabseits laufen zu lassen. Aber haltet ein, die ihr beheugabelt und befackelt vor meiner Türe stehet! "Fuel For Sour Soul" ist ganz möglicherweise in die rosarote Watte eines 13-jährigen eingewickelt, der so hoffnungsvoll wie vergeblich auf die einsetzende Pubertät wartet, aber es ist auch einfach ein toll komponiertes, brillant produziertes und mit starken Hooklines ausgebautes, von Matti Alfonzetti (später übrigens bei der schwedischen Alternativeband Skintrade am Mikro) glänzend gesungenes, melodisches AOR/Hardrockalbum mit mindestens fünf absoluten Volltreffern - soviel hat eine Einzellercombo wie Mötley Crüe in ihrer ganzen Scheißkarriere nicht auf die Reihe bekommen. 

Vinyl und so: Für die 1990er Originalpressung müssen mittlerweile zwischen 40 und 50 Euro gezahlt werden, und ein Reissue ist leider so gar nicht in Sicht. Die CD kostet zwischen 10 und 15 Euro. Einige Versionen erschienen unter dem Namen "Jagged Edge U.K.".


  




Erschienen auf Polydor, 1990. 

19.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #196: Killing Joke - Pandemonium




KILLING JOKE - PANDEMONIUM


"I think we’ve reached the stage where the only good thing that can happen is destruction on some level. Let’s give the cockroaches a go!" (Jaz Coleman)


Es ist ein bisschen peinlich, aber ich fühle mich dennoch verpflichtet, es öffentlich zu äußern: ich bin erschütternd spät zu Killing Joke gekommen. Und wenn ich's halbwegs genau nähme, hat es erst im Laufe der letzten zehn Jahre zwischen uns so richtig gefunkt. Für lange Zeit nahm ich der Band die stilistischen Anpassungen ihres Sounds, ganz besonders jene, die sie zu Beginn der neunziger Jahre vornahm, nicht ab und hielt besonders "Pandemonium" für eine unangenehm dem damaligen Zeitgeist folgende Angelegenheit, was stets Abzüge im Glaubwürdigkeitsranking mit sich brachte. "Pandemonium" war 1994 das bis dato mit einigem Abstand härteste Killing Joke-Projekt und wies darüber hinaus nur noch Spurenelemente ihres früheren Sounds auf, der allerdings - und auch das half der Credibility nicht so recht - auch schon in den 1980er Jahren ein paar deutliche Kurskorrekturen durchmachen musste. 

Das Trio mauerte 1994 eine meterdicke Wand aus sirupartig aufgetragenen Gitarren und robusten, gewaltig groovenden Beats, gegen die Sänger Jaz Coleman mit heiserem Gekreische anbrüllen konnte. Das zog auch hinsichtlich der als weiteres Stilmittel eingeführten Monotonie einige Parallelen zur "Psalm 69"-Phase von Ministry oder auch Trent Reznors Nine Inch Nails und passte insgesamt bestens in die florierende Alternative/Industrial-Szene. Killing Joke walzen auf "Pandemonium" nicht selten mit maximal drei Riffs durch fünf bis sieben Minuten dauernde Songs, und sie hören einfach nicht damit auf - ein Rezept, das auch auf ihren späteren Alben ab Mitte der 2000er öfter zur Anwendung kam. Das muss man aushalten können. Und wollen. Angesichts der Legion musikalischer Harmlosigkeiten, die die Rockszene in den letzten dreißig Jahren hervorbrachte, wirkt "Pandemonium" selbst im Jahr 2025 fast noch ein bisschen wahnsinniger und gefährlicher als 1994. Sowas lässt sich nicht oft über dreißig Jahre alte Platten sagen. 


Vinyl und so: Es gibt LP-Reissues von "Pandemonium" von Let Them Eat Vinyl (2008) und Spinefarm Records (2020) und zumindest letztgenannte ist trotz der Herstellung bei GZ Media eine hervorragend klingende Pressung. Ich habe keinen Vergleich zum Original aus dem Jahr 1994, das allerdings in gutem Zustand auch deutlich teurer ist, wenngleich weit entfernt von den üblichen komplett absurden Preisen.


Rest In Power, Geordie. 



 



Erschienen auf Butterfly Records/Zoo Entertainment, 1994. 

12.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #197: Anacrusis - Manic Impressions




ANACRUSIS - MANIC IMPRESSIONS


"Strange isn't it? All of humanity and what you call civilization, originated right here...in this little pond of goo." (Q)


"Manic Impressions" wurde insbesondere aufgrund der unwiderstehlichen Coverversion des New Model Army-Klassikers "I Love The World" eine größere Aufmerksamkeit zuteil, als man es wegen der ansonsten durchaus extravaganten Ausrichtung des Albums erwarten konnte. Die aus St.Louis, Missouri stammende Band gilt gemeinsam mit Kapellen wie Realm oder auch den frühen Thought Industry als eines der Aushängeschilder einer recht kurzlebigen Welle von Musikern, die präzise und technisch anspruchsvoll gespielten Thrash Metal mit progressiven, bisweilen experimentellen und psychedelischen Elementen verknüpften. Damit verdrängten ungewöhnliche Akkordfolgen, sprichwörtlich aus der Reihe tanzende Rhythmuswechsel und komplizierte Arrangements die klassischen Markenzeichen des Genres, wie beispielsweise ein hohes Tempo und konfrontative Aggressivität - letztere richtet sich auf "Manic Impressions" gar meist ins Innere, statt ins Äußere. Der womöglich widerspenstigste Aspekt der Musik von Anacrusis ist der prominent inszenierte Gesang von Kenn Nardi, der spielerisch und in Sekundenbruchteilen zwischen psychedelischem Klargesang, rauhen Thrash-Schreien und beinahe bis in den Bereich von Black Metal vordringendem Gekeife umherspringt. Auch darüber hinaus ist "Manic Impressions" nicht leicht zu konsumieren. Es braucht ein bisschen Zeit und Wille, um sich in dieser dunklen, abweisenden, atmosphärisch überwucherten Welt zurechtzufinden und sich gleichfalls auf eine Intensität einzulassen, die sich vor allem aus einer sehr ungnädigen, strengen Selbstbetrachtung ergibt. Das kann eine Herausforderung sein, aber wer das Eingangstor gefunden hat, blickt nicht mehr zurück. 


Vinyl und so: Metal Blade hat vor einigen Jahren die komplette Diskografie der Band auf Schallplatte wiederveröffentlicht, neben "Manic Impressions" gibt es nun also auch Reissues der Alben "Suffering Hour", "Reason" und "Screams And Whispers" in wirklich wunderbar gestalteten und superb klingenden Versionen, die mittlerweile auch oft im Preis reduziert wurden. Damit lohnt es sich nun doppelt, in das Oevre dieser fantastischen Band einzutauchen.


 


Erschienen auf Metal Blade, 1991. 

05.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #198: Badlands - Voodoo Highway




BADLANDS - VOODOO HIGHWAY


"Radikale Askese, das bedeutet immer und überall nur Charakterschwäche." (Thomas Mann)


Das selbstbetitelte Debut dieser in Los Angeles beheimateten Truppe um den ehemaligen Ozzy Osbourne-Gitarristen Jake E.Lee mag 1989 das kommerziell erfolgreichere Album gewesen sein, der im Sommer 1991 erschienene Nachfolger "Voodoo Highway" ist allerdings das Bessere. Die ungewöhnlich rau und erdig produzierte Platte lebt in erster Linie von einer schwülen Atmosphäre; als würde man nachts in einer heruntergekommenen Kneipe in einem Sumpfgebiet Floridas sitzen, Whiskey trinken und sich bei 40°C einem aussichtslosen Kampf gegen tollwütige Moskitos hingeben, während das Quartett auf der Bühne alle Leinen loslässt. Und obwohl Lee an der Gitarre mit seinem betont bluesigen Spiel dem Affen erwartbar ordentlich Zucker gibt, ist der geradezu entfesselt auftrumpfende ehemalige Sänger von Black Sabbath Ray Gillen der Star von "Voodoo Highway". Jener Gillen nahm mit der Band 1992 noch das Album "Dusk" auf, das allerdings erst einige Jahre nach seinem Tod im Dezember 1993 veröffentlicht wurde. "Voodoo Highway" ging in der sich langsam anbahnenden Grunge-Revolution leider völlig unter und gilt unter Kennern als eines der besten Rockalben, die niemand jemals hörte. Stimmungsvoller wurde Hardrock nur selten inszeniert und wer sich von dem bemerkenswerten Drive dieser Platte überzeugen möchte, hört am besten "Heaven's Train", das sich diese Göttertruppe leisten konnte, am Ende der B-Seite zu verstecken. Irre.


Vinyl und so: Die Originalpressung ist sehr selten und aktuell kaum unter 150 Euro zu bekommen. Leider ist hier noch kein Reissue in Sicht, aber for fuck's sake: es wird Zeit. Auch für den Erwerb der CD gilt: es gibt leichtere und günstigere Aufgaben und selbst im Streaming sieht's düster aus - mit Ausnahme von:


 


Erschienen auf Atlantic Records, 1991.


01.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #199: Red Hot Chili Peppers - Blood Sugar Sex Magik




RED HOT CHILI PEPPERS - BLOOD SUGAR SEX MAGIK


"Denken ist einsam." (Gottfried Benn)


Ich halte von den Red Hot Chili Peppers seit 25 Jahren so viel Abstand wie irgend möglich, und würde den müden Corporate-Faltenrock mit senilem Zuchtbullen-Habitus ihrer aktuellen Alben selbst mit der Kneifzange nicht mehr anpacken, aber jene doch eher betrüblich zu bezeichnende Entwicklung hat ihrem Frühwerk in der Casa Dreikommaviernull glücklicherweise nur bedingt geschadet. Von ihren drei Alben, die in den neunziger Jahren erschienen sind, ist "Blood Sugar Sex Magik" trotz der zweifellos exzellenten Qualitäten des 1995 erschienenen "One Hot Minute" und des Meilensteins "Californication" aus dem Jahr 1999, der die Band dann final in die Stratosphäre der wenn auch nicht gerade künstlerischen, aber immerhin kommerziell unantastbaren Superstars schoss, ihr wichtigstes und den Zeitgeist am eindrücklichsten definierendes Album. Ein klassischer Fall für die Mischung aus "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" und "die Summe ist größer als die einzelnen Teile". 

Denn dass die Platte mit 74 Minuten viel zu lang geraten ist, und dass damit zwangsläufig Songs auf "Blood Sugar Sex Magik" stehen, die wirklich niemand vermissen würde, wären sie in der großen Mülltonne mit dem übrigen Bandsalat gelandet, ist für die Bewertung und Einordnung komplett irrelevant. Die Attitüde der Band auf dieser Platte besitzt selbst über 30 Jahre nach der Veröffentlichung immer noch eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Die Chili Peppers waren mal autoritär anti-autoritär, und "Blood Sugar Sex Magik" ist zur letzten Tonspur vollgestopft mit sexuellen Innuendos, Drogen, Tabubrüchen, Kontrollverlusten und auch mal einem dezidierten Antirassismus: “Say what I want, do what I can/Death to the message of the Ku Klux Klan.” heißt es im Opener "The Power Of Equality". Wer über die Jugendkultur der neunziger Jahre einerseits und ihre spätere Vereinnahmung des Mainstreams andererseits als gesellschaftliches Phänomen sprechen möchte, kommt an diesem Album schlicht nicht vorbei. 


Vinyl und so: Wer sich nicht mit völlig durchgenudelten und natürlich immer noch grotesk überteuerten Originalpressungen  herumärgern möchte, greift idealerweise zum 2020er Reissue, das von den analogen Originalbändern gefertigt und auf zwei 180g Schallplatten gepresst wurde - und dabei schlicht umwerfend klingt.


 


Erschienen auf Warner Music, 1991. 

29.05.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #200: War Babies - War Babies




WAR BABIES - WAR BABIES


"Laminated Face Cunt." (Bill Burr)


Wer sich eingehender mit dem 1992 erschienenen Debutalbum dieser Seattle Band beschäftigt, mag erahnen, dass das medial gesetzte Narrativ, die Musikszene der Stadt im Nordwesten der Vereinigten Staaten habe sich Anfang der 1990er Jahre als kleines gallisches Dorf gegen die Oberflächlichkeit und Verlogenheit der Schwanzrockszene aufgelehnt, nicht viel mehr ist als besinnungsloses Business-Kladderadatsch. Die Band um den ehemaligen TKO-Sänger Brad Sinsel hatte, ähnlich wie die frühen Alice In Chains, eine deutliche Schlagseite zu klassischem Glam- und Hardrock der achtziger Jahre, mischte dazu allerdings Elemente unter ihren Sound, die man in die Nähe dessen rücken kann, was Mother Love Bone auf ihrem legendären Debut "Apple" aufzogen. Los Angeles und Seattle in seltener Eintracht. Dabei waren die War Babies bestens in die Szene Seattles integriert und spielten im Laufe ihrer Karriere regelmäßig Shows mit den späteren Grunge-Superstars. Selbst Jeff Ament von Pearl Jam war hier mal mit von der Partie, und War Babies Schlagzeuger Richard Stuverud spielte ein paar Jahre später mit ebenjenem Ament auf den beiden Alben von Three Fish (mit Robbi Robb von Tribe After Tribe). 

Der Ofen war kurz nach Veröffentlichung des Albums leider sehr schnell wieder aus, und natürlich sind Band und Album heute längst von jedem Radar gerutscht. Wer seinen Beobachtungsradius für die Musik der Neunziger im Allgemeinen und Seattles im Besonderen indes etwas erweitern möchte, darf sich gerne kopfüber in diese Platte stürzen. 


Vinyl und so: Bislang hat sich noch niemand zu einem Vinyl-Reissue entschließen können, weshalb die Originalpressung heutzutage nur noch schwer und/oder für einen Haufen Geld zu bekommen ist. Bei der CD gibt es keine Probleme. Darüber hinaus erschien im Jahr 2024 unter dem Titel "Vault" eine LP mit Studio-Outtakes und Livemitschnitten, die sehr liebevoll zusammengestellt wurde, aber mittlerweile auch immer seltener zu finden ist.


          



Erschienen auf Columbia Records, 1992


25.05.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - Die 200 Besten Alben Der 1990er Jahre





"Mal sehen, ob und was uns dort erwartet." (Lothar Matthäus)



Liebe Leserin, lieber Leser,

Es ist an der Zeit, die vor einem knappen halben Jahr in einem kleinen Text verstohlen untergebrachte Ankündigung, den Countdown über die 200 besten Platten der neunziger Jahre auf meinen Blog zu wuchten, endlich in die Tat umzusetzen. 

Und mir geht der Arsch auf Grundeis. Weil das Vorhaben auf mehr als nur einer Ebene so unüberwindbar groß erscheint, dass ein Scheitern praktisch vorprogrammiert ist. In meinem Kopf arbeite ich seit etwa vier Jahren an dieser Aufstellung, in der eisigen Realität mittlerweile unzähliger Excelsheets stehe ich seit gut zwei Jahren im ölverschmierten Blaumann im Maschinenraum der Plattensammlung und prokrastiniere fröhlich vor mich hin. Und ich wünschte noch immer, es handele sich hierbei um eine schamlose Übertreibung.  

Das große Fass mit den Feigenblättern in allen vorstellbaren Größen war mir in dieser Zeit stets ein treuer Begleiter, denn es muss immer Gründe dafür geben, das Projekt weiter auf die längste Bank der Welt zu schieben. Habe ich etwas vergessen? Ich habe doch ganz bestimmt etwas vergessen?! Muss das Album nicht auf einer viel höheren Platzierung stehen? Und warum überhaupt "Platzierungen"? Tut's nicht auch eine Sortierung nach dem Alphabet? Oder nach den Erscheinungsjahren? Pah, Sortierung my ass - ich würfel den Kram einfach aus. Als ob es wirklich irgendwen interessiert, ob eine Platte auf Platz 121 oder 118 steht, ist doch alles Blödsinn. Und dann erinnere ich mich an diese eine berüchtigte 90er Liste des Online-Magazins Pitchfork, in der Holes "Live Through This" vor Nirvanas "Nevermind" stand, und der Griff reflexartig zum Handy ging, um die Notfallnummer für akute Schlaganfälle zu wählen. Will ich mir wirklich einen solchen Quadratquatsch antun? 

Natürlich will ich das, und zwar extradreckig. Zu Beginn delirierte ich noch mit dem Plan durchs Leben, 50 Platten seien ja wohl locker ausreichend. Und als der erste Entwurf fertig war, "erkannte ich, dass das keine Lösung war" (Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen). Also gut, drehen wir den Spaß auf 75 hoch. Hm, 100 sind besser. Okay, 150. Aber jetzt ist Schluss, ich kann hier ja nicht jeden halbsteifen Mist, den irgendeine verwahrloste Band...200! 200 müssen es sein. Eigentlich ja eher 250. Grundgütiger, da fehlt ja immer noch was. Gehen auch 300? Alter, das liest doch kein Mensch. Vor allem, weil ich den ganzen Kladderadatsch nie werde schreiben können, 300 Reviews?! LOL! Also wieder beischneiden, unter Schmerzen und mit einer Überdosis Magentabletten. Das Spiel ging monatelang. Da kann man mal sehen, welche Verwüstungen so eine herbeihalluzinierte Hybris hinterlassen kann. Und gleichzeitig, der Wahrheit sei besonders an dieser Stelle die Ehre gegeben, machte das doch alles einfach unfassbar viel Spaß. Es ist alles wirklich komplett egal und irrelevant und völlig nutzlos aufgeblasen, aber ich kann damit monatelang einen Endorphin-Gangbang von epischen Ausmaßen in Superzeitlupe erleben. 

Dabei hilft es freilich, dass wir hier über die neunziger Jahre sprechen, mein Jahrzehnt. Wenn auch der musikalische Urknall zunächst mit Roland Kaiser in den frühen 1980ern initiiert wurde und sich von dort bis zum Ende des Jahrzehnts weiter zu Iron Maiden, Motörhead, Anthrax, Megadeth, Slayer und Venom verästelte, kann ich die Bedeutung der 1990er Jahre auf meine weitere Entwicklung kaum angemessen in Worte fassen. Das beschränkt sich bei Weitem nicht nur auf die Musik, die ich zu jener Zeit hörte, zumal sie so oder so unmöglich aus dem soziopolitischen Strom herauszufiltern wäre, weil alles aus Verbindungen und Abhängigkeiten zueinander existiert. Das formte sowohl den damaligen Zeitgeist als auch die jahrzehntübergreifenden Narrative der Dekade: Anything Goes. Existenzielle Freiheit. Minimalismus. Bewusstheit. Aufbruch. Und das hatte Auswirkungen. 1993, ich war noch 15 Jahre alt, outeten sich fünf meiner Freunde als schwul. Sie hatten allesamt das verbindende Gefühl, dass die Akzeptanz ihres Umfelds größer war als zuvor, dass es sicherer war, sich selbst und -bewusst zu leben. Das war keine Selbstverständlichkeit. Und ich wuchs in den kommenden Jahren mit ihnen auf. Wir sprachen darüber, was ihre Sexualität für sie und ihre Familien bedeutet, über ihre Ängste, ihre Hoffnungen, auch ihr Liebesleben. Ich ging mit ihnen zu schwulen Kneipenabenden im Frankfurts Regenbogenviertel. Das war qualitätsstiftend, weil es etwas in eine Erfahrung übersetze, die es zuvor in meinem Leben nicht gab. Roger Willemsen sagte mal, dass "wir uns gesellschaftlich glaube ich einig sind, dass Vorurteile immer nur dort entstehen können, wo Anschauung fehlt. Je mehr wir Anschauung erweitern und vertiefen, um so weniger wird es möglich, sich zu befeinden oder von etwas abzugrenzen." Es öffnete meine Welt. 

Die Musik der Neunziger war für all das der Soundtrack und zugleich der Fixpunkt, sie gab Orientierung und Bestätigung. Am wichtigsten von all dem: ich identifizierte ich mich mit ihr, mit ihrer Ästhetik, ihrer Ideologie und ihrer Überzeugung. Das bedeutete auch, an dem selbst ohne den heutigen Wahnsinn von Social Media ordentlich aufgepeitschten Konflikt zwischen den Anhängern der "alten" Musik und des "modernen" Alternative Rocks nicht teilzunehmen. Ich hörte Morbid Angel und Alice In Chains, Great White und Soundgarden, Nirvana und Dark Angel. Ich kaufte mir im Jahr 1993 das Comebackalbum von Grave Digger "The Reaper" und das Debut der Stone Temple Pilots. Ich ging zu Benediction und Atheist ins Frankfurter Negativ und sah Bad Religion in der völlig (VÖLLIG!) austickenden Hugenottenhalle in Neu-Isenburg. Auf der Hinfahrt hörte ich "Superjudge" von Monster Magnet und anschließend "Definitely Maybe" von Oasis. Ich hörte Pulp und anschließend Metal Church. Didn't give a flying fuck. Auch das war identitätsstiftend, und ging damit sogar über die eigentliche Musik hinaus. 

In jenem Geiste verfuhr ich folgerichtig auch für die Auswahl der 200 besten Platten der 1990er Jahre, denn in welchem auch sonst? Ich bin kein Musikmagazin, ich muss weder ein möglich breites Spektrum von Stilrichtungen, noch die Gefühle der Leserschaft berücksichtigen. Das wird ein monatelanger Ego-Wank über meine ganz persönlichen Lieblingsplatten. 

Und ich freue, mich, wenn Sie, werte Leserin, werter Leser, mir dabei zugucken. Sie Ferkel*in.

Ich wünsche uns allen ein extradick ausgepolstertes Durchhaltevermögen und eisgekühlte Nervenstränge.

Let's Fuckin' Go!



03.05.2025

Sonst noch was, 2024?! (6): Nailah Hunter - Lovegaze




NAILAH HUNTER - LOVEGAZE


"I dream of beheadings and goose-feather bedding on fire" (Nailah Hunter)


Als vor vier Jahren die Debut-EP "Spells" der Harfenistin Nailah Hunter erschien, kam ich über verschlungene Pfade zum Plattensammlerportal Discogs, oder präziser: zu einer Rezension über "Spells", die sich ausnahmsweise mal nicht mit der Qualität der Vinylpressung, sondern tatsächlich mit der Musik auseinandersetzte. Ein Satz aus dieser Rezension lautete:

"Like taking acid and going to Rivendell."

Ich möchte offen sprechen: danach musste ich nicht mal mehr eine Reinhörvorrichtung bemühen, um die Platte umgehend in mein Warenkörbchen zu legen. Alleine ob der vagen Aussicht darauf, das Debut dieser US-amerikanischen Allrounderin könnte auch nur entfernt so klingen, wie es dieser eine Satz versprach, war also bereits ein veritabler Kontrollverlust einzukalkulieren. Aber es wurde sogar noch besser, als das Versprechen tatsächlich eingelöst wurde. Welch Raffinesse in der Gestaltung. Welch Gespür für die Instrumentierung. Außerweltlich. Außerkörperlich. Erneuerung. Expansion. Eine Platte wie ein Märchen aus einem verzauberten Wald, in dem alles Stoffliche zum Leben erwacht. In einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Eine fantastische Reise. Man reiche mir bitte die Pappen.

Drei Jahre später, Hunter ist mittlerweile zum Label Fat Possum Records gewechselt und hat die EP "Quietude" und einige Singles ihrer Diskografie hinzugefügt, erscheint ihr Albumdebut "Lovegaze" - und ich bin noch immer fasziniert von dieser Musik. Einiges wirkt aufgeräumter, im Sinne von klarer, als noch auf "Spells", vor allem hinsichtlich der sich deutlicher abzeichnenden Pop-Umrisse. Der vor diesem Hintergrund durchaus geschickt gewählte Einstieg mit "Sweet Delights" überrascht dann sogleich mit vollmundigem Pop- und Jazz-Appeal und erleichtert das Eintauchen in diese Platte. Denn, soviel sei gesagt: so geht's nicht unbedingt durchgängig weiter. Von weiteren Ausnahmen wie dem Titelsong oder "Garden" abgesehen, die melodisch greifbarer sind, baut Hunter ihre Kompositionen mit Hilfe komplexer und zugleich flüchtiger Arrangements, die der geheimnisvollen Ausstrahlung ihrer Musik stets weitere Ebenen hinzufügen. In "Through The Din" lamentiert Hunters entrückt wirkende Stimme über Trip Hop-Ruinen durch den Märchenwald, "Finding Mirrors" weckt mit schwüler LA-Hitze aufgeladenem Post-Soul Erinnerungen an das immer noch fantastische Debut von INC, während Songs wie "Cloudbreath" - ein völlig durchlässiges und schwereloses Ambient-Instrumental - oder "000" sich so weit draußen in den Obertönen bewegen, dass sie nur schwer zu erfassen sind. Das ist der Plan: die Zwischenwelten besetzen und niemals die Schwingung unterbrechen. Mir scheinen hier speziell Hunters Gesangslinien von großer Bedeutung zu sein, operieren sie doch besonders in den experimentellen Stückes des Albums nicht selten im Verborgenen. Sie erwecken den Anschein, als seien sie just in den Momenten erfunden worden, in denen die Musikerin sich zunächst in Trance versetzte, bevor Produzentin Cicely Goulder den Aufnahmeknopf drückte. So unmittelbar wie vergänglich. Eigentlich weiß man nie so recht, was man gerade gehört hat. Aber je tiefer sich die Verbindung zwischen "Lovegaze" und der eigenen Realität ins Bewusstsein eingräbt, desto stärker lichtet sich die Konsternation. 

Wir kommen schon wieder einfach nicht drum herum - wir brauchen Zeit. Und Geduld. Und vielleicht am Wichtigsten: Gefühl.





Erschienen auf Fat Possum Records, 2024.

27.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (5): Nala Sinephro - Endlessness




NALA SINEPHRO - ENDLESSNESS


"Ich esse überhaupt nur noch, um danach mit umso größerem Vergnügen rauchen zu können." 
(Thomas Mann)


Am Ufer eines Sees. Eingebettet zwischen Bergen, deren schneebedeckte Gipfel sich im Wasser spiegeln. Stille. Windstille. Stillleben. Auf dem Wasser: keine Konturen, keine Bewegung, kein Wellchen. Fast ein wenig surreal. Hat jemand den Pauseknopf gedrückt, oder buffert mein Gehirn noch die Eindrücke? Give me something to cling to. 

Der Stein trifft die Wasseroberfläche. Rasch breiten sich die Wellen über die gesamte Oberfläche aus. Sehr schnell direkt um die Eintrittsstelle, mit langsamer werdendem Tempo je weiter sie sich in die Tiefe des Wassers graben. Und in die Breite. Fokus. Nicht blinzeln. Wir suchen das Bild im Bild. Dimensionen-Bingo im Schatten des Großglockners. Ayahuasca, DMT - olé, olé. 

Im peripheren Sichtfeld ist nun alles vor uns liegende in sanfter Bewegung. Ein zartes Schaukeln überall, in vollem Einklang mit der Umgebung. Mehr noch: es schluckt die Umgebung, es macht sie ganz. Und es wird damit so offensichtlich, dass erst die von der Erschütterung ausgelöste Schwingung das zusammenfügen kann, was durch die Unbeweglichkeit, die Starre nicht zusammenfinden konnte. Erst jetzt sind sie zu erkennen, die feinen Details, die tieferen Ebenen, die subtilen Turbulenzen - aber auch die Unberührtheiten. Was ehemals Alles und gleichzeitig Nichts war, weil das eingefrorene Bild auf der großen Leinwand keinerlei Impuls zur Durchlässigkeit preisgab, erleben wir nun Entfaltung und Verdichtung durch Bewegung und Überwindung. 

Das zweite Album der britischen Musikerin, Produzentin, Multi-Instrumentalistin Nala Sinephro heißt "Endlessness". Zehn Titel, allesamt unter dem Namen "Continuum" durchnummeriert. Der Stein fällt zur Sekunde 1 ins Wasser und möglicherweise endet die Schwingung mit dem atemberaubenden Crescendo im abschließenden "Continuum 10", möglicherweise endet sie aber auch in der Unendlichkeit. Das große Ensemble, das "Endlessness" stets auch über das triviale Ende des Werks hinaus in der Bewegung hält, unter anderem mit der Saxofonistin Nubya Garcia, dem Schlagzeuger Morgan Simpson (u.a. bei Black Midi), Ezra Collectives James Mollison, Lyle Barton am Piano, Sheila Maurice-Grey am Flügelhorn, Natcyet Wakili, Dwayne Kilvington und dem 21-köpfigen Streichorchester Orchestrate, definiert stets nur den Auftakt, niemals das Ende. So gesehen besteht "Endlessness" auch lediglich aus Ursprüngen, aus immer neu erkannten und aufgenommenen Ideen und Impulsen, die stets die kreative Stunde Null wiedergeben und sich ununterbrochen in die Breite verästeln. Beinahe fühlt es sich so an, als müsse man sich wegen des unwiderstehlichen Sogs selbst mitverästeln. Die Natur der Dinge. 

Alles hört irgendwann einmal auf zu existieren. Aber Nichts hat ein Ende.   


           



Erschienen auf Warp Records, 2024.



19.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (4): Inhmost & Owl - Beyond A Moonless Night




INHMOST & OWL - BEYOND A MOONLESS NIGHT


“We are all connected; To each other, biologically. To the earth, chemically. To the rest of the universe atomically.” (Neil DeGrasse Tyson)



Ich bin geneigt, an dieser Stelle von einem "brandheißen Tipp" für alle Ambient-Jünger*innen zu schreiben, aber so brandheiß ist diese im vergangenen Sommer erschienene Platte im Frühling 2025 dann leider auch nicht mehr. Und ich bitte davon abzusehen, mir die zwar berechtigte Frage zu stellen, warum "Beyond A Moonless Night" denn nicht in meiner Top 20 auftauchte, weil ich außer der Feststellung, dass die Konkurrenz nun wirklich groß war, keine passende Antwort ausformuliert habe. 

Inhmost's Simon Huxtable ist auf 3,40qm kein Unbekannter mehr, hatte ich hier doch schon mehrfach auf das außergewöhnliche Talent des britischen Produzenten hingewiesen. Der aus Belgien stammende Pierre Nesi aka Owl kam mir erstmals mit seinem 2021 auf Silent Season erschienene Album "Infinite Horizon" aufs Radar. Die Wege der Herren kreuzten sich in den letzten Jahren unter anderem über Veröffentlichungen auf den Labels re:st und Huinali. "Beyond A Moonless Night" ist die erst Zusammenarbeit der beiden Musiker. 

Ich möchte heute auf dieses kleine Juwel hinweisen, nicht zuletzt deshalb, weil ich die Befürchtung habe, hier könnte ein bemerkenswertes Album in der Flut von Veröffentlichungen schlicht untergehen. Wie eingangs ausgeführt, weiß ich leider, wovon ich spreche. Der US-Amerikanische Musikkritiker Anthony Fantano berichtete vor wenigen Monaten, dass an einem Tag des Jahres 2024 soviel Musik veröffentlicht wurde wie im ganzen Jahr 1989. Welche Auswirkungen die schiere Menge an neuer Musik in Verbindung mit den programmierten Algorithmen sozialer Medien, einer gesunkenen Aufmerksamkeitsspanne und veränderten Lebensrealitäten der Zielgruppe auf Aspekte wie Vermittlung und Einordnung, also auf den generellen Diskurs haben, sehen wir seit einigen Jahren in der immer weiter voranschreitenden Auflösung von ehemals etablierten Medien und Plattformen und damit letzten Endes Diskursräumen, sowie gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und Standards. Ich bin beispielsweise immer (noch) überrascht, wenn die eigene Recherche zu Musikern und ihren Werken mittlerweile in den meisten Fällen auf den Seiten von Mailorderplattformen endet, stets lediglich kombiniert mit den übernommenen Promotexten der Plattenfirmen. Das ist oft diktiert von den jeweiligen Genres; über das letzte Album von The Cure schreibt natürlich immer noch jede*r, auch mit der Gewissheit, dass die Texte wenn schon nicht gelesen, dann immerhin angeklickt werden. Über Ambientproduktionen gleichermaßen zu lesen und zu schreiben kann hingegen ein bisschen einsam machen. 

Nun ist Einsamkeit ja traditionell eines der großen Markenzeichen auf 3,40qm, und auch das verraten mir sowohl die Zugriffszahlen als auch meine Postingfrequenz auf diesem seit 18 Jahren existierenden Blog, und ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass zwischen diesen beiden Messgrößen ein kausaler Zusammenhang besteht. Neben den viel zu langen, ungelenk formulierten, mit diskussionswürdigem Humor und permanenter Überwärmung versehenen Texten und ihren stilistischen Katastrophen, versteht sich. Und bevor uns allen, und ganz besonders mir, jeden Moment die Tränen in die Augen schießen, lassen Sie mich noch schnell einige Worte zu "Beyond A Moonless Night" verlieren.

Was sich auf diesem Album bereits gleich zu Beginn offenbart, ist der außergewöhnlich immersive Klang dieser Aufnahme. Das ist der erste Anker, den "Beyond A Moonless Night" setzt. Das Eintauchen in dieses Universum ist unmittelbar. Es ist warm und weich, dabei kristallklar und durchlässig. Die sich überlagernden Schichten ihrer Musik öffnen unentwegt neue Räume für Visionen. Ich habe bei der Auseinandersetzung bemerkt, dass die Platte sich ganz hervorragend für die Momente des Zwielichts eignet, für die Augenblicke zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Bewusstheit und Intuition. Ich sehe große Vogelschwärme, die in der Dämmerung wie von einer unsichtbaren Entität geführt in Bruchteilen von Sekunden Flugrichtungen wechseln, ich sehe sich in einer sanften Brise wiegenden Palmen, ich spüre die Verbindung und das Miteinander. In "Dusk Settled Over The Mountains" stehe ich mit Lisa Gerrard und Brendan Perry in einer gotischen Kathedrale auf dem Saturn. Das kann eine außerordentlich befreiende, angstlösende Wirkung haben. Dabei hilft es, dass Inhmost und Owl sich viel Zeit für die Entwicklung ihrer Ideen lassen und die Musik behutsam expandieren, ohne dafür die Struktur zu opfern. Hier fließt nichts in Ungewisse, weil jede Bewegung Richtung und Bestimmung hat. 

In funkelnden Astralnebeln zwitschern Vögel. 


 



Erschienen auf Stasis Recordings, 2024.