26.09.2016

The Republican party has actually nominated for president a man who...believes Belgium is a city




Keith Olbermann, der aus meiner Sicht leidenschaftlichste, bissigste und gleichzeitig rhetorisch eleganteste politische Kommentator der USA, hat nach einiger Abwesenheit von den Bildschirmen seit wenigen Wochen seine Rolle als "Special Reporter" bei GQ (Gentleman's Quarterly) eingenommen und macht dort das, was er am besten kann: ein komplexes, in Teilen gar anstrengendes, bis in detaillierteste Rechercheergebnisse nebst Mikroverästelungen hervor dringendes Dauerfeuer gegen das konservative Amerika - aktuell verkörpert von der republikanischen Partei und deren Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. Olbermann hat sich nun, nach zahlreichen öffentlich ausgetragenen Fehden aus seiner Vergangenheit mit dem früheren Präsidenten George W. Bush und ganz besonders mit dem konservativen Rechtsausleger Bill O'Reilly vom Sender FOX - von Olbermann zärtlich Billo The Clown genannt - , Trump als Ziel seiner Attacken ausgesucht, und es ist erwartbar, dass er damit mindestens bis zur Wahl im November 2016 nicht aufhören wird. 

Olbermann ist kein Comedian. Olbermann ist Journalist und das ist nicht nur Teil seines Selbstverständnisses, das IST sein Selbstverständnis. Humor findet man in seinen Vorträgen allenfalls in der absurden Aneinanderreihung seiner Beschimpfungen und Beleidigungen oder aber in der bitteren und todernsten Gnadenlosigkeit seiner Einlassungen und Anschuldigungen. 

Seine über siebzehnminütige Rhetorik-Lawine mit dem akkuraten Titel "176 Shocking Things Donald Trump Has Done This Election" ist bereits ein kleiner Klassiker und liegt angesichts der überschaubaren Größe und Bekanntheit von "The Closer" mit über 1,5 Millionen Views weit über den Erwartungen. Der Erfolg hat Olbermann offenbar dazu inspiriert, nochmal nachzulegen: heute, und damit kurz vor dem ersten TV-Duell zwischen Donald "Drumpf" Trump und Hillary Clinton, erschien ein zehnminütiges Nachtreten mit dem erwartbaren Titel "74 Terrible Things Donald Trump Has Done...This Month". 

Ich möchte beide Ausgaben von "The Closer" hier mit Euch teilen und darüber hinaus auch die anderen bislang erschienenen Episoden empfehlen - ganz besonders aber das auf Youtube verfügbare Oevre aus alten Tagen - bevor Olbermann es sich mit Sendern, Produzenten und Regisseuren auf seinem langjährigen liberalen Heimatsender MSNBC verscherzte, im Wortsinn. Es heißt in diesem Zusammenhang, die Arbeit mit ihm sei "nicht einfach". Glaube ich aufs Wort. Aber ich liebe ihn. Irgendwie. 







25.09.2016

Sounds Like Shit - Deja Vu




WARRIOR SOUL - DESTROY THE WAR MACHINE 
(Vinyl Edition)


Was sich auf den ersten Blick wie ein Sympton einsetzender Demenz von Herrn Dreikommaviernull liest, "zumindestens" (Bruno Labbadia) für diejenigen Leserinnen und Leser, denen dieses Schicksal bislang erspart blieb, ist auf den zweiten Blick gar keine schnöde Wiederholung alter Fanboy-Herrlichkeit, sondern viel eher ein kurzes, vor Enttäuschungen warnendes Signalfeuer aus allen schreiberischen Rohren des Autors. Naja, aus fast allen.

Dass "Destroy The War Machine" (oder "Chinese Democracy", wie das Werk in der Originalversion hieß) ein extragutes, mächtig Drive und Seele versprühendes Warrior Soul Album war und ist, eingespielt von einer perfekten Rock'n'Roll Band und also der besten Begeitband, die Kory Clarke seit dem Ende jenes Line-Ups um sich versammelte, das die legendäre "Space Age Playboys" Platte einspielte, wissen wir hier alle - und wer es nicht weiß, soll nun um Himmels Willen nicht den Fehler machen, sich die auf 333 Stück limitierte und handnummerierte Version der Scheibe auf weißem Vinyl zu besorgen, die dieser Tage via der italienischen Wiederveröffentlichungsspezialisten Night Of The Vinyl Dead erscheint. Es sei denn, du hast einen ebenso monumentalen (sic!) Dachschaden wie ich und findest Gefallen an lediglich schön anzuschauenden Gimmicks. 




Denn außer sich an dem blütenweißen, von der jornalistischen Integrität einer Ilona Christen frisch durchgebimsten, hell funkelnden Vinyl zu erfreuen, bleibt hier von der ersten Begeisterung nicht mehr viel übrig - und ich rede dabei gar nicht in erster Linie von dem Fehldruck auf dem Inlay, auf dem die Texte von "Motor City" und "Don't Believe" gleich zwei Mal aufs Papier gezaubert wurden. 





Spätestens, wenn sich die Nadel ab der Plattenmitte jeder abspielbaren Seite unaufhörlich in Richtung Auslaufrille bewegt und von dem vollen, satten voluminösen Sound der Originalversion nur noch ein scheppernder, kratzender, verzerrter und übersteuert klingender Klangscheißdreck übrig bleibt, der sich also aus den Lautsprechern in Gehör, Gehirn und Geherz fräst, macht sich Enttäuschung breit.

Immerhin eine solch große Enttäuschung, dass ich entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten via Twitter mit den Machern des Labels Kontakt aufnahm, um zu fragen, ob das denn eine offizielle Night Of The Vinyl Dead-Version sei. Vielleicht hat auch ein...sagen wir...ein Eichhörnchen in einem Hinterhof die Platten auf zwei plattgdrückten und vom letzten Winterschlaf noch gehorteten Walnussschalen gepresst und illegal den Namen des eigentlich durchaus renommierten italienischen Labels aufs Cover gestempelt, weiß man's denn? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten - das sei alles 100% authentisch und von Warrior Soul-Chef Kory Clarke höchstpersönlich abgesegnet; was wie auf Kommando nach ein paar Tagen sogar via eines in die Twitterspähre hinaustrompeteten Fotos gezeigt wurde, auf dem Clarke, wahrscheinlich direkt nach dem Aussaufen eines Fasses von Gerhard Polts "Schwedischen Kaffee" abgelichtet, zusammen mit den beiden Labelchefs und einem Exemplar von "Destroy The War Machine" zu sehen ist. 




Eine Nachfrage beim Mailorder meines Vertrauens ergab, dass ich nicht der erste sei, der sich über die Pressqualität beschwert, Zitat:"Da hat der Cutter wohl total versagt."

Das hat er wohl.

Dabei ist "Destroy The War Machine" in Sachen unterirdischer Klang- und Pressqualität natürlich nicht alleine - vor allem die zur Plattenmitte zunehmende Verzerrung erlebe ich in schätzungsweise drei von zehn Fällen und ausschließlich bei Neuware, mal mehr, mal weniger schlimm. Freund Jens beklagt sich beispielsweise in erster Linie über die steigende Anzahl von Scheiben mit signifikantem Höhenschlag - und das auch nicht erst seit gestern. Dazu kommen klassische Pressfehler wie das unangenehme und so gar nicht charmante und "warme" Knistern. Der Vinylhype bringt also nicht nur Gutes wie schön gemachte und super klingende Schallplatten an die Oberfläche, er zeigt auch, wie Presswerke funktionieren (müssen), um der immer noch steigenden Nachfrage gerecht zu werden. Die alten Könner, die Gurus des Schnitts und der Galvanisierung, die Mitte der 1980er Jahre auch mal dreißig Minuten pro Seite auf fast schon durchsichtiges Butterbrotvinyl knisterfrei zum Strahlen und Klingen brachten, sind in Rente, die jungen Nachfolger sind vielleicht noch nicht soweit, stehen dazu unter ständigem Stress - und verkacken es immer öfter. Warum die Anzahl der Rückläufer nicht bedeutend höher ist, beantworte ich im Prinzip in diesem Text an anderer Stelle, und es ist kein schmeichelhaftes Urteil mir gegenüber: ich bin eben zu doof. Anstatt den Krempel mit geharnischten Worten und einem geknödelten "Retuuuurn To Sendeeeer" auf den Lippen zurückzuschicken, freue ich mir trotzdem einen Ast, dass ich jetzt dieses weitgehend unhörbare Ding im Schrank stehen habe. Verrückterweise werde ich es auch künftig immer wieder mal auflegen, und wahrscheinlich immer noch öfter als die CD-Version. Ich bin eben einfach zu doof. 

Für die anderen kann ich im Prinzip nicht sprechen - aber der Grapevine bestätigt zumindest in Teilen meine Vermutung: die meisten Platten werden wohl einfach gar nicht gehört. Die Leute kaufen sich den Krempel als Gimmick, Wertanlange oder was auch immer, gehört wird aber gefälligst bequem über AldiLife (das gibt's ja tatsächlich?!) - mobil, Sound eh scheißegal, weil es die 400 Euro Kopfhörer ja wieder rausreißen - Stichwort Dachschaden, Einsendeschluss: der Tag, an dem Dein Lieblingsplattenladen schließt. Jedenfalls: die Preise steigen, die Qualität nimmt ab, das Exklusivitätsgewichse nimmt zu. Und die Ignoranz gleichermaßen. Was Night Of The Vinyl Dead mir zur Pressqualität von "Destroy The War Machine" sagten? 


Schade isses schon. 

Erschienen auf Night Of The Vinyl Dead, 2016.


22.09.2016

Astral hinters Licht




QLUSTER - ECHTZEIT


"Und wenn Keith Jarrett diese Platte hört, setzt er sich nie wieder an einen Flügel." schrub ich zu Beginn des Jahres 2013 über "Antworten", den dritten Teil der Qluster "Fragen" - "Rufen" - "Antworten"-Trilogie, und auch wenn der unerbittlich mit sich selbst ringende Schwerstarbeiter unter den Improvisierern diese ganz bemerkenswerte Platte ganz offensichtlich immer noch nicht gehört, oder jedenfalls wenigstens meinen Text noch nicht gelesen hat, empfehle ich hier und heute all' meinen dreikommavier Lesern, selbiges zu tun. Also sowohl das eine, als auch das andere. Stichwort: Jetzt erst recht.

"Echtzeit" ist mittlerweile bereits das sechste Werk von Hans-Joachim Roedelius, Onnen Bock und Armin Mentz und nach dem reinen Klavieropus "Tasten" aus dem letzten Jahr eine Rückkehr zu einer etwas elektronischeren Ausrichtung. Es ist auf jeder Ebene eine leise Rückkehr, was angesichts der bisherigen Alben des Trios indes nicht sonderlich überraschen mag: viel Raum, viel Ruhe. Wenig Bewegung. Aber darüber musste ich nachdenken - stimmt das denn überhaupt? Stillstand? Verharren? Schon alleine aufgrund der Musiker und ihrer Historie ist das eigentlich ein völlig absurder Gedanke, aber "Echtzeit" hat mich ein bisschen ausgetrickst. Qlusters Musik ist so zurückgezogen und so akkurat auf einen Mikrometer Hirnfläche ausgerollt, dass die eigentliche Bewegung, vor allem die in Richtung Herz-Chakra, sich in ein Flirren am Sommerhorizont aufzulösen scheint. Eine aurale Täuschung, die solange die Oberhand gewinnt, bis man "Echtzeit" selbst näher auf die Pelle rückt und den Zoom neu einstellt.

Tatsächlich sind Qluster in ständiger Bewegung und erschaffen unentwegt neue Ebenen und neue Richtungen. Manchmal, nicht oft, lässt sich ein kurzes, vermeitliches Zögern ausmachen, eine kurze Pause zur erneuten Wegbestimmung, zum wortlosen, aber dafür energetischen Gedankenaustausch, bevor wieder eine Idee vor und hinter die nächste und die letzte gesetzt wird. Meistens ist das Resultat solcher Orientierung eine bemerkenswerte, weil unerwartete Melodie. Am besten Nachzuhören auf "Beste Freunde" und "Weg Am Hang". 

Eine Bemerkung zum Abschluss: Zumindest die mir zugesandte Vinylausgabe von "Echtzeit" ging leider wieder in Richtung des Mailorders zurück - ein stetes Kratzen und Zischeln lässt auf eine misslungene Pressung schließen und ist auf einem Ambientwerk durchaus unangebracht. Hier empfehle ich also die CD oder den Download. Streaming kann mich mal. Immer noch. Und meinetwegen auch immer wieder.





Erschienen auf Bureau B, 2016.


17.09.2016

Tout Nouveau Tout Beau (18) - Schwanzrock Revisited



CYCLE SLUTS FROM HELL - CYCLE SLUTS FROM HELL


Die Cycle Sluts From Hell aus New York erhielten zu Beginn der neunziger Jahre sogar über die Grenzen ihrer Heimatstadt New York hinaus eine gewisse Aufmerksamkeit. Zum einen ging man mit Motörhead auf große Europatournee, zum anderen schloss sich der frisch bei Overkill ausgestiegene Bobby Gustafson der Frauenband an. Und weil die Cycle Sluts durch unzählige Konzerte im Großraum New York sich bereits ein großes Following erspielt hatten, wurde mit der Epic gar ein Majorlabel auf die Truppe aufmerksam - was nebenbei die Videosingle "I Wish You Were A Beer" mit entsprechender Heavy Rotation auf MTV zum kleinen Gassenhauer machte. Vielleicht war die Band mit Künstlernamen wie Venus Penis Crusher und Honey 1%er und Texten wie im erwähnten "I Wish You Were A Beer" oder "By The Balls" die erste richtige feministische Metalband. Als Begleitmusiker spielten übrigens mit Scott Duboys und Chris Moffett zwei Typen bei den Cycle Sluts, die später Warrior Soul in deren "Space Age Playboys"-Phase am Schlagzeug und an der Gitarre unterstützen sollten. Musikalisch ist das leider einzige Album der Cycle Sluts From Hell eine solide, punkige, straighte und teils rotzige Heavy Metal Platte. Macht Bock.




Erschienen auf Epic Records, 1990.








DOKKEN - UNDER LOCK AND KEY


Für viele das kompletteste und beste Dokken-Album aus einer ganzen Reihe starker Werke aus den 1980er Jahren und tatsächlich: "Under Lock And Key" ist bestes Hardrockfutter und selbst heute ist das Songwriting, ignoriert man die dezente Staubschicht, die bei solcher Musik eben auch dann anfällt, wenn man den Plattenschrank täglich aussaugt und abstaubt, in Sachen Dynamik und Melodik immer noch state of the art und ganz bestimmt auf einer Stufe mit den besten Alben der Konkurrenten von damals. Dabei macht es Sinn, die Spreu vom Weizen zu trennen. Dokken hatten alleine wegen des Spiels von Gitarrenheld George Lynch, ähnlich wie beispielsweise Mark Kendall bei Great White, einen bluesigeren Ansatz und waren ganz besonders exzellent darin, starke Hooklines mit einem relaxten Sonnenuntergansdrive zu verbinden. Dokken waren nicht überdreht wie Poison oder Mötley Crüe, die die zumindest am Beginn der Karriere fehlende musikalische Substanz mit allerlei Schabernack auf und abseits der Bühne kompensieren mussten. Die Kehrseite der Medaille ist in diesem Zusammenhang eine dezent wahrzunehmende Spießigkeit der Band, aber 31 Jahre später bleibt eigentlich nur die herausragende Qualität dieser Songs übrig. Und apropos Great White: deren Genie Michael Lardie war am Mix von "Under Lock And Key" beteiligt und es ist daher auch nur ein bisschen seltsam, dass "The Hunter" ziemlich exakt nach Great White klingt. 




Erschienen auf Elektra, 1985.







L.A. GUNS - L.A. GUNS



Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten - das Debutalbum der L.A. Guns ist eigentlich keine große Sache: ein knappes Dutzend drei- bis vierminütige Hardrocksongs von der Stange, guter Drive, leicht rebellisch angehaucht. Eine jener Platten, wie sie zur damaligen Zeit an den Bäumen wuchsen. Angesichts der heutigen Ödnis im klassischen Hardrock, der Peinlichkeit von Ganzkörpervollidioten wie Steel Panther, Airbourne oder fucking Volbeat, erscheint "L.A. Guns" indes als beinahe lebensnotwendiges Gegengift. Dabei hatten die Jungs damals auch nicht mehr alle Latten am Zaun (und damit waren sie ganz sicher nicht alleine), bei Texten wie "Sex Action" windet sich der halbwegs mit wachem Geist ausgestattete Mensch gar vor schlimmen Schmerzen, trotzdem hat das alles viel mehr Charme als der heutige - Pardon! - Scheißdreck, und mit dreißig Jahren Abstand außerdem ein angemessenes Augenzwinkern. Ich hatte die Truppe um Tracii Guns schon im letzten Jahr wegen ihres "Hollywood Vampires" Albums in höchsten Tönen gelobt und bin versucht, es für das Debut schon wieder zu tun. Ich laufe hier wirklich nicht vor Begeisterung die Wände hoch, aber mit ein paar Gläsern Gin Tonic lässt sich ein Sommerabend mit der Platte ganz prima bestreiten. Again: no small mercies these days.

Am Wegesrande: ich habe die US-amerikanische Pressung auf ziemlich dünnem Labbervinyl und die klingt immer noch drölf Mal besser als so mancher 180g Repress aus 2016. Ich wollt's nur mal gesagt haben.




Erschienen auf Vertigo, 1988.



11.09.2016

Der Sound der großen weiten Welt




SAD & THE SOULDOGS - SLOW


Wenn sich auf dem Backcover einer Platte die Politik und das Kapital einklinken, mit der Abbildung des Stadt- und  Gemeindewappens oder dem Logo eines Handelskonzerns beispielsweise, wenn also darauf hingewiesen werden möchte, dass die Platte, die man gerade in den Händen hält, durch Politik und Förderwettbewerbe multinationaler Großkonzerne subventioniert wurde, dann muss ich sehr reflexhaft wenigstens mit den Augen rollen oder gleich über die nächste als kritischer Journalismus getarnte Apple-Werbung in unseren Tageszeitungen reihern. Im Punk und Hardcore ist das natürlich noch eine Spur witziger, wenn die tätowierten Superrebellen in Text und Interview gegen Staat, Bullen und Kapitalismus gröhlen, aber dann ein paar Schrauben aus der Halterung für's Weltbild fallen, wenn das Kulturdezernat der Gemeinde mit 200 Schleifen wedelt. Kann man ja auch mal drüber nachdenken.

Rapper und Produzent SAD dürfte hingegen noch alle Schrauben beisammen haben, und ich will ihm die aufgedruckten "Kultur Bern", "Migros Kulturprozent" und "Burgergemeinde Bern"-Logos nicht zwingend zum Nachteil auslegen. Es war und ist schwer für Musiker, und ein solches Projekt stemmt sich nicht mal eben so zwischen Lohnarbeit, Kindererziehung und dem Zurechtrücken der Baseballkappe. Dezent vorgespannt bin war ich aber trotzdem, als ich "Slow" auflegte. Man sieht's mir bitt'schön nach.

Glücklicherweise gibt es fast kein besseres Gegengift, um Spannungen, und seien es auf jeder denkbaren Weise nur die pubertären, zu lösen als "Slow", und ähnlich wie bei Kayos "A Thousand Months" hätte die Zielgruppe für solche Sounds bereits das Plattenpresswerk stürmen müssen. Ein extraentspannter Souljazz-Mix mit der tollen Stimme der Bieler Sängerin Djemeia und Raps von T3 und Young RJ von Slum Village aus Detroit (J Dilla, anyone?), eingespielt von einer echten Liveband, die sich aus der Riege der besten Musiker der lokalen Soul- und Funkszene zusammensetzt. Das liest sich nicht nur ausgesprochen verlockend, das hört sich auch so an; in den besten Momenten fallen mir gar die großen Namen der US-amerikanischen R'n'B Szene zu Songs wie dem sowohl brilliant gesungenen als auch gespielten "Hold Me Down" ein - sehr reduziert mit einer Wah Wah-Gitarre durchs balladeske Arrangement wabbelnd, dazu eine Familienportion Dramatik zum krönenden, aufgetürmten Ende. Die Raps von Slum Village, nebenbei: die Jungs machen hier bestimmt auch nicht nur für zwomarkfuffzich und einen Teller warmer Suppe mit, lockern "Slow" an den richtigen Stellen auf und geben dem Klangsmoothie den nötigen Biss. 

"Slow" kennt praktisch kein Mensch, aber daran kann man ja arbeiten. Eine feine, kleine und erfreulicherweise auch nicht zu lange Platte. Und irgendwie ist es ja recht ungewöhnlich, sowas aus der Schweiz auf den Plattenteller gelegt zu bekommen, aber wegen mir kann das genau so gerne weitergehen. 

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Erschienen auf Mouthwatering Records, 2016.


04.09.2016

Herzschlag




CHARLIE HADEN & ANTONIO FORCIONE - HEARTPLAY


Beeindruckende Momente der Tiefe, der Einkehr und der Schönheit. Auf diesem im Jahr 2006 aufgenommenen Album spielen sich Bassist Charlie Haden und Antonio Forcione an der Gitarre in einen waren Tiefenrausch. Wer mal die Zeit anhalten will, vorzugsweise nachts gegen drei Uhr bei einer Tasse Kaffee und in gedimmten Licht, der hört "Heartplay" - dessen Faszination umso größer wird, hört man den beiden Musikern aufmerksam zu. Das mag gespreizt und prätentiös klingen, aber wie so oft bei Jazz steigt jedenfalls meine beinahe extatische Begeisterung, wenn ich die Wege der Musiker genau verfolge, ihr Zusammenspiel, die Raffinesse, das Einfühlvermögen. In solchen Momenten erscheint plötzlich sehr vieles, was sich im heimischen Plattenschrank vor allem unter dem Moniker "Uff, Rockmusik!" tummelt als fad, eintönig und there I said it: stumpf. Das ist im Grunde kein Problem für mich, schließlich mag ich es auch gerne stumpf, genau genommen bin ich sogar schon stumpf aufgewachsen, "ich weiß, wovon ich rede."(Polt), jedenfalls: der Reichtum von "Heartbeat" wächst exponentiell mit der Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbringt. 

Forciones Talent für gleichzeitig in der emotionalen Ansprache üppige wie in der Ausführung sparsam eingesetzte Melodik konnte ich erstmal 1994 im Neuen Theater in Frankfurt-Höchst bewundern, als er mit seinem Partner Marcial Heredia unter dem Programm "Flamencomedy" eine abendfüllende Mischung aus Musik, Artistik und Humor präsentierte. 

Teil 1:





Teil 2:





Die an diesem Abend erstandene CD, Forciones "Acoustic Revenge", zählt seither zu den unumstößlichen Grundpfeilern meiner musikalischen Adoleszenz, ganz besonders zeigt der Abschlusstrack "Heart Beat" die ganze Palette seines Könnens. Forcione bearbeitet in seinem Spiel jeden Quadratzentimeter seiner Gitarre, nutzt Boden, Decke, Hals und selbst die Mechanik als perkussives Instrument und lässt gleichzeitig viel Raum für die Entfaltung von Melodien und Stimmungen. 






Über Kontrabasslegende Charlie Haden muss man indes nicht mehr so irre viele Worte verlieren. Der 2014 verstorbene Bassist war einer der einflussreichsten Musiker der letzten 50 Jahre, dazu ein kritischer, politischer, aktiver Geist, der nicht zuletzt mit seiner Beteiligung an Ornette Colemans "Free Jazz" und seinem Meilenstein nebst namengebendem Projekt "Liberaton Music Orchestra" stilprägend für folgende Musikergenerationen sein sollte. Außerdem ist mir sein Album "Nocturne" seit Jahren ein treuer Begleiter in warmen Sommernächten.






Acht Kompositionen stehen auf "Heartplay", vier davon stammen aus der Feder des italienischen Gitarristen, drei von Haden, dazu gesellt sich eine Coverversion von Fred Herschs "Child's Song". Hadens bekannte Stilistik, eine Mischung aus Verweigerung und Vereinfachung von Ton und Technik und dabei einer Haltung wie jener von Pianist Thelonious Monk nicht unähnlich, erhält hier eine neue Blaupause. Ganz besonders in Forciones Songs entwickelt Hadens fast schon stoisches Herumschlurfen einen ganz speziellen Puls, eine subtile, unterbewusst wahrnehmbare Rythmik - und Forcione reagiert darauf mit seinem ausgeprägten Gespür für Melodik und Raum. Die Ballade "Snow" und das folgende "Nocturne", die beide gegen Ende so leise und ätherisch werden, dass sie beinahe auseinanderfallen, sind Paradebeispiele für die Ausrichtung von "Heartplay". 

Ein weises, introvertiertes, sparsames Album für Nächte im flackernden Kerzenschein. Klischees my ass. 




Erschienen auf The Naim Label, 2015.


P.S.: Die Aufnahmen wurden in den Londonder Abbey Road Studios speziell für die Veröffentlichung auf Vinyl gemastert - leider ist die Pressung auf 180g Virgin Vinyl zumindest auf meinem Exemplar nicht frei von Problemen, was sich an durchgängigem, zwar sehr dezentem, aber eben doch wahrnehmbarem Knistern zeigt. Mich persönlich stört das nicht, manchmal gar ganz im Gegenteil, und ich würde die Langspielplatte auch nachwievor uneingeschränkt empfehlen, aber wer sich von der oben stehenden Lobhudelei genötigt fühlt, die LP-Version von "Heartplay" zu erstehen und dabei einen ausgeprägten Reinraum-Soundfimmel hat, ist hiermit leise vorgewarnt.