"Es ist doch ausgerechnet an meinem Geburtstag. Da bin ich ja dann schon 14."
Ich weiß es noch wie heute: meine Eltern nahmen mich damals zum allmonatlichen Kegelabend mit und auf dem Heimweg hörte ich dann die so lange ersehnten Worte.
"Also gut. Aber der Papa fährt Dich hin und holt Dich auch wieder ab. Und um 23 Uhr ist Schluss."
Ich habe die folgende Nacht vor Freude nicht geschlafen.
Das Line-Up dieses Abends liest sich wie der feuchte Traum eines jeden Thrash Metal Fans: die Bay Area-Legende Heathen, die ihr gerade geborenes Album "Victims Of Deception" promoten wollen, gehen als erste Band des Abends auf die Bretter, die Brasilianer von Sepultura holzen mit ihrer letzten guten Scheibe "Arise" im Gepäck als Headliner alles um, und in der Mitte wollen Sacred Reich ihr "The American Way"-Album vorstellen, das ein Jahr zuvor in Europa veröffentlicht wurde, und das ich zu jenem Zeitpunkt schon in- und auswendig kannte.
Sacred Reich stammen aus dem US-Bundesstaat Arizona und veröffentlichten bis zur ersten Bandauflösung im Jahr 2000 insgesamt vier Studioalben. Drei EPs und ein Livealbum vervollständigen die Diskografie. Das zweite Studioalbum "The American Way" erschien 1990 und gilt heute, wie auch das Debut "Ignorance", als Klassiker des Thrash Metals.
Das ist einerseits verwunderlich, denn "The American Way" hat mit den High Speed-Thrashern, die auf "Ignorance" und der großartigen "Surf Nicaragua"-EP zu finden waren, nicht mehr viel zu tun. Bis auf einige rare Geschwindigkeitsausbrüche regiert das Mid-Tempo und ein geradewegs höllischer Groove, der insbesondere vom eigentlich recht simplen, aber ungeheuer originellen Riffing entwickelt wird. Für jene Zeit ist das schon durchaus ungewöhnlich, und auch wenn die Thrash Metal Fans zu jener Zeit mit einigen Soundkorrekturen ihrer Lieblingsbands leben mussten (= zu kämpfen hatten), kratzten sich 1990 nicht wenige am Kopf und fragten sich, ob das eigentlich noch der pure, reine Thrash Metal sei. Darf man das eigentlich noch gut finden? Und damit kommen wir zum Andererseits: Ja, das musste man sogar gut finden. Eigentlich bleibt einem bei Riff-Granaten wie dem zunächst etwas sperrigen Opener "Love...Hate", dem fantastischen Titelsong, dem Groove-Monster "The Way It Is", dem endzeitlichen "Crimes Against Humanity", oder der Hymne "Who's To Blame?" gar nichts anderes übrig: das ist alles (!) viel zu gut. Sacred Reich loten hier keine Extreme aus - bis auf extrem gutes Songwriting: das Quartett hat mit "The American Way" ein beeindruckend kompaktes Album geschrieben und an das Ende sogar ein experimentelles Funkrock-Intermezzo namens "31 Flavors" gesetzt, das mit Bläsern und einem Bootsy Collins Gedächtnis-Basslauf überrascht und textlich den Spirit der Band auf den Punkt bringt:
I love the Chilis
freaky, uplift, mother's milk
Faith No More
Mike Patton's voice is smooth as silk
Metallica's
music makes me want to rage
Sting's lyrics
have something to say
Jimi Hendrix
plays guitar like a no one else
Black Sabbath
Ozzy's voice is sick as hell
Prince, Fishbone, NWA
these are the things that I like to play
Mr. Bungle
is so very cool
so don't be
an ignorant fool
there's so much music
for you to choose
so don't just be
a metal dude
it's cool fool
Vermutlich wäre ein solches Stück mit einem solchen Text angesichts der damaligen sehr sturen und engstirnigen Szene für jede andere Band das kommerzielle Todesurteil gewesen, aber Sacred Reich waren auch aufgrund der im Mittelpunkt stehenden, sozialkritischen und politischen Texte viel zu glaubwürdig, um hier einen billigen Marketing-Trick zu unterstellen. "Who's To Blame?" griff die Anschuldigungen gegen Judas Priest und Ozzy Osbourne auf, sie seien für den Selbstmord von Jugendlichen direkt verantwortlich. "Crimes Against Humanity" richtet sich gegen die Umweltverschmutzung, "The American Way" beschreibt den Zerfall der US-amerikanischen Gesellschaft mit der Zeile "No truth, no justice...The American Way.", mit der darüber hinaus seither die Konzerte der Band eröffnet werden.
Apropos "Konzerte", Teil 1: die Buben sind seit 2007 wieder mehr oder minder regelmäßig live unterwegs - sogar in der Alten Welt. Zur Festivalsaison gibt es eigentlich jedes Jahr die Möglichkeit, die quietschfidele Truppe auf einer Clubbühne zu sehen. Was ich hiermit ausdrücklich empfehlen möchte.
Apropos "Konzerte", Teil 2: Der Abend im Juni 1991 war selbstverständlich denkwürdig. Ich werde niemals vergessen, wie mein Vater, stilecht im burgundfarbenen Pullunder und mit brauner Wildlederjacke und Schnauzbart bewaffnet, die Tür zur Halle im Frankfurter Volksbildungsheim just in dem Moment öffnete, als Andreas Kisser zu einem Gitarrensolo ansetzte, und Papa sich also in Nullkommanix mitten im Pulk bekiffter und besoffener Thrash-Assos befand und mit besorgter Miene Ausschau nach seinem Sohn hielt. Der, ebenfalls selbstverständlich, mit einem sauberen Tinnitus auf den Heimweg geschickt wurde und der "The American Way" seitdem nicht mehr von der Seite weicht.
Erschienen auf Roadrunner, 1990.