01.01.2021
Die besten Vinyl-Reissues 2020 (4): Jackie McLean - It's Time
23.12.2018
Repress Now, Mofo! (2)
Wahrscheinlichkeit 3/5
Wahrscheinlichkeit 2/5
Damit beendet die 3,40qm-Redaktion die kleine Serie zum Schallplattenkonsumrauschen und tänzelt nun frohlockend in ein Novum dieses Blogs: die anderen sprechen jetzt. Nämlich. Oder schreiben.
Demnächst hier.
Bleiben Sie dran, ich zähl' solange.
16.05.2016
Unter dem Radar
25.03.2016
Kanaworms - Die Nachzügler 2015 (5)
"Black Fire! New Spirits!" verteilt auf zwei CDs oder drei LPs insgesamt vierzehn Tracks aus den turbulenten Jahren der amerikanischen Jazzmusik und hält dabei eine gute Balance zwischen bekannteren Musikern wie Archie Shepp (hier zusammen mit Jeanne Lee), Yusef Lateef, Don Cherry, Joe Henderson und Grachan Moncur III und den obskuren und vergessenen Künstlern wie Tyron Washington, David Lee Jr. oder Pheeroan Aklaff. Die wie von Souljazz gewohnt ausführlichen Liner Notes zu jedem einzelnen Musiker setzen Stein für Stein das Mosaik der damaligen Zeit (und auch dieser Compilation) zusammen.
Es mag in diesem Zusammenhang überraschen, dass viele vertretene Musiker aus Detroit stammen. Baker schreibt dazu, dass die Motor City eine wichtige Rolle in der Radikalisierung des Jazz spielte. Angetrieben durch den experimentell ausgerichteten Detroit Artists Workshop in den 1960er Jahren wurden nicht nur Musikerkollektive und Plattenlabels wie Strata oder Tribe gefördert, der vom Jazzkritiker, White Panther-Aktivisten und späteren Manager der skandalträchtigen Rockband MC5 John Sinclair organisierte Free Jazz/Hard Rock Workshop brachte außerdem einige merkwürdige, aber interessante Zusammenstellungen ans Tageslicht: So war beispielsweise der Jazztrompeter Charles Moore für einige Zeit Bandmitglied bei den MC5.
Das intensivste Stück von "Black Fire! New Spirits!" ist sicherlich "Universal Spiritual Revolt" von Tyrone Washington. Ein zunächst ausgelassen beginnender funky Jazztune, der urplötzlich in einen wilden Orkan mit Glocken, irrem Gebläse und "Freedom!, Freedom!" Geschrei umschlägt und am Ende wieder beschwingt in das Eingangsthema wechselt, als wäre nichts geschehen. "Universal Spiritual Revolt" hat eine unbändige Kraft, laut abgespielt kann man während dieser neun Minuten kaum stillsitzen. Washington nahm Ende 1967 sogar eine Platte für das Blue Note Label auf ("Natural Essence"), spielte Sessions mit Jackie McLean, Woody Shaw und Herbie Hancock - wenngleich die "Train Wreck Sessions" genannten Aufnahmen mit letztgenanntem nie offiziell veröffentlicht wurden - und verließ nach seiner letzten, 1974 erschienenen Platte "Do Right" und der Konvertierung zum Islam die Musikwelt.
30.06.2015
Freedom Throughout The Universe
"Der in den späten fünfziger Jahren in den USA aufgekommene Free Jazz, der später auch in Europa eine spezifische Ausprägung fand, entstand als Ausbruch aus den vorgegebenen musikalischen Konventionen und reflektierte gleichzeitig den Befreiungskampf der afro-amerikanischen Bevölkerung." (Wolfgang Sterneck)
Diese Ende 2014 auf Souljazz Records veröffentlichte Compilation war schon längere Zeit auf meinem Zettel, und um ein Haar hätte ich bei unserem Plattenladenbummel durch die Domstadt bei Parallel Records zugegriffen - ich entschied mich dann aber doch in buchstäblich letzter Sekunde für das Debut von Gil Scott Heron. Nun liegt das schwere 3-LP Set trotzdem auf meinem Tisch und Plattenspieler, nachdem meine beiden Bandjungs in einer heimtückischen Nacht- und Nebelaktion die Herzallerliebste meine 13 virtuell verteilten Wunschzettel durchwühlen ließen und es mir zum Geburtstagsgeschenk machten. Tränen der Rührung. Echt.
In Ermangelung technischer Kenntnisse über Jazz und der ipso facto ausbleibenden hysterischen Schreie über Tonleitern, Harmonielehre oder Geschwindigkeitsexzesse blieb mir ab meiner ersten Jazzerleuchtung via Coltranes "A Love Supreme", und man läute jetzt bitte hektisch die Klischeebimmel, nicht viel mehr als Atmosphäre, Zusammenspiel, Klang, Tiefe und für den Kontext: das Leben der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA der sechziger Jahre, die Civil Rights Bewegung, Black Panthers und Dr.Martin Luther King.
"During this phase of its history, jazz music was in a state of revolution. The music and lives of African-American artists radicalised at the start of the 1960s by the civil rights movement, Black Power and a new spiritual awakening, the consequences of which would be felt for many years." (S.Baker in den Liner Notes)
"Black Fire! New Spirits!" verteilt auf zwei CDs oder drei LPs insgesamt vierzehn Tracks aus den turbulenten Jahren der amerikanischen Jazzmusik und hält dabei eine gute Balance zwischen bekannteren Musikern wie Archie Shepp (hier zusammen mit Jeanne Lee), Yusef Lateef, Don Cherry, Joe Henderson und Grachan Moncur III und den obskuren und vergessenen Künstlern wie Tyron Washington, David Lee Jr. oder Pheeroan Aklaff. Die wie von Souljazz gewohnt ausführlichen Liner Notes zu jedem einzelnen Musiker setzen Stein für Stein das Mosaik der damaligen Zeit (und auch dieser Compilation) zusammen.
Es mag in diesem Zusammenhang überraschen, dass viele vertretene Musiker aus Detroit stammen. Baker schreibt dazu, dass die Motor City eine wichtige Rolle in der Radikalisierung des Jazz spielte. Angetrieben durch den experimentell ausgerichteten Detroit Artists Workshop in den 1960er Jahren wurden nicht nur Musikerkollektive und Plattenlabels wie Strata oder Tribe gefördert, der vom Jazzkritiker, White Panther-Aktivisten und späteren Manager der skandalträchtigen Rockband MC5 John Sinclair organisierte Free Jazz/Hard Rock Workshop brachte außerdem einige merkwürdige, aber interessante Zusammenstellungen ans Tageslicht: So war beispielsweise der Jazztrompeter Charles Moore für einige Zeit Bandmitglied bei den MC5.
Das intensivste Stück von "Black Fire! New Spirits!" ist sicherlich "Universal Spiritual Revolt" von Tyron Washington. Ein zunächst ausgelassen beginnender funky Jazztune, der urplötzlich in einen wilden Orkan mit Glocken, irrem Gebläse und "Freedom!, Freedom!" Geschrei umschlägt und am Ende wieder beschwingt in das Eingangsthema wechselt, als wäre nichts geschehen. "Universal Spiritual Revolt" hat eine unbändige Kraft, laut abgespielt kann man während dieser neun Minuten kaum stillsitzen. Washington nahm Ende 1967 sogar eine Platte für das Blue Note Label auf ("Natural Essence"), spielte Sessions mit Jackie McLean, Woody Shaw und Herbie Hancock - wenngleich die "Train Wreck Sessions" genannten Aufnahmen mit letztgenanntem nie offiziell veröffentlicht wurden - und verließ nach seiner letzten, 1974 erschienenen Platte "Do Right" und der Konvertierung zum Islam die Musikwelt.
Es sind solche Geschichten, die mich magisch anziehen. Und es sind auch solche Platten wie von Washington, dem Creative Arts Ensemble oder von Lloyd McNeill und Marshall Hawkins ("Tanner Suite", demnächst mehr), die mich faszinieren und mich in die Plattenläden treiben, sowohl die virtuellen als auch die letzten Überlebenden in unseren Städten.
"Kennzeichnend für einen beträchtlichen Teil der MusikerInnen war ein systemkritisches Bewußtsein. Schon der Free Jazz als musikalische Stilform an sich, setzte die Bereitschaft voraus, aus den gängigen gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen und sich einer freieren, undogmatischen Ausdrucksform zu öffnen. Darüber hinausgehend kam oftmals es zu einem klaren Bekenntnis zu revolutionären Positionen. Der Saxophonist Archie Shepp faßte diese Haltung 1968 in einer plakativen Weise zusammen: ”Der Jazz gehört zu den gesellschaftlich und ästhetisch wichtigsten Beiträgen Amerikas. Er ist gegen den Vietnam-Krieg; er ist für Kuba; er ist für die Befreiung aller Völker. Das ist die Natur des Jazz, ohne daß man da allzu weit zu suchen brauchte. Warum? Weil der Jazz selber eine Musik ist, die aus der Unterdrückung, aus der Versklavung meines Volkes hervorgegangen ist.” (Wolfgang Sterneck)
Es gibt noch viel zu tun. Und viel zu hören. Und viel zu lernen.
Erschienen auf Souljazz Records, 2014.
30.06.2014
Falling In Love
"The more I heard her, the more moved I was by her extraordinairy talent."
(Alfred Lion)
Jordan selbst, im Jahr 1928 geboren, lehnte bis zu dem Angebot seitens Blue Note jede Offerte für eine Aufnahme ab, weil sie ihre künstlerische Freiheit von den Label-A&Rs bedroht sah. Alfred Lion ließ ihr indes künstlerisch komplett freie Hand, sieht man davon ab, dass er Jordan von der Umsetzung der ursprünglichen Idee abriet, das Album ausschließlich mit Bass und Stimme einzuspielen. Es dauerte nach "Portrait Of Sheila" bis ins Jahr 1975, bis Jordan die zweite Platte unter eigener Führung veröffentlichte: "Confirmation" auf East Wind Records, einem 1977 aufgelösten Jazz Label aus Japan.
Als drittes Mosaik im angesprochenen Raritätenstadl fungiert zuguterletzt die Tatsache, dass Herr Dreikommaviernull das Album in sein Herz geschlossen hat, obwohl sich eine Jazzgitarre durch die 12 Kompositionen würmelt. Für mich ist das üblicherweise Grund genug, nicht mal im Ansatz Interesse auch nur vorzugaukeln, auf "Portrait Of Sheila" ist das etwas anders. Denn es ist in erster Linie Jordans umwerfende Stimme, die dieses Album prägt und es dirigiert, und es sind auch die Arrangements, gerade zwischen dem Bassspiel von Steve Swallow und Sheila, die hier jeden Ton angeben. Umwerfend ist in diesem Sinne das intime und auch irgendwie naive "Dat Dere", das tatsächlich nur mit Bass und Stimme eingespielt wurde. Mit welcher Elastizität und mit welchem Verve Jordan mit ihrer Stimme spielt, wie sie hüpft und immer wieder auf dem exakten Ton ankommt, wie sie kreiselt, spricht, klettert und wieder fällt ist besonders bei detaillierter Beschäftigung ein Hochgenuss. Es ist in diesem Zusammenhang keine große Überraschung mehr, dass ihre Stimme durch das Nachsingen der Trompete Charlie Parkers gestählt wurde. Wer "Dat Dere" hört weiß, was ich meine.
Ich erwähnte eben die Intimität und dies ist auch darüber hinaus ein gutes Stichwort. Besonders die Balladen ziehen mich in ihren Bann, so sparsam instrumentiert sie auch immer sein mögen. Die Produktion von Rudy van Gelder lässt ihnen so viel Luft wie möglich, die die Band, mit dabei sind neben Swallow außerdem Gitarrist Barry Galbraith und Drummer Denzil Best, nicht etwa im Sinne einer Überlast, sondern im genauen Gegenteil: im Weglassen von Noten ausfüllt. Hier entstehen die beeindruckendsten Momente dieser Aufnahme, wie beispielsweise in "Who Can I Turn To Now", einer feingliedrigen und doch so mächtigen, eindringlichen Komposition.
Wer nun eine Schwäche für alte Vocal Jazz Aufnahmen hat, übersehene Perlen des Blue Note Katalogs neu entdecken will oder auch nur den Unterschied zu dem Mainstream Gewäsch des heutigen Blue-Note-Universal-Major-Label-Holladrios erforschen möchte, dem hat das auf Reissues spezialisierte Label Heavenly Sweetness einen großen Gefallen getan: die Platten sind hübsch aufgemacht, klingen hervorragend und erscheinen auf schwerem 180 Vinyl. Zusätzlich sind es in aller Regel die übersehenen, längst vergriffenen Werke, die sich das Label zur Wiederbelebung ausgesucht hat, unter anderem auch das grandiose zweite (und leider letzte) Blue Note Album von Posaunist Grachan Moncur III "Some Other Stuff". Viele gute Gründe.
Erschienen auf Blue Note, 1963.
Reissue erschienen auf Heavenly Sweetness, 2014.
16.09.2013
Last Exit Sossenheim
Das dürfte so ziemlich der längste August aller Zeiten gewesen sein, aber es kommt eben doch so einiges anders, als man das fürs Erste voraussehen kann. Der Plan, nach dem vollzogenen Umzug in die neuen Räumlichkeiten sofort wieder mit dem Hören und Schreiben zu beginnen, fiel angesichts der Mammutaufgaben "Renovieren, Auspacken, Kochen, Sortieren, Essen, Einräumen, Bumsen" grandios ins Wasser, und just als das Licht am Ende des Tunnels eine dreiviertel Lumensekunde heller wurde, und ich also schließlich noch drei freie Tage vor mir hatte, hat mir die olle Körper-Mistsau noch eine wunderbare Erkältung auf den wortwörtlichen Hals gehetzt, die mich für eine gute Woche außer Gefecht setzen sollte.
Alles keine guten Voraussetzungen, um mal Durchzuatmen, und wenn es auch noch so nötig gewesen wäre. Es scheint sich indes zur Routine zu entwickeln, dass ich in Phasen, in denen wenigstens mein Geist ausnahmsweise mal im Begriff ist sich langsam zurückzulehnen, für die nächsten Tage das Krankenbett hüten darf. Ich finde das ja ehrlich gesagt ein wenig beängstigend, sacknervend sowieso, aber das macht auch nicht gerade den Eindruck, als könnte ich daran mit einem Fingerschnippsen etwas ändern. Was es an schlechten Tagen sogar noch eine Spur beängstigender macht.
Nun hat mich seit zwei Wochen das heiß und fettig geliebte Arbeitsleben wieder und ich kann nicht behaupten, dass sich seitdem an meinem leicht aus dem Rahmen geplumpsten Leben etwas geändert hat. Nach elf Jahren Wiesbaden fällt es mir alten Sicherheitsfanatiker offenschtlich nicht so irrsinnig leicht, die neue Umgebung mit einem satten Schmatzer und einer Büchse Konfetti zu begrüßen. Noch ist alles so furchtbar neu, die Wege sind noch so schrecklich ungewohnt und tatsächlich habe ich sogar noch nie in einer Wohnung gelebt, in der es statt Teppichboden einen (zugegebenermaßen schicken) Laminatboden gab. Und der gar nicht mal so kleine Kirschlorbeerbaum vor der Tür trug noch vor wenigen Tagen fast genausoviele Blätter wie Wespen, die sich an seinem Saft labten - sie ließen mich zwar weitestgehend in Ruhe, aber darum geht es meinem kleinen Hirnschiefstand im Dachgeschoss ja auch nicht. Kurz: meine sich jedes Jahr stärker ausgeprägt zeigende Wespenphobie tanzte den eingesprungenen Kasatschok. Mittlerweile sind die Wespen weg, dafür lässt der Kamerad seit ein paar Tagen seine Beeren auf die Erde fallen und ich bräuchte dann mal jemanden, der unserem Fibbel-Hund mitteilt, er möge die kleinen schwarzen Dinger nicht fressen, weil er sich sonst eine schöne Vergiftung mit Blausäure einfängt. Dühüüüses Läben - es ist schon eines der Verrücktesten.
Trotz all dieses banalen Scheißdrecks, der mich nun seit Mitte Juli auf Trab hält, habe ich natürlich das Musikhören nicht aufgegeben. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: ich habe sogar sehr ausgiebig Musik gehört, aber ich kam ums Verrecken nicht zum Schreiben. Was gibt's also Neues?
Zunächst wäre da meine erneut entflammte Sucht für alten Thrash Metal erwähnenswert. Es hagelte neue alte Scheiben von Flotsam And Jetsam, Assassin, Fear Of God (Yeah!), Tankard, Obituary, Sacrosanct, Paradox, Assorted Heap (Doppelyeah!) - was mich unter anderem auch daran erinnert, dass meine Top 20 des Thrash immer noch darauf wartet, auf den Blog gewuchtet zu werden. Es wird kommen. Noch in diesem Jahr.
Dazu gab es einige schöne Jazz-Klassiker. Thelonious Monks legendäre "Monk"-Aufnahme für Columbia aus dem Jahr 1964 versüßte der Herzallerliebsten und mir das ein oder andere Urlaubsfrühstück, Jackie McLeans "Bluesnik" wurde für einige Wochen Stammgast auf dem Plattenteller, das neue Gregory Porter Werk ist trotz der zu erwartenden Tendenz in Richtung des Jazz Mainstreams (EMI/Blue Note, q.e.d.) eine vor allem klangliche Sensation und im Stuttgarter 2nd Hand Records fand ich eine alte Zusammenstellung des Impulse-Labels, auf der mein Liebling Grachan Moncur III mit einem bislang unveröffentlichten Track "The Intellect" zu finden ist. Freude.
Gleichzeitig wächst die Gil Scott Heron-Sammlung unaufhaltsam weiter. Neben der schon lange gesuchten und endlich von Freund Jens für mich geschossenen "Reflections" Platte von 1981 konnte ich noch "1980" von - Riesenüberraschung! - 1980 auftreiben, die mich allerdings vor einige Rätsel stellt. Weniger musikalisch - es ist die letzte Aufnahme mit Scott-Herons altem Sidekick Brian Jackson, bevor das Duo die Zusammenarbeit aufkündigen sollte - die Platte gehört sicher zu den besseren Werken des 2011 verstorbenen Sängers, aber ich habe es noch nicht erfasst, wie mir "1980" bis vor zwei, drei Monaten noch völlig unbekannt sein konnte. Ich suche nun schon seit Jahren nach seinen alten Aufnahmen und bin eigentlich so schlecht nicht informiert, aber "1980" hatte ich bis dato noch nicht mal irgendwo gesehen. Ganz zu schweigen gehört. Was nun noch zur Komplettierung der Sammlung aussteht: "Bridges", "Real Eyes" und "Secrets". Nicht, dass ich ohne diese drei Platten nachts nicht mehr ruhig schlafen könnte, aber. Punkt.
Ernstzunehmende Kandidaten für die Jahresbestenliste flatterten mir außerdem von Stephan Mathieu in den neuen Wespenbau. Seine Kollaboration mit David Sylvian "Wandermüde" und die Doppel-LP "The Falling Rocket" unter eigenem Namen sind zwei der schönsten Platten des laufenden Jahres. Und wo das gesagt ist gibt's noch einen fast exklusiven Tipp von mir für euch: Die Absolute Boys aus Australien haben mit "Heavy Flow" meine Sommerplatte des Jahres 2013 geschrieben. Ist für alle total super, die auf einen schwül-fiebrigen Young Marble Giants-Shoegaze-Indiestoner abrumpeln. Außerdem sieht die Platte "totally like" (Miley Cyrus) wunderbar aus.
Das war also der kurze Rundflug durch das neue, frische, tolle Plattenregal, das übrigens immer noch wie Kraut und Rüben aussieht. Ich versuche mich bislang erfolgreich vor der Aufgabe zu drücken, das Alphabet als ordnungsstiftende Maßnahme einmarschieren zu lassen. Ich muss es tun, weil's mich so ein klein bisschen wahnsinnig macht, andererseits ist's ja nun im Prinzip auch schon scheißegal.
Immer diese Zwiespalte. Immer dieses Leben.
"Es geht weiter, Weiter, immer weiter." (Oliver "Ich habe das Wurstabitur" Kahn)
13.04.2013
Fairy Godmother
Für diejenigen unter meinen Lesern, die meine Vorlieben in Sachen Jazz kennen, dürfte die Erwähnung ausgerechnet dieses Cassandra Wilson Albums keine Überraschung darstellen, selbst dann nicht, wenn das Veröffentlichungsjahr von "Point Of View" in meinen toten Winkel fällt. Jazz aus den achtziger Jahren, im konkreten Fall von 1986, muss mir nicht unbedingt auf den Plattenteller fliegen. Und tut es für gewöhnlich auch nicht. Platten mit der Beteiligung des Posaunisten Grachan Moncur III hingegen nehme ich mit Kusshand in die Sammlung auf, da kümmert mich auch das Jahrzehnt nicht. Moncur ist auf Wilsons Debut zusammen mit Jean-Paul Bourelly (Gitarre), Steve Coleman (AltSax), Mark Johnson (Schlagzeug) und Lonnie Plaxico am Bass zu hören.
Disclaimer: Ansonsten meide ich für gewöhnlich auch die Jazzgitarre so sehr wie Frei.Wild-Fans den Duden, das Gehirn oder saubere Unterhosen, aber ich bin ja total offen für Neues, optional auch total bekloppt, mache mir die Welt widdewiddewie sie mir gefällt. Und so weiter.
"Point Of View" ist eine inhaltlich lose Zusammenstellung von eineinhalb Eigenkompositionen von Wilson, darüber hinaus lassen sich Coverversionen von "Blue In Green" von Miles' "Kind Of Blue"-Album und "I Wished on the Moon" von Dorothy Parker und Ralph Rainger Coleman finden. Coleman steuert "Never" und "Desperate Move" bei, Gitarrist Bourelly den, wie es sich für einen Jazzgitarristen gehört, furchtbaren Rausschmeißer "I Thought You Knew". Herzstück, wie sollte es anders sein, ist indes die Neuinterpretation von Moncurs "Love And Hate", ursprünglich auf Jackie McLeans fantastischem "Destination...Out!"-Album von 1963 zu hören. Das Ensemble verschafft sich nicht zuletzt durch das Gesangsarrangement von Wilson einen völlig neuen Zugang zu dieser ursprünglich windschiefen Komposition, die hier erstmals als abgeschlossen und rund erscheint. Der Charme des Originals bleibt dabei zwar auf der Strecke, der stimmige Ersatz entschädigt allerdings für diesen Verlust.
"Point Of View" war der Startschuss für eine bis heute anhaltende und ausgesprochen erfolgreiche Karriere der US-amerikanischen Sängerin. Auch wenn ihre späteren Alben den Mainstream nicht nur streiften, bleibt über die gesamte Schaffensperiode ihr freier Geist, ihre Experimentierfreude und Ihr Streben nach neuen Blickwinkeln in ihrer Musik erhalten. Vor allem der Einsatz ihrer ungeheuerlich variablen Alt-Stimme mit diesem kehligen, bluesigen, rauchigen Stamm, hier besonders in ihren eigenen Songs "Square Roots" und "I Am Waiting" als freies Instrumentalschwebeteilchen zu bewundern, macht ihre Arbeit unvergleichlich und nach Sekundenbruchteilen identifizierbar. "Point Of View" ist, wenngleich keines meiner Lieblingsalben, ein spannender und früher Einblick in den Start einer großen Karriere und ein regelmäßiger Gast auf dem Plattenteller.
Erschienen auf JMT, 1986.
23.05.2012
Dream Team
Was nun merkwürdig ist: "One Step Beyond" steht seit über drei Jahren im Umkreis des CD Players herum, und seit drei Jahren versuche ich erstens diese Musik zu entschlüsseln und zweitens im Anschluss darüber zu schreiben. Und ich habe es bis heute nicht getan - was daran liegen könnte, dass mir für so vieles, was hier passiert tatsächlich die Worte fehlen. Dabei löst alleine die Aufzählung des Line-Ups Lustschreie aus: Neben dem Leader McLean spielen Eddie Khan am Bass, Tony Williams am Schlagzeug, der großartige Bobby Hutcherson am Vibraphon und mein erklärter Liebling Grachan Moncur III an der Posaune. Eine Besetzung, die in ähnlicher Zusammenstellung noch für zwei weitere Alben Bestand hat: McLeans "Destination Out" und Moncurs Meilenstein "Evolution" (hier noch zusätzlich mit Lee Morgan an der Trompete) tapezieren im Prinzip ein ganzes Genre neu zusammen, und wie soll ich's beschreiben? Auf "One Step Beyond" lassen sich zwei Kompositionen des Saxofonisten finden - "Saturday And Sunday", ein flotter Opener mit halsbrecherischem Drumming von Williams, dessen Tom- und Ridebeckenarbeit den Song mit derart viel Drive füttert, dass Eddie Khan im nur im Eiltempo folgen kann. Es wäre ein Erlebnis, alleine die Rythmusspuren dieses Titels zu hören. Dass Kahn zu diesem Zeitpunkt erst seit ein paar Jahren den Bass spielte, erscheint gänzlich unglaublich, aber es ist wahr: er wechselte erst wenige Jahre zuvor vom Saxofon zum Bass. Interessant ist der wahrnehmbare Schnitt zwischen dem, was den Samstag darstellen soll, nämlich eine offene, freundliche Stimmung, während der Sonntag McLeans Erfahrungen seiner Kindheit widerspiegelt, mit zwei Stunden Sonntagsschule und einem anschließenden, dreistündigen Aufenthalt in der Kirche. "After four hours in church, everyone looked like Frankenstein's with whigs and dresses." Die zweite McLean Komposition heißt "Blue Rondo", einer seiner Klassiker und ebenfalls ein wieselflinkes Uptempo-Stück mit stattlicher Hooklinemelodie, die Moncur und McLean spontan entwickelten, während sie mit ein paar Ideen und Melodien herumalberten.
Die große Stunde von Grachan Moncur III schlägt in seinen Beiträgen "Frankenstein" und "Ghost Town". Ersterer ist ein Walzer in dunkel schimmernder Schönheit, "its beauty stands for everything that Frankenstein does not." (McLean), dessen Auftakt und Abschluss wie eine Revuenummer from outer space klingt. Es ist eine schleppende, weite und kaputt wirkende Sause von über 8 Minuten Länge - megakompakt, aber es sind vor allem Hutcherson und Moncur, die paradoxerweise atmosphärisch und tonal diese immensen Lücken reißen. Das ultimativ betitelte "Ghost Town" von Moncur III setzt "One Step Beyond" die Krone auf. Moncur sagte mal in einem Interview, dass er den Songwritingprozess immer als einen Prozess des Malens von Bildern betrachtete, und hier hat er die Geisterstadt punktgenau getroffen. Es weht ein Hauch von Traurigkeit und Isolation durch dieses Bild, die verlassenen und mittlerweile windschiefen Hütten haben bessere Tage gesehen, die Türen und Fenster hängen aus den Angeln - aber da ist auch ein abstrakter und morbider Humor, der sein Werk führt - nicht nur im Besonderen, sondern auch im Grundsätzlichen. Diese fünf jungen Burschen haben damals wirklich nach einem neuen Sound geforscht, ohne gleich die Coleman'sche Freejazz-Keule herauszuholen. Der Weg, den Jackie McLean mit diesem Linie-Up eingeschlagen hat, ist gleichermaßen provokativ wie auch versöhnlich und künstlerisch gleich ein paar Schritte vor der versammelten Konkurrenz der damaligen Szene. Schließlich ist der Titel sicher nicht ohne Bedacht gewählt. "One Step Beyond" wird im April 2013 unglaubliche 50 Jahre alt - bis heute ist es keinen Tag gealtert.
Erschienen auf Blue Note, 1963.
27.08.2009
beatjazzhippie
Jackie McLean - 'Bout Soul
Es kostete mich einigen Schweiß - und ganz nebenbei auch noch ein paar Euros: Jackie McLeans "'Bout Soul"-Album wurde bisher noch nicht im Rahmen der Rudy van Gelder-Re-Issue-Serie wiederveröffentlicht, sodass ich auf einen LP-Import aus den USA angewiesen war. Und wo ich schonmal die amerikanische Wirtschaft ankurbeln sollte - der Dow Jones stieg tatsächlich am Tag meiner Überweisung um exakte 3,2% - dachte sich der Weltgeist: dann soll auch der deutsche Zoll noch sein Glück auf dem Rücken meines Kontos finden. Und zack, nochmals herzlichen Dank dafür. Ich nehme übrigens ab sofort Wetten hinsichtlich des Release-Datums der dann für 8,99 € feilgebotenen CD-Wiederveröffentlichung entgegen, es kann sich jetzt wirklich nur noch um Tage handeln.
Genug genörgelt. "'Bout Soul", aufgenommen in den den van Gelder-Studios am 8.September 1967, ist die vorletzte Session McLeans für das Blue Note Label, bevor er die Company nach der fantastischen "Demon's Dance" vom 22.Dezember desselben Jahres verließ.
McLean begann schon in den frühen sechziger Jahren damit, sich in freien Gefilden um zuschauen, wohl unter dem Einfluss von Coleman einerseits (mit dem er auch später noch die "New And Old Gospel"-Session spielen sollte) und seiner damaligen Line-Ups andererseits. Besonders seine Arbeiten mit dem auf diesem Blog schon mehrfach erwähnten Posaunisten Grachan Moncur III - und hier vor allem in Kombination mit Bobby Hutcherson und Tony Williams - hatten in erster Linie hinsichtlich der Strukturen und Stimmungen die Nase in vielfacher Weise vorne, beziehungsweise oben. In diesem Zusammenhang sei auch auf die vor kurzem wiederveröffentlichte Aufnahme "One Step Beyond" aus dem Jahr 1963 hingewiesen, auf der McLean mit ebenjener Besetzung (am Bass spielt Eddie Khan) der Zeit schon meilenweit vorausgeeilt erscheint. Eine zähe, in manchen Passagen förmlich auseinanderfallende Platte, die mindestens so rätselhaft flackert wie "'Bout Soul". Auch hier findet man alte Bekannte: Moncur ist dabei, dazu gibt es den großartigen Woody Shaw an der Trompete, Lamont Johnson am Piano, Scott Holt am Bass und den unvergleichlichen Rashied Ali an den Drums. Es wäre sicher spannend zu erfahren, ob McLean besonders durch Alis Arbeiten mit Coltrane auf dessen späteren Alben auf den Drummer aufmerksam wurde. In den Linernotes lässt sich Jackie lediglich zu einem "[Ali is] especially interested in immediate improvisation and that's why he was perfect for that date. He can let himself go and can be continually inventive." hinreißen.
Das Album hat auf mich eine mystische, kaum greifbare Faszination. Dabei ist "kaum greifbar" durchaus wörtlich zu nehmen: das Sextett ist irrsinnig schnell, nicht nur in seinen Sprüngen und Brüchen, sondern auch in den wendigen Themen, in seinen Andeutungen und Umrissen. So schnell, dass die Stücke wie vom Teufel getrieben an mir vorbei flitzen. Eine zerfledderte Grachan Moncur-Komposition eröffnet den Reigen, und "Soul" ist ein immer wieder von Barbara Simmons Gedichtrezitation diagonal durchkreuztes Stück Soul-Free-Jazz. Im Thema und im Klang durchaus Moncur-typisch in der Tradition verwurzelt, geht es aber hinsichtlich der Struktur und des gesamten Arrangements sogar weit über das hinaus, was ich "frei" nennen würde. Das Stück macht mich an schwachen Tagen fast wahnsinnig: es swingt an den unmöglichsten Stellen, es bricht abrupt ab, meist just in den Momenten, in denen man der Illusion erlegen ist, einen kleinen Strohhalm ergattert zu haben. Dazwischen jauchzt Simmons ihr eigens für Jackie McLean geschriebenes Gedicht und geht dabei immer wieder schöne Verbindungen und Ausbrüche mit der Musik ein.
Die beiden folgenden Tunes "Conversion Point" (von McLean) und "Big Ben's Voice" (von Lament Johnson) haben sich über die letzten Monate zu meinen Favoriten entwickelt. Vor allem erstgenanntes, laut Jackie der Ursprung für ihre hier praktizierte Art der Improvisation, ist für mich tatsächlich eine Art Blaupause für seine Musik in den Sechzigern: frei und wild, immer auf der Suche, niemals stillstehend, immer weiter dei energetischen und tonalen Grenzen auslotend, verflixt schnell und sehr einig: wie ein Zirkel, der alle Musiker umschließt, der ihnen Sicherheit und Freude schenkt. Aber auch die Lament Johnson-Kompositionen (es folgt später noch sein "Erdu") und Scotty Hills Tribut an Nicky Hill, einen Saxofonisten aus Chicago, und John Coltrane, der nur gut sechs Wochen vor den Aufnahmen verstarb, das balladeske "Dear Nick, Dear John", fügen sich nahtlos in die gebündelte Aura dieses Albums ein. Und ich muss an dieser Stelle unbedingt nochmal Rashied Ali erwähnen: was macht der Mann da eigentlich mit seiner Bassdrum? Die Fußmaschine muss nach den Aufnahmen geglüht haben...
Es ist oft die Rede davon, dass man sich der Musik auf "'Bout Soul" öffnen müsse, um sie an sich heran zu lassen. Ich glaube, ich kann das bestätigen. Es fällt nicht unbedingt leicht, eine Verbindung zu ihren Songs und ihrem Ansatz zu finden, dafür sind beide Elemente schlicht zu vielschichtig, zu unkonventionell. Ich kam dahinter, als ich versuchte, hinter die Musik zu blicken, die Vision zu sehen, die Verbundenheit der Musiker zu spüren und zuletzt als ich mich ihnen einfach ergab: ich will das jetzt nicht mehr ausdiskutieren...trampelt bitte einfach nur über mich drüber, 's tritt sich schon fest.
"'Bout Soul" von Jackie McLean ist 1967 auf Blue Note Records erschienen.
22.06.2009
Freedom Swing
Grachan Moncur III - Inner Cry Blues
"Inner Cry Blues", ein Tribut. Untertitel:"Dedication Album Vol.1". Moncur hat für Louis Armstrong, Sonny Rollins, Duke Ellington, seinen langjährigen Partner Jackie McLean und seine verstorbene Tochter komponiert und ihnen auf dieser sehr relaxten, ungewöhnlichen Session gedacht. Reichhaltig in Blues und Soul getränkt, an der Oberfläche manchmal jedoch heiter aufblitzender Swing. Ein Balanceakt für die Sensitiven.
Nach langen Jahren der Funkstille tauchte der Posaunist 2004 für viele überraschend mit einem großen Ensemble und dem feinen Album "Exploration" wieder auf. Moncur veröffentlichte seine Musik seit jeher sehr unregelmäßig, zumindest jene, die unter seinem eigenen Namen lief. Vor allem ließ er sich immer ausreichend Zeit: in den siebziger Jahren erschienen nach seiner Zeit beim französischen BYG Actuel-Label gerade mal zwei Alben, von denen eines sogar exklusiv in Japan veröffentlicht wurde (und heute einen halben Bausparvertrag verschlingt, wenn man die Originalversion käuflich erwerben möchte) und danach erstmal lange Zeit gar nichts. Dass drei Jahre nach seinem Comeback gleich das nächste Album erscheint, lässt für die Zukunft mit weiteren Soloplatten hoffen.
Ich muss zugeben, dass ich einige Zeit benötigte, um mir den musikalischen Ansatz von "Inner Cry Blues" zu vergegenwärtigen. Ich war zu geprägt von Moncurs freien Aufnahmen, von seinen beeindruckenden Songgemälden, die immer so ungewöhnlich, so unverwechselbar klangen und vor allem immer so monumental erschienen. "Inner Cry Blues" geht etwas auf Distanz zu seinem Image als Vertreter der Avantgarde (zu der er sich nach eigener Aussage ja eh nie zählte). Der Einstieg mit "G Train (for Duke Ellington)" gerät dermaßen laid back und swingend, dass ich mich in einem 35°C heißen Sommertag in einer Hängematte flözend auf der Veranda wähne. Der Sound ist ziemlich Low-Budget, wenn auch grundlegend präsent. Man könnte es vermutlich "authentisch" nennen. Trotzdem vermitteln die ersten Minuten ganz und gar nicht das, was ich mir von "Inner Cry Blues" erwartete.
Von Moncurs Begleitband dürfte Vibraphonist Ben Adams der bekannteste Musiker sein, veröffentlichte er doch bisher drei Alben auf seinem Lunar Module-Label, auf dem auch "Inner Cry Blues" erschien. Hinzu kommen Erik Jekabson (Trompete), Mitch Marcus (Tenor Sax), Lukas Vesely (Bass) und Sameer Gupta an den Drums. Die Buben müssen es draufhaben, schließlich weiß man von Moncurs Pingelichkeit hinsichtlich der Interpretationen seiner Songs. Und tatsächlich: sie swingen sich - Verzeihung! - den Arsch ab. Am besten gefällt mir diesbezüglich, na klar, die Rhythmusfraktion Vesely/Gupta. Vor allem ersterer slappt, tappt, schlurft und hüpft wie ein junges Reh durch den Percussionnebel Guptas, und wartet darüber hinaus in dem abschließenden "Sonny's Back (for Sonny Rollins)" mit einem coolen Solo auf.
Der Titeltrack stößt am ehesten in "alte" Gefilde vor, ein Bluesstück mit einem langgezogenen, fast kriechenden Thema und viel Platz und Freiraum. Leicht verdustert, aber immer noch megarelaxed und positv. "Hilda", Moncurs verstorbener Tochter gewidmet, ist überraschend hell und zuversichtlich, aber hier setzt dann der oben angekündigte Balanceakt in voller Pracht ein: die Dunkelheit schwingt immer mit, vor allem in Moncurs Ton. Ich habe manchmal den Eindruck, als wolle er mit aller Macht versuchen, nicht traurig zu klingen. Er kämpft regelrecht darum. Es gelingt ihm nicht, er klingt traurig.
Der beste Moment auf der Platte ist, abgesehen von Moncurs sehr, sehr coolen Gesangseinlagen (!!!) auf "A For Pops (for Louis Armstrong)" und "Sonny's Back", erwartbar seine Verneigung vor seinem langjährigen partner in crime Jackie McLean, der ein knappes Jahr vor den Aufnahmen zu dieser Platte verstorben ist. Die typischen Stop & Go Bläsersätze aus McLeans und Moncurs gemeinsamer Zeit Anfang bis Mitte der sechziger Jahre gipfeln in einem schnellen, die Fäden zusammenführenden Post-Hard Bop-Stück und dem damit eindeutig wildesten Song dieser Session.
"Inner Cry Blues" von Grachan Moncur III ist 2007 auf Lunar Module Records erschienen.
07.06.2009
Britzeln Und Brodeln
Clifford Thornton - Ketchaoua
Ich begann vor einiger Zeit damit speziell nach Jazz-Aufnahmen mit Beteiligung von Grachan Moncur III zu suchen. Sowohl seine Soloplatten, als auch die Werke, bei denen er als Sidekick auftritt (beispielsweise an der Seite von Jackie McLean), gehören für mich zu den großen Sternstunden des Jazz. Diese Suche trieb mich in die Arme von "Ketchaoua" des US-amerikanischen Trompeters Clifford Thornton, erschienen 1969 auf BYG Actuel. Moncur bildet hier gemeinsam mit Legenden wie Archie Shepp, Sunny Murray, Arthur Jones und Dave Burrell praktisch eine All-Star-Band.
Thorntons zweites Soloalbum (sein einziges für das französische Label) ist dabei ein durchaus guter Indikator für die Struktur von Jazzmusik zur damaligen Zeit. Gleich der Titeltrack und Opener ist Alles und Nichts: Jazz, kein Jazz, Kammerjazz und Folkjazz, Tradition und Moderne, Avantgarde und Roots. Ein zersplittertes, freies, gar psychedelisches, gut zwölfminütiges Werk, wie gemacht für einen Moncur. Seine Posaune setzt das erste Ausrufezeichen in einem flächigen, weit auseinanderdriftenden Ansatz. Diese Kraft und Dominanz. Diese Leidenschaft, dieses Selbstvertrauen. Wie üblich geht ihm nach einigen unfassbar fetten, langgezogenen Tönen die Luft aus....aber, mein Gott, dieser Einsatz!! Es klingelt noch Stunden später in den Ohren.
Die zweite Seite beginnt mit einem flackernden Orkan: "Brotherhood", diesmal mit Thornton, Jones, Beb Guerin, Earl Freeman, und Drummer Claude Delcloo, der alles aus sich heraus zu holen scheint, ist tosender Free Jazz, unbequem, überlagernd, höllisch laut und intensiv. Und es macht großen Spaß, diese Kakophonie zu hören. Wie Guerin am Bass und Delcloo harmonieren, wie sie sich letztendlich zu einem Ton formen und sich dabei auftürmen, wie sie zu einem ganz zentralen Element dieser Musik erwachsen. Großen Anteil an dieser Fokussierung hat sicher auch der Sound des Albums und besonders des Schlagzeugs: seltsam satt und dumpf, aber auch ungeheuer räumlich und offen. Bei dieser Bassdrum können Häuser einstürzen. Und wer abschließend eine knappe Zusammenfassung über "Ketchaoua" lesen möchte, was dieses Album darstellt, wie es sich anfühlt und schmeckt: der Rausschmeißer heißt "Speak With Your Echo (and call that a dialogue)" und besteht aus einem improvisierenden Bass-Duo (Freeman und Guerin) und einem solierenden Thornton an der Trompete. Das war's. Das hört sich nicht nur ungewöhnlich an, das klingt auch so. Und das fasst gut zusammen, was "Ketchaoua" ist: ungewöhnlich, suchend, und ziemlich mutig.
"Ketchaoua" von Clifford Thornton ist im Jahre 1969 auf BYG Actuel erschienen.
10.10.2008
Fresh Cut Flowers
Eine wilde, fast vierzigminütige Improvisation eröffnet "In Order To Survive", das mittlerweile schon legendäre Album des New Yorker Bassisten William Parker. "Testimony Of No Future" ist Parkers musikalisches Heilmittel für all jene, deren Hoffnung und Glaube an sich selbst vom Elternhaus, der Kirche, der Schule und den Massenmedien geraubt wurde. Eine Erfahrung, die auch ihm in den Knochen steckt: als 1964 ein Berufsberater zu Parkers Schulklasse spricht und den Jungen ihre Perspektivlosigkeit geradewegs ins Gesicht schlägt. Von ihm lernt Parker, dass er sich schon mal auf ein Leben als Hausmeister oder Bürobote einstellen darf. At twelve I was told that I had no future. Aber durch dieses Erlebnis lernt William Parker auch, dass es einen Weg gibt, die Hoffnungslosigkeit zu einem brennendem Feuer voller Mut wieder zu beleben: durch Kunst, Liebe und Leben.
Heute ist Parker einer der umtriebigsten Musiker der New Yorker Jazzszene. Er spielte zusammen mit Stars wie Cecil Taylor, Don Cherry, Charles Gaye, Rashied Ali, Sunny Murray oder Bill Dixon und gilt als einer der lautesten Jazzbassisten der Welt. Seine Fähigkeit als unerbittlicher Antreiber, eine Band immer wieder ein Stück mehr nach vorne zu pushen, führt im Verlauf einer Session immer zu einem ähnlichen Ergebnis: Parker ist der Fixpunkt seiner Ensembles, er ist der niemals ruhende Wirbelsturm, der - paradox genug - das Set stützt und dirigiert. Sein Zusammenspiel auf "In Order To Survive" mit Drummer Denis Charles und ganz besonders mit dem Pianisten Cooper-Moore ist ebenso liebevoll und detailreich wie ungestüm und leidenschaftlich. Wie dieses Trio immer wieder die Themen weiterentwickelt und auf ein nächstes Level springen lässt, wie sie miteinander kommunizieren und diese pulsierende Session zu einem Universalübersetzer für ihren Glauben und ihren Geist formen, ist schlicht sensationell. Hier ist soviel verborgen und doch glasklar sichtbar.
Parkers weitere Mitstreiter auf dieser Aufnahme ist der Saxofonist Rob Brown, ein ungestümer Bursche des Free Jazz, über den die New Yorker Szenezeitschrift Village Voice einmal schrieb "...he not only deciphers puzzles, he creates them.". Er ist gemeinsam mit dem Trompeter Lewis Barnes der vordergründig auffälligste Spieler der Brasssection. Aber es gibt da noch einen weiteren Mann, den man auf das erste Ohr möglicherweise gar nicht richtig wahrnimmt; einen, der bereits in diesem Blog Erwähnung fand: Grachan Moncur III. Er unterstreicht auf dieser Aufnahme sowohl seine Ausnahmestellung innerhalb der Jazzszene, als auch seine völlig kompromisslose Eigenständigkeit. Während der Improvisationen taucht er hier und da mit kurzen Einsätzen auf, folgt den Melodiebögen, wiederholt und variiert sie und steht plötzlich mit einem Solo im Raum, das einem die Kinnlade auf den Asphalt krachen lässt (für Interessierte: "Testimony Of No Future", ca. ab Minute 23). What a beautiful freak.
"In Order To Survive" entfaltet vor allem unter dem Kopfhörer seine volle Magie; wenn man diesem Sextett in aller Ruhe folgen kann. Dennoch passiert innerhalb der über siebzigminütigen Aufnahme vor allem auf sämtlichen verfügbaren Metaebenen soviel, dass man die Informationsflut kaum verarbeiten kann. Davon ab: von Ruhe kann im Zusammenhang mit dieser aufgewühlten und aufwühlenden Musik sowieso keine Rede sein; erstrecht nicht, wenn einen diese im Booklet abgedruckten Worte überfallen:
In Order to Survive
When was it said that roses tire
From being beautiful
And sink into the desert sun
In order to survive they call for
A revolution of resonance
A promise of a new day
conjuring building
A dance step is created
In order to survive I rub two raindrops
I rub two raindrops together
to make fire
As I sit near the laughing pond
listening to the testimony of a tear
"Was wir machen, ist heilige heilende Musik, und die Menschen, die sie brauchen, finden sie auch."(William Parker)
Lasst euch finden.
"In Order To Survive" von William Parker ist im Jahre 1995 auf Black Saint erschienen.
Für weitere Informationen zu William Parker und dessen Umfeld ist dieser Forumsbeitrag von Freund eigenheim sicher nicht uninteressant.
06.07.2008
(R)evolution
"When ever I have a conversation about what's wrong with the jazz business, I always start out by saying, 'Where is Grachan Moncur?'"
Jackie McLean
Manche Wahrheiten benötigen Zeit. Manche Musik benötigt Zeit. Und wenn Wahrheit und Musik aufeinandertreffen, dann können schon mal ein paar Dekaden vergehen, bevor sie aus nebligem Dickicht gezerrt und entdeckt werden. Eine sehr scheue Kombination, scheinbar. Bei Grachan Moncur III stießen die beiden Faktoren mehr als nur einmal aufeinander, und es macht den Eindruck, als habe sich in nahezu gleicher Frequenz sein Image als merkwürdiger Kauz immer weiter in die Jazzwelt hineingebohrt. Sowas kann zu einem prächtigen Boomerang werden.
Als einer der wenigen Posaunisten, die sich in der Free Jazz/Avantgarde-Welt bewegen, erscheint er mir besonders in den letzten Monaten als einer der inspiriertesten Jazzmusiker aller Zeiten. Auch wenn sich Moncur nach eigener Aussage gar nicht in der Avantgarde-Ecke zuhausefühlt ("To me, it wasn't avant-garde per say for what the avant-garde was really standing for at that time to me. The avant-garde at that time was dealing with the idea of being revolutionary music. I had no thoughts in my mind of this being revolutionary."), so gelten besonders sein Blue Note-Debut als Leader "Evolution", und das mit Jackie McLean als Leader aufgenommene "Destination...Out!"(beide 1963 erschienen) als sehr außergewöhnlich und innovativ. Für mich begann das Phänomen Moncur mit einer Aufnahme aus dem Jahr 1969, "New Africa", aufgenommen im Rahmen einer Session für das legendäre französische BYG Actuel-Label. Die hier enthaltenen vier Songs zählen für mich mittlerweile zu den großen Sternstunden des Jazz: der ausufernde, aber zu jeder Sekunde mit glasklarer Struktur versehene Titeltrack, der sich in den ersten Minuten so traumhaft durch eine simple Klaviermelodie schleppt, das nervös-sirrende, dunkle und unheilverkündende "Space Spy", oder "Exploration", das seinem Name mit sehr freien Solos alle Ehre macht, und zu guter Letzt "When", einem mit dunklen Swing ausgestatteten Wohlfühlmonster; Moncurs Songwriting ist zu jeder Sekunde eine glatte Offenbarung, sein Stil völlig einzigartig. Zugegeben, ich bin immer noch nicht vollständig hinter sein Geheimnis gekommen. Dafür ist der Mann viel zu wendig, seine Brüche und Sprünge so fix, sein Motive so strange & beautiful, das ich sie - ganz ehrlich gesagt - auch einfach nur genießen möchte. In einem Interview mit Allaboutjazz.com sagte er über seine Art Songs zu schreiben:"I was trying to look at writing at that point the way a painter would paint. You put your thing on the easel and you sketch something and you come back to it the next day or a couple of days. That's how I was trying to think musically. I wasn't trying to finish anything. I still don't do that. I don't try to write anything that I consider a complete piece, especially now. It is always a work in progress. I don't change anything, but I add." Moncur balanciert für meine Begriffe genau an der Schnittstelle eines eher traditionellen Jazzmodells wie dem Hardbop und den Anfängen des Free Jazz in den frühen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Hier hat er seinen Platz gefunden, fokussiert sich aber in Sachen Songwriting besonders auf Stimmungen und Kontraste.
Möglicherweise ist speziell dieses Merkmal der springende Punkt seiner
Musik.
Trotz seiner Zusammenarbeit mit Blue Note zählt Grachan Moncur III bis heute zu den eher unbekannteren Jazzmusikern, obwohl er bis heute Platten veröffentlicht, wenn auch in sehr unregelmäßigen Zeitabständen. In dem weiter oben erwähnten, sehr spannenden, Interview nimmt Moncur zu diesen und anderen Themen Stellung, oftmals auf eine Art und Weise, die mir alleine beim Lesen seiner Sätze den Herzschlag beschleunigt. Es ist, als könne ich seine Worte hören. Sie klingeln regelrecht in den Ohren.
"New Africa" von Grachan Moncur III ist 1969 auf BYG Actuel erschienen.