30.06.2015

Freedom Throughout The Universe




BLACK FIRE! NEW SPIRITS! 
Deep and Radical Jazz in the USA 1957-82



"Der in den späten fünfziger Jahren in den USA aufgekommene Free Jazz, der später auch in Europa eine spezifische Ausprägung fand, entstand als Ausbruch aus den vorgegebenen musikalischen Konventionen und reflektierte gleichzeitig den Befreiungskampf der afro-amerikanischen Bevölkerung." (Wolfgang Sterneck) 

Diese Ende 2014 auf Souljazz Records veröffentlichte Compilation war schon längere Zeit auf meinem Zettel, und um ein Haar hätte ich bei unserem Plattenladenbummel durch die Domstadt bei Parallel Records zugegriffen - ich entschied mich dann aber doch in buchstäblich letzter Sekunde für das Debut von Gil Scott Heron. Nun liegt das schwere 3-LP Set trotzdem auf meinem Tisch und Plattenspieler, nachdem meine beiden Bandjungs in einer heimtückischen Nacht- und Nebelaktion die Herzallerliebste meine 13 virtuell verteilten Wunschzettel durchwühlen ließen und es mir zum Geburtstagsgeschenk machten. Tränen der Rührung. Echt.

In Ermangelung technischer Kenntnisse über Jazz und der ipso facto ausbleibenden hysterischen Schreie über Tonleitern, Harmonielehre oder Geschwindigkeitsexzesse blieb mir ab meiner ersten Jazzerleuchtung via Coltranes "A Love Supreme", und man läute jetzt bitte hektisch die Klischeebimmel, nicht viel mehr als Atmosphäre, Zusammenspiel, Klang, Tiefe und für den Kontext: das Leben der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA der sechziger Jahre, die Civil Rights Bewegung, Black Panthers und Dr.Martin Luther King.

"During this phase of its history, jazz music was in a state of revolution. The music and lives of African-American artists radicalised at the start of the 1960s by the civil rights movement, Black Power and a new spiritual awakening, the consequences of which would be felt for many years." (S.Baker in den Liner Notes)

"Black Fire! New Spirits!" verteilt auf zwei CDs oder drei LPs insgesamt vierzehn Tracks aus den turbulenten Jahren der amerikanischen Jazzmusik und hält dabei eine gute Balance zwischen bekannteren Musikern wie Archie Shepp (hier zusammen mit Jeanne Lee), Yusef Lateef, Don Cherry, Joe Henderson und Grachan Moncur III und den obskuren und vergessenen Künstlern wie Tyron Washington, David Lee Jr. oder Pheeroan Aklaff. Die wie von Souljazz gewohnt ausführlichen Liner Notes zu jedem einzelnen Musiker setzen Stein für Stein das Mosaik der damaligen Zeit (und auch dieser Compilation) zusammen.

Es mag in diesem Zusammenhang überraschen, dass viele vertretene Musiker aus Detroit stammen. Baker schreibt dazu, dass die Motor City eine wichtige Rolle in der Radikalisierung des Jazz spielte. Angetrieben durch den experimentell ausgerichteten Detroit Artists Workshop in den 1960er Jahren wurden nicht nur Musikerkollektive und Plattenlabels wie Strata oder Tribe gefördert, der vom Jazzkritiker, White Panther-Aktivisten und späteren Manager der skandalträchtigen Rockband MC5 John Sinclair organisierte Free Jazz/Hard Rock Workshop brachte außerdem einige merkwürdige, aber interessante Zusammenstellungen ans Tageslicht: So war beispielsweise der Jazztrompeter Charles Moore für einige Zeit Bandmitglied bei den MC5.

Das intensivste Stück von "Black Fire! New Spirits!" ist sicherlich "Universal Spiritual Revolt" von Tyron Washington. Ein zunächst ausgelassen beginnender funky Jazztune, der urplötzlich in einen wilden Orkan mit Glocken, irrem Gebläse und "Freedom!, Freedom!" Geschrei umschlägt und am Ende wieder beschwingt in das Eingangsthema wechselt, als wäre nichts geschehen. "Universal Spiritual Revolt" hat eine unbändige Kraft, laut abgespielt kann man während dieser neun Minuten kaum stillsitzen. Washington nahm Ende 1967 sogar eine Platte für das Blue Note Label auf ("Natural Essence"), spielte Sessions mit Jackie McLean, Woody Shaw und Herbie Hancock - wenngleich die "Train Wreck Sessions" genannten Aufnahmen mit letztgenanntem nie offiziell veröffentlicht wurden - und verließ nach seiner letzten, 1974 erschienenen Platte "Do Right" und der Konvertierung zum Islam die Musikwelt.

Es sind solche Geschichten, die mich magisch anziehen. Und es sind auch solche Platten wie von Washington, dem Creative Arts Ensemble oder von Lloyd McNeill und Marshall Hawkins ("Tanner Suite", demnächst mehr), die mich faszinieren und mich in die Plattenläden treiben, sowohl die virtuellen als auch die letzten Überlebenden in unseren Städten.

"Kennzeichnend für einen beträchtlichen Teil der MusikerInnen war ein systemkritisches Bewußtsein. Schon der Free Jazz als musikalische Stilform an sich, setzte die Bereitschaft voraus, aus den gängigen gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen und sich einer freieren, undogmatischen Ausdrucksform zu öffnen. Darüber hinausgehend kam oftmals es zu einem klaren Bekenntnis zu revolutionären Positionen. Der Saxophonist Archie Shepp faßte diese Haltung 1968 in einer plakativen Weise zusammen: ”Der Jazz gehört zu den gesellschaftlich und ästhetisch wichtigsten Beiträgen Amerikas. Er ist gegen den Vietnam-Krieg; er ist für Kuba; er ist für die Befreiung aller Völker. Das ist die Natur des Jazz, ohne daß man da allzu weit zu suchen brauchte. Warum? Weil der Jazz selber eine Musik ist, die aus der Unterdrückung, aus der Versklavung meines Volkes hervorgegangen ist.” (Wolfgang Sterneck)


Es gibt noch viel zu tun. Und viel zu hören. Und viel zu lernen.






Erschienen auf Souljazz Records, 2014.

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