CASSANDRA WILSON - POINT OF VIEW
Für diejenigen unter meinen Lesern, die meine Vorlieben in Sachen Jazz kennen, dürfte die Erwähnung ausgerechnet dieses Cassandra Wilson Albums keine Überraschung darstellen, selbst dann nicht, wenn das Veröffentlichungsjahr von "Point Of View" in meinen toten Winkel fällt. Jazz aus den achtziger Jahren, im konkreten Fall von 1986, muss mir nicht unbedingt auf den Plattenteller fliegen. Und tut es für gewöhnlich auch nicht. Platten mit der Beteiligung des Posaunisten Grachan Moncur III hingegen nehme ich mit Kusshand in die Sammlung auf, da kümmert mich auch das Jahrzehnt nicht. Moncur ist auf Wilsons Debut zusammen mit Jean-Paul Bourelly (Gitarre), Steve Coleman (AltSax), Mark Johnson (Schlagzeug) und Lonnie Plaxico am Bass zu hören.
Disclaimer: Ansonsten meide ich für gewöhnlich auch die Jazzgitarre so sehr wie Frei.Wild-Fans den Duden, das Gehirn oder saubere Unterhosen, aber ich bin ja total offen für Neues, optional auch total bekloppt, mache mir die Welt widdewiddewie sie mir gefällt. Und so weiter.
"Point Of View" ist eine inhaltlich lose Zusammenstellung von eineinhalb Eigenkompositionen von Wilson, darüber hinaus lassen sich Coverversionen von "Blue In Green" von Miles' "Kind Of Blue"-Album und "I Wished on the Moon" von Dorothy Parker und Ralph Rainger Coleman finden. Coleman steuert "Never" und "Desperate Move" bei, Gitarrist Bourelly den, wie es sich für einen Jazzgitarristen gehört, furchtbaren Rausschmeißer "I Thought You Knew". Herzstück, wie sollte es anders sein, ist indes die Neuinterpretation von Moncurs "Love And Hate", ursprünglich auf Jackie McLeans fantastischem "Destination...Out!"-Album von 1963 zu hören. Das Ensemble verschafft sich nicht zuletzt durch das Gesangsarrangement von Wilson einen völlig neuen Zugang zu dieser ursprünglich windschiefen Komposition, die hier erstmals als abgeschlossen und rund erscheint. Der Charme des Originals bleibt dabei zwar auf der Strecke, der stimmige Ersatz entschädigt allerdings für diesen Verlust.
"Point Of View" war der Startschuss für eine bis heute anhaltende und ausgesprochen erfolgreiche Karriere der US-amerikanischen Sängerin. Auch wenn ihre späteren Alben den Mainstream nicht nur streiften, bleibt über die gesamte Schaffensperiode ihr freier Geist, ihre Experimentierfreude und Ihr Streben nach neuen Blickwinkeln in ihrer Musik erhalten. Vor allem der Einsatz ihrer ungeheuerlich variablen Alt-Stimme mit diesem kehligen, bluesigen, rauchigen Stamm, hier besonders in ihren eigenen Songs "Square Roots" und "I Am Waiting" als freies Instrumentalschwebeteilchen zu bewundern, macht ihre Arbeit unvergleichlich und nach Sekundenbruchteilen identifizierbar. "Point Of View" ist, wenngleich keines meiner Lieblingsalben, ein spannender und früher Einblick in den Start einer großen Karriere und ein regelmäßiger Gast auf dem Plattenteller.
Erschienen auf JMT, 1986.
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