L.S.G. - INTO DEEP
"You have 62 people worth the amount the bottom three and a half billion people are worth. Sixty-two people! You could put them all in one bloody bus… then crash it!” (Brian Eno)
Mein Weg in die Tiefe war erstens spektakulär verspätet und zweitens eine Mischung aus Zufall und Schicksal, je nach Glaubenssystem meiner verehrten Leserinnen und Leser, denn so opportunistisch bin ich schon lange. Die Geschichte geht so: vor einigen Jahren machte ich es mir zur zwar sinnlosen, aber immerhin Aufgabe, die Punk- und Hardcoreszene meiner Heimatstadt Frankfurt am Main in den 1980er und frühen 1990er Jahren zu recherchieren - nicht zuletzt, weil ich ab Ende der Neunziger selbst Teil davon wurde und damit Proberäume bewohnte und Bühnen betrat, die bereits von Generationen vor mir für lauten Krach und Agitation besetzt wurden. Und selbstverständlich ist auch dieses Nachforschen in außerordentlich dick angerührtem Nostalgiekleister getaucht - und das Bild ist mit Bedacht gewählt, weil ich an sowas einfach immer kleben bleibe. Die Lust, der damaligen Atmosphäre in der Stadt nachzuspüren, die von ehemaligen Bandkumpels erzählten Geschichten aufzugreifen, Bands neu zu entdecken und auch persönliche Entwicklungen von beteiligten Musikern auch über Genregrenzen hinaus zu verfolgen, wird niemals keine große Anziehungskraft auf mich ausüben. Jedenfalls: wer sich mit Thrash, Punk und Hardcore zu jener Zeit in Frankfurt beschäftigen möchte, stößt früher oder später auf den mit "Frankfurt Hit Collection" etwas irritierend betitelten Sampler vom Label Alm Räcords aus dem Jahr 1989 und damit auf Bands wie Bück Dich Und Die Gichtkröten, Mähthrasher (völliger Oberkult!) und Persecuted Pharisees. Der entsprechende Kaninchenbau hierzu ist nicht so irre tief, aber ein paar Verästelungen hinsichtlich Alben, Singles, Bandmitglieder und ihren anhängenden späteren Lebenswegen lassen sich durchaus finden. Die Frankfurter Band Pullermann beispielsweise hatte mit Cybéle De Silveira eine Sängerin in ihren Reihen, zu welcher eine kleine Netzrecherche ergab, dass sie im Jahr 1999 auf dem Album "Into Deep" von Oliver Liebs langjährigem Trance-Projekt L.S.G. Vocals beisteuerte, und ganz ehrlich: was wären wir ohne Discogs?! Nun ist einerseits "Into Deep" vom Schrot-und-Korn-Punkrock Pullermanns ungefähr 3,4 Millionen Galaxien entfernt und andererseits ein hoch gehandelter Klassiker im Trance und Chill-Out Gewerbe der 90er Jahre - und darüber hinaus. Musste ich das also hören? Natürlich musste ich das hören.
Denn wie nicht zum ersten Mal auf diesem Blog sehe ich mich zu der Einlassung provoziert, von Musik, die sich in den neunziger Jahren außerhalb des minimal erweiteren Rockzirkels abspielte, nicht mal entfernt eine ähnliche Detailtiefe im Gedächtnis herumzutragen. Und auch wenn sehr wahrscheinlich das Volumen von vor dreißig Jahren produzierter Musik nicht mit heutigen Zahlen vergleichbar ist, wurde auch schon zwischen 1990 und 1999 unfassbar viel Musik veröffentlicht. Ohne ein soziales Umfeld, das einem für eine Rückschau ein bisschen Hand und Herz führt, ist ein Abtauchen in diesen Ozean voller Klang komplett überwältigend. Und wo wir schon bei Oliver Lieb sind: der Frankfurter Produzent bespielt seit 1988 das weite Feld elektronischer Musik und hat alleine schon weit über 250 Singles und Alben unter unzähligen Band- und/oder Projektnamen im Lebenswerk verewigt. Overkill.
Mit den in den letzten 20 Jahren gemachten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit elektronischer Musik indes habe ich heute einen völlig anderen Zugang zu "Into Deep", als ich ihn im Veröffentlichungsjahr 1999 gehabt hätte. Zumal auch eine stilistische Einordnung in den Zeitgeist der neunziger Jahre lohnenswert erscheint, als Chill Out-Rooms nicht nur zum festen Interieur der damaligen Clubkultur gehörten, sondern sich gleich ganze Genres aus diesem Ökosystem entwickelten. Trance, Chill Out, Ambient, Downbeat und alles mitten- und zwischendrin, amalgamiert in einem Lebensgefühl aus Freiheit, Hedonismus, Pioniergeist, Aufbruch und Outsider-Rebellion. Ein Mikrokosmos im Mikrokosmos. Ich wünschte heute, ich wäre dabei gewesen, mittendrin im Schweiß durchtanzter Nächte in den Frankfurter Club-Legenden Dorian Gray oder Omen, im Rausch und Flausch einer außer Rand und Band gedeihenden neuen Subkultur. Wer eine Idee davon erspüren wollte, welche Bedeutung diese Zeit für die Zeitzeugen hatte, konnte sich im mittlerweile leider gelöschten Kondolenzbuch für den im Jahr 2006 verstorbenen DJ Mark Löffel aka Mark Spoon ein eigenes Bild machen. Ich selbst war von den damals hinterlassenen Kommentaren so tief beeindruckt, dass ich nicht nur einige der dort niedergeschriebenen Passagen für den Text eines Songs meiner Band Blank When Zero verwendete, sondern mit dem Satz "Es ist so fucking leise, alles!" auch noch gleich seinen Titel fand. Weil einerseits klar war, dass es hier nicht nur um die polierte Oberfläche der Nostalgie ging, sondern andererseits um die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, den Lebenslinien, den Träumen, den Hoffnungen und unweigerlich auch mit den Enttäuschungen und Verletzungen. All das ergibt Kontext - und nichts existiert wirklich außerhalb davon. Nirgends. Für Niemanden.
Und all das führt uns hier und heute ins Jahr 2025, führt uns zu "Into Deep" und zu einer Musik, die von Beobachtern und Zeitzeugen bis heute als Meilenstein elektronischer Musik verstanden wird; in einem Genre, das zunächst von wegweisenden und stilprägenden Compilations wie Café Del Mar und Buddha Bar nicht nur erfolgreich, sondern auch künstlerisch relevant wurde bevor später - wie es systemisch eben immer, immer, immer und immer wieder passiert - von Marketing und Werbung bis zur Selbstparodie entbeint und ausgehöhlt in den großen Ramsch-Grabbelkisten endete. "Into Deep" war kein Mainstreamhit, denn dazu war es - pun intended - zu deep. Sein Aufbau und Storytelling ungewöhnlich, überraschend und versatil, seine im Untergrund über mehrere Ebenen aufgefächerten Kompositionen verschwenderisch und komplex. Wer immer noch dem so alten wie arroganten Narrativ der Rockszene folgt, elektronische Musik sei grundlegend emotional unterfordernd, flach, oberflächlich und struktuell fürs zugekokste Partyvolk auf der Love Parade gebaut und für sonst nichts, hat niemals zugehört. Ist vom derart hohen Ross aber auch schwierig. Zugegeben.
Vinyl und so: Nix. Ich bezweifle auch, dass sich daran jemals etwas ändern wird, aber die CD gibt's für einen Zehner.
Erschienen auf Superstition, 1999.
